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Kapitel 3

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Alexander Kraft spannte die Waden an, drückte die Zehen durch und wippte mit dem Stuhl. Er befand sich in der Justizvollzugsanstalt Köln, in einem kleinen Besucherraum für Anwälte, der mittels Kargheit bestach. Das Möbelstück knarrte und ächzte. Sonst herrschte Stille in der Kammer, nur hinter den Wänden erklangen gedämpfte Geräusche des Knastalltags: Rufe ertönten, Schlüssel rasselten und Türen, die zuschlugen. Der Unterhändler fuhr sich mit der Zunge über seinen verbrannten Gaumen. Obwohl die Geschmacksknospen versengt waren, schmeckte er einen schalen Pelzbelag und verfluchte den Becher heißen Automatenkaffees. Dann hauchte er in die vorgehaltene Hand, verzog die Mundwinkel und rümpfte die Nase. Er fischte eine Tüte Pfefferminzbonbons aus der Jacke, wühlte darin und steckte eins in den Mund. Kraft schaute auf die stehen gebliebene Uhr an der Wand, zog den Ärmel seines grauen Sakkos hoch und warf einen Blick auf seine Omega Speedmaster, ein Geschenk seiner Frau zum letzten Geburtstag. Fünfunddreißig Jahre, wie die Zeit verging. Er seufzte und zupfte den Jackenärmel zurecht. Ihm blieben noch ein paar Minuten seine Gedanken zu sammeln und sie auf den Auftrag zu konzentrieren. Dabei blätterte er in der Akte, die prall wie ein Versandhauskatalog vor ihm auf dem Tisch lag. Falk Sturm - las er und stützte sein Kinn in die linke Handfläche - achtunddreißig Jahre alt, ein Meter achtundachtzig groß. Außerdem brachte der Mann fünfundneunzig durchtrainierte Kilogramm auf die Waage. Alexander Kraft sah ein, dass bei den Sportarten, die Sturm beherrschte, jedermann gut beraten war, Zoff mit diesem Kerl zu vermeiden. Obwohl Falk Sturm keine Auseinandersetzung scheuen musste, führte er sich gut in der Haftanstalt. Jedenfalls suchte Kraft vergeblich disziplinarische Einträge. Vielleicht lag es auch daran, dass die Knackis sich nicht gegenseitig verpfiffen? Für Sturm wird es kein Wellnessaufenthalt sein, als ehemaliger Polizist stand er weder beim Justizpersonal noch bei seinen früheren Kunden gut im Ansehen. Der Gefängnispsychologe beurteilte ihn in seinem Gutachten als ruhig und besonnen, gar hilfsbereit, allerdings oft in sich gekehrt und manchmal schwermütig. Trotz der Schwere des Delikts gab der Seelenklempner eine positive Sozialprognose ab. Kraft runzelte die Stirn und vergaß für den Moment seine Phobie vor Faltenbildung. Die Finger tippten einen Takt auf die Wange. Das konnte heiter werden, er bekam es mit einer netten, zuweilen depressiven Kampfmaschine zu tun. Er sparte sich den Rest der Diagnose, blätterte weiter und betrachtete die vorliegenden Fotos, die der Erkennungsdienst nach der Festnahme angefertigt hatte. Auf den Bildern standen Falk Sturms Haare in alle Richtungen ab und der Gesichtsausdruck starrte vor Trotz. Dennoch erkannte Kraft sympathische Feinheiten hinter der harten Fassade. Aus dem Naturburschengesicht blickten ihn Augen vom tiefsten Grün an. So intensiv war ihm diese Farbe nicht einmal bei Tauchgängen in der Karibik begegnet. Unter der kräftigen Nase zogen die Lippen einen dünnen Strich. Vom letzten Besuch wusste er aber, dass sie beim Sprechen an Fülle gewannen, sich zwei Grübchen abzeichneten und der Mann gepflegte Zähne sein Eigen nannte. Falk Sturm ließ sich in der Haft nicht gehen, was Kraft schätzte. Er trug zu seinem Sakko ein beigefarbenes Armanishirt, schwarze Stoffhosen und italienische Halbschuhe. Selbstverständlich so poliert, dass er sein Gesicht darin spiegeln konnte. Seine Haare waren stets kurz und gut frisiert, er rasierte Wangen und das kantige Kinn peinlich genau und zupfte mit einer Pinzette die Stoppeln aus den Ohren. An seinem Körper war weniger unerwünschte Behaarung vorhanden als Gras in der Sahara. Kraft empfand auch keine Scham, als Mann zur Maniküre zu gehen. Trotzdem wagten es die Kollegen nicht, über ihn zu lachen, denn er galt als Bluthund und scheute nicht vor Dreckarbeit zurück. Er legte die Porträts auf Seite und nahm sich die Ganzkörperaufnahmen vor. Die Haftanstalten schufen von allen schwerkriminellen Insassen Datenbanken, die nebst Fingerabdrücken und Speichelproben auch Fotos enthielten. Interessant fand er bei Sturm die Ablichtungen der besonderen Merkmale: Narben und Tätowierungen. Die Wundmale stammten von dem Unfall, den die Akten erwähnten. Er entnahm eine Klarsichthülle und hielt die Bilder der Tattoos ins Licht einer flackernden Neonröhre. Beeindruckend, eventuell sollte er sich ebenfalls stechen lassen. Solch eine Hautkunst würde seine Frau und ihre versnobte Familie auf die Palme bringen. Das war es fast wert und Kraft grinste bei dem Gedanken.

Dies verging ihm beim folgenden Satz: Sturm ist verwitwet und besitzt keine lebenden Angehörigen, selbst das einzige Kind starb bereits. Alexander Kraft liebte Kinder, aber seiner Frau ging Karriere über alles - eine Dauerfront in ihrem Ehekrieg. Er las die Ausbildungsstationen, welche der ehemalige Polizist durchlaufen hatte, und verfolgte die Einsätze in einem Sondereinsatzkommando. Alles passte gut ins Konzept. Er zückte einen vergoldeten Füller aus der Brusttasche, schraubte die Kappe ab und schrieb ein paar Anmerkungen mit seiner Schnörkelschrift in das akkurat geführte Notizbuch. Als er zu der Straftat des Kandidaten gelangte, kam er zu dem Schluss: Der Mann eignete sich perfekt für ihre Truppe.

Die Tür ging auf und ein Justizbeamter, der seinen Job mit demonstrativer Langweile ausübte, führte Falk Sturm herein. Kraft verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und musterte den Häftling in seiner blauen Anstaltskleidung. Dann bat er den Gefangenen, ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen. Der Beamte mahnte, dass nur eine halbe Stunde erlaubt sei und schlurfte aus dem Raum. Nach erneutem Blick auf seine Uhr und einer Begrüßung fing Alexander Kraft die Besprechung an.

„Zuerst bedanke ich mich im Namen des Konsortiums, dass Sie mir die Gelegenheit zu einem zweiten Gespräch geben. Ich habe bei meinem letztem Besuch die Sache in groben Zügen umrissen und denke, Sie haben sich Ihre Gedanken gemacht. Vielleicht kann ich heute konkrete Aussagen treffen. Das hängt allerdings davon ab, ob wir uns einigen.“

Falk taxierte seinen Gegenüber; Kraft hieß der Kerl, doch für ihn blieb er der Fremde. Der Mann hatte braune Haare und dunkle Augen, sah eine Spur südländisch aus. Und nach seiner Ansicht zu gut. Im Gegensatz zu ihm war er kleiner und schlanker, strahlte dennoch eine Gelassenheit aus, als könnte man ihn kaum beeindrucken und dass er sich vor einem Brocken wie Falk noch lange nicht in die Hose machte.

„Wenn Sie sich mit unserem Angebot anfreunden, spreche ich offen mit Ihnen, erinnere aber an die Geheimhaltungspflicht. Wir kennen Mittel und Wege, diese auch durchzusetzen.“

Falk musterte weiterhin seinen Gesprächspartner. Für den normalen Knastbesucher kleidete sich Kraft zu elegant und seine vom Solarium gebräunte Haut gab unter den einsitzenden Bleichgesichtern ein ungewohntes Bild ab. Schmuck und Uhr fielen ihm auf, dies war das Erste, was die Insassen Neulingen abpressten. Darko würde dafür eine Menge Kaffee einhandeln und glatt ein Schwimmbad mit dem Gebräu füllen können. In der Luft schwebte der Hauch eines teuren Aftershaves mit herber Duftnote, es erinnerte an eine Mischung aus Leder und Süßholz.

„Darf ich wissen, zu welchem Ergebnis Sie gekommen sind?“, fragte Kraft und seine gepflegten Fingernägel intonierten einen Trommelwirbel auf dem Tisch. Der Sekundenzeiger der Armbanduhr zog einen Kreis und Falk studierte konzentriert eine in die Tischplatte geritzte Weisheit. „Ob sie uns lieben oder hassen, eines Tages müssen sie uns entlassen“, stand dort. Dann beugte er sich nach vorne, presste die Unterarme auf die Platte, dass die Sehnen hervortraten, und sprach in einem ganz ruhigen Tonfall.

„Also, fürs Erste und zum Mitschreiben. Drohen Sie mir nicht; nie wieder. Ihre Organisation mag Einfluss haben, schafft es sogar, dass Sie hier einfach rein marschieren, um mit mir zu plaudern und obendrein noch Drohungen ausstoßen. Aber ich bin kein Typ, den man einschüchtern kann. Wenn das meine Akte ist, wie ich vermute, müssten Sie es eigentlich wissen: Ich habe nichts zu verlieren.“

„Gut, ein Punkt für Sie. Das sind Ihre Unterlagen und das man Ihnen keine Angst einjagt, ist ein Grund, warum wir Sie als Kandidat ausgewählt haben. Sie sollten nur verstehen, wir sichern uns ab. Das Konsortium schützt seine Mitglieder und damit im Falle Ihres Beitritts auch Sie.“ Alexander Kraft betrachtete seinen Gesprächspartner mit steigendem Interesse. Endlich kam der Bursche aus sich heraus. Beim letzten Gespräch war der Mann verstockt gewesen und hatte verhalten auf das Angebot reagiert.

„Zweitens will ich genau wissen, wie Sie mich raus holen und was ich dafür zu tun habe?“ Falk Sturm lehnte sich zurück und entspannte seine Haltung. Er hatte das Wichtigste geklärt.

„Sie zu befreien ist für uns ein Klacks, glauben Sie mir. Wir ziehen an ein paar Fäden im Hintergrund und schon werden Sie uns ausgeliefert.“

„Ich sitze bereits einige Jahre und selbst bei guter Führung läuft noch viel Wasser den Rhein runter, bis die Entlassung möglich ist. Da wollen Sie mir erzählen, ich kann aus dem Bau spazieren wie eine Kuh von der Weide?“ Falk lachte verächtlich.

„Dass Sie sich eine vorzeitige Freilassung, auch wenn Sie den Musterknaben spielen, sonst wo hinstecken können, wissen Sie genauso gut wie ich. Sie haben sich mächtige Feinde gemacht, die Mittel und Wege kennen, um Sie hier verschimmeln zu lassen. Wir könnten Ihnen helfen – aber Sie alleine entscheiden, ob wir es sollen.“ Kraft stand auf und ging im Raum umher, sodass die Ledersohlen über das Linoleum knackten. Er musste diesen Mann kriegen, egal wie. Kraft war überzeugt vom Konsortium, kannte dessen Bedeutung und den Bedarf an gutem Material. Der Alte hatte befohlen Falk Sturm zu rekrutieren und er würde den Befehl ausführen. Um jeden Preis.

„Mal dahin gestellt, ob Sie mich rausholen, wo gewisse Kreise interessiert sind, mich noch lange köcheln zu lassen – wer sagt, dass ich bereit bin, Ihrer Organisation beizutreten?“ Falk registrierte, wie Kraft an seinem Ehering drehte und zupfte. Seinen eigenen trug er an einer Silberkette um den Hals. „Jenna und Falk - in Ewigkeit“, lautete die Inschrift.

„Schaue ich mir Ihr Profil an, glaube ich jemand vor mir zu haben, der zu uns passt wie das Teilchen eines Puzzles. Sie sind ein Mann der Tat und wir eine Gruppe, die handelt. Wenn ich, allerdings nicht bis ins Detail, unsere Ziele und Mittel darlege, bin ich sicher, schließen Sie sich uns aus Überzeugung an.“ Kraft warf den Köder aus, die Zeit drängte, dass Sturm anbiss und am Haken hing. Danach würde er ihn endgültig an Bord des Konsortiums holen. Doch der Gefangene leistete weiterhin zähen Widerstand.

„Meine Überzeugungen habe ich schon lange verloren, die gab ich vor Jahren an der Kleiderkammer ab, wo sie mir diesen Overall verpassten.“ Falk sah Kraft mit vor der Brust verschränkten Armen an und deutete mit dem Kinn auf die Anstaltskleidung. Er verfolgte den Unterhändler mit den Blicken, während dieser ihn, wie ein Raubtier seine Beute, mit Kreisen umzog.

„Bullshit. Ideale verliert man nie, man kann sie eine Weile unterdrücken, aber im tiefsten Inneren brennen sie weiter. Wir sind doch aus dem gleichen Holz geschnitzt.“

„Wirklich? Wollen Sie behaupten, das erlebt zu haben, was mir widerfahren ist? Ich wünsche es Ihnen nicht. Niemandem, nicht mal meinen Feinden, zu denen ich Sie in keiner Weise zähle.“ Bis jetzt. Erst wenn ihm der Lackaffe ein zweites Mal drohte oder sonst wie quer kam.

„Das stimmt, ich kenne Ihre Geschichte, sogar besser als Sie denken. Ich möchte Gleiches niemals durchmachen, aber aus Ihrer Vergangenheit heraus sehe ich einen Mann vor mir, der unseren Weg teilt.“

„Den Weg des Kampfes ohne Regeln, falls ich alles richtig verstanden habe, was Sie beim ersten Besuch verzapft haben.“

„Ein Kampf, der uns aufgezwungen wird. Das verstehen Sie doch?“

„Wenn es um eine gerechte Sache geht, bin ich unter Umständen bereit dafür einzutreten. Gut, Ihre Ziele kann ich nachzuvollziehen. Aber mir leuchtet nicht ein, wie soll gerade ich in diesem Konflikt helfen? Ich war nie Soldat, nur Polizist, und in Ihren Andeutungen von letzter Woche ging es um die Jagd auf Terroristen und den Einsatz, den die Bundeswehr in Afghanistan führt.“ Ein Waffengang, den Militärexperten und Historiker zum Scheitern verurteilten, wie Falk in der Gefängnisbibliothek nachlesen konnte.

„Afghanistan? Das ist nur ein Aspekt. Der Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus entscheidet sich keineswegs dort alleine. Unser Land, unsere Städte sind das zukünftige Schlachtfeld. Es hat bereits begonnen, mit gewalttätigen Demonstrationen und Anschlagsversuchen, und dieser Krieg wird an vielen Fronten geführt, ob uns das passt oder nicht. Und dafür müssen wir bereit sein.“

Daraufhin legte Falk dar, dies sei Aufgabe von Polizei und Geheimdiensten, zu deren Erfüllung die Regierung ihnen die gesetzlichen Mittel in die Hand gäbe. Kraft winkte ab.

„Offene Gesellschaften mit allen Freiheiten und Rechten sind schön und gut für die Menschen, die darin leben. Aber sie sind kaum geeignet, einem solchen Feind zu begegnen. Unsere Dienste kämpfen mit Blei in den Schuhen und auf den Rücken gebundenen Händen. Diese Schlacht gewinnen wir um keinen Preis mit herkömmlichen Mitteln. Wir ziehen gegen Gegner ins Feld, die es nicht beeindruckt, wenn wir mit dem Gesetzbuch winken.“ So langsam lechzte Kraft nach einem Drink, möglichst alkoholisch. Sein erster Rekrutierungsauftrag gestaltete sich schwieriger als alle bisherigen Operationen, die er für das Konsortium ausgeführt hatte. Und da waren haarsträubenden Aktionen dabei gewesen, die er liebend gerne in der Schublade unter Vergessenes ablegen würde.

„Fein gesprochen. Ihre Rede mag auf einer Akademie vor pickligen Offiziersanwärtern Eindruck schinden. Aber nach meiner Erfahrung ist das alles sehr unglaubwürdig. Was Sie andeuten, ist Handeln im luftleeren Raum. Sie holen mich einfach raus und ich helfe Ihrer merkwürdigen Truppe in einem Kampf, den sie abseits der Legalität führt. Sie sollten weniger amerikanische Filme schauen.“

Die Tür flog auf und der Wärter drängte. Noch zehn Minuten. Die Erfüllung des Auftrages entglitt Kraft und er zog sein As aus dem Ärmel und setzte alles auf eine Karte.

„Was legal ist und was unsere Möglichkeiten angeht, werden Sie jetzt eine ganz neue Erfahrung machen, wenn Sie Ihren Blick auf dieses Schreiben werfen.“ Alexander Kraft ging zu seinem Stuhl, öffnete die darunter befindliche Aktentasche und holte einen Briefbogen heraus. Er entfaltete das Schriftstück, legte es auf den Tisch und bügelte das Papier mit der Hand glatt.

„Dieses Dokument berechtigt mich, Sie ihn meine Obhut zu überstellen. Sofort.“

Falk Sturm wurde blass, ein lupenreiner Entlassungsschein breitete sich vor ihm auf der Tischplatte aus. Wie war das möglich?

„Offiziell gibt es uns nicht und wir führen den Kampf an den staatlichen Instanzen vorbei. Aber wir finden überall Helfer, auch in der Justiz. Viele sehen diesen Weg als richtig an, ohne ihn beschreiten zu können und tragen im Hintergrund zum Erfolg bei. Der Rahmen unserer Mittel ist weit gesteckt.“ Falk schaute zum ersten Mal beeindruckt und startete einen kläglichen Versuch, es zu überspielen.

„Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, Ihre Truppe besitzt die Lizenz zum Töten.“

Kraft antwortete nicht direkt. Er packte die Akte zusammen, wedelte mit dem Entlassungsschein herum und legte beides in die Tasche. Anschließend stützte er die Arme auf den Tisch und blickte Falk Sturm tief in die Augen. „Wenn es sein muss, haben wir auch die.“

Timur erwachte nach unruhigem Schlaf auf einer harten Couch und rieb sich Sand aus den Augenwinkeln. Schlimme Erinnerungen hatten seine Träume heimgesucht und er war froh, ihnen entkommen zu sein. Die Heizung war runter gedreht und Kühle füllte den Raum, sodass ihm fror und Kondenswasser das Fenster herablief. Trotzdem streifte er die kratzige Wolldecke beiseite und sah sich um. Einfache Möbel standen in dem Wohnzimmer an mit Raufaser tapezierten Wänden, auf denen farbige Wischtechniken ausgeführt waren. An zwei zusammengeschobenen Sesseln lehnte Mehmets Tasche und auf den Polstern lag eine verlassene Decke. Timur witterte, roch Spuren von Vanille. Duftkerzen, erloschen auf dem Tisch platziert, verströmten den Geruch, darunter glänzte ein nackter Laminatboden. Schrankwände enthielten ein Fernsehgerät, Gläser, Bücher und viele Bilderrahmen - darin Familienfotos, meist eine Mutter mit ihren Kindern; ein Mädchen und ein Baby. Timur stand auf und betrachtete die Bilder, nahm eines in die Hand. Die Frau wirkte hübsch. Auf anderen Fotos bemerkte er ein betagtes Paar, ein abgearbeiteter Mann nebst korpulenter Gattin, wohl die Großeltern. Ein Foto zeigte Mehmet mit dem Kleinkind auf dem Arm und einem Lächeln im Gesicht, es schien älteren Datums zu sein. Einen Ehemann suchte Timur auf den Abbildungen vergeblich. Daneben reihten sich Bücher in deutscher Sprache auf, mit Titeln, die weibliche Leser bevorzugten. Er zog ein paar Bände heraus und las auf den Rückseiten, sie handelten von Zeitreisen und Liebe. Die beiden Gefährten waren bei Alia, der Schwester von Mehmet untergeschlüpft. Die junge Frau hatte sie nachts mit dem Auto am Flughafen abgeholt und in ihre Wohnung nach Ehrenfeld gebracht.

Auf der Fahrt hatte Alia ihm erzählt, dass der Kölner Stadtteil einen traditionell hohen Ausländeranteil besaß. Das jahrzehntelange Nebeneinander führte zu einer fast vollzogenen Integration und die Menschen im Viertel kamen gut in bunter Nachbarschaft aus. Dönerbuden, Frauen mit Kopftüchern und die Moschee waren ein gewohntes Bild, Deutsche gingen hier mit Selbstverständlichkeit zum türkischen Friseur und kauften beim kurdischen Gemüsehändler ein. Man hatte sich arrangiert. Aber nicht überall herrschte Frieden, wie Timur lautstark aus einem anderen Teil der Wohnung mitbekam.

Der Afghane zog sich Hose und Socken an und schritt durch den Flur zur Küche, aus der streitende Stimmen drangen. Aus dem Kinderzimmer hörte er das Kleinkind glucksen und die Geräusche eines Kinderhörspiels. Ein Mädchen im Schlafanzug lehnte am Türrahmen und schaute ihn neugierig an. Es trug zwei hochstehende Zöpfe und auf dem Leibchen lachte ein Schwamm mit Gesicht. In den Armen umklammerte das Kind einen Teddybär und schützte den Freund aus Stoff. Timur strich ihr über den Kopf, die Kleine duckte sich weg und flüchtete. Der Afghane hob bedauernd die Schulter. Früher vertrauten ihm die Kinder, denn nach der Rückkehr in seine Heimat hatte er als Lehrer unterrichtet. Dann brachen neue Kämpfe aus und die Volksstämme zerfleischten sich im Bürgerkrieg. Warlords beherrschten das Land und ihre Milizen plünderten, töteten und vergewaltigten. Die Koranschüler um Mullah Omar fegten die Soldateska weg und beendeten das Chaos. Taliban nannten sich die Männer mit den schwarzen Turbanen und nach ihrem Sieg legten sie die Menschen in die Ketten ihrer archaischen Regeln. Die Gotteskrieger verboten ins Kino zu gehen, musizieren und tanzen, untersagten Sportveranstaltungen und verprügelten spielende Kinder. Die Rechte der Frauen schafften die Eiferer gleich ganz ab. Außerdem schlossen sie die Schulen.

Timur schüttelte die Vergangenheit ab und drehte sich zur Küche, er drückte die verglaste Holztür auf und betrat den Raum. Die Luft roch verbraucht, Teeduft schwebte darin und Nebel zog von einem Aschenbecher an die Decke, die Spuren häufigen Nikotinkonsums aufwies. Hängeschränke einer Einbauküche verdeckten den Großteil der terrakottafarbenen Wände und aus dem Radio auf der Fensterbank dudelte englischsprachige Popmusik. Mehmet saß Alia gegenüber am Küchentisch. Mit Brotkrumen und gelben Marmeladenklecksen bedeckte Teller standen auf Plastikdecken und Flecken deuteten darauf hin, dass Mehmets Tasse übergeschwappt war. Ein Krümel klebte an der vor Erregung zitternden Oberlippe und bewegte sich mit ihr auf und ab. Timur wünschte beiden guten Morgen, ohne Antwort zu erhalten, und schenkte sich Tee ein. Dann schaltete er das Radio aus und lehnte am Fensterbrett; die Diskussion verstummte.

„Was ist los, worüber streitet ihr?“, fragte er Mehmet.

„Das Übliche, sie will mich nicht verstehen. Das kommt von ihrer verfluchten westlichen Einstellung.“ Er knibbelte an seinen Fingernägeln, von denen kleine Hornfetzen auf den Küchenboden rieselten und ein Zeigefinger blutete.

„Ich hatte gehofft, du wärst endlich vernünftig geworden, als du angerufen hast“, mischte sich die Frau ein. Sie schlug ihre Beine übereinander, zeigte nackte Füße mit lackierten Zehennägeln. Darüber trug sie schwarze Leggins, ein enges lilafarbenes Sweatshirt, unter dem sich ihre Brüste abzeichneten und kein Kopftuch bedeckte die Haare, obwohl sich ein fremder Mann in ihrer Wohnung befand. Nur die zartbraune Hauttönung und dunkle Augen, die vor Wut blitzten, zeugten noch davon, dass sie eine waschechte Türkin war. „Seit Jahren kriegst du nichts auf die Reihe“, stieß sie hervor. „Brichst die Schule ab und hängst rum, weil dir nicht gleich die erstbeste Firma eine Stelle als Chef anbietet. Dann flüchtest du zu Hinterhofpredigern, schwingst radikale Parolen in Islamvereinen und haust ins Ausland ab, ohne jemand Bescheid zu sagen. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen wir uns gemacht haben? Ich erkenne meinen kleinen Bruder einfach nicht mehr.“ Sie stand auf, lief in der Küche herum und räumte flink das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, aus der feuchter Dunst emporstieg. Klirrend verschwanden Teller und Besteck in dem Kasten. Die Frau riss Timur die Tasse aus der Hand, kippte den Rest in den Ausguss und stellte sie zu den anderen. Dann hielt Alia ein Tuch unter den Wasserhahn und wischte den Tisch ab, während Mehmet sich das Blut vom Finger lutschte. Mitleidig sah sie ihren Bruder an, der die zerknitterte Kleidung vom Hinflug trug und übernächtigt wirkte. Sie streckte die Hand aus, um ihm den Krümel vom Mund zu wischen, doch er drehte den Kopf weg.

„Ich habe mich geändert. Das Leben der Kuffar hier ist nichts für mich, das ist mir alles zu oberflächlich und verlogen. Ich habe meine Bestimmung im Kampf für Allah gefunden. Akzeptiere es endlich.“

Alia seufzte und rang verzweifelt mit den Händen.

„Ich sage doch nichts gegen deinen Glauben. Ich bin selbst gläubig, aber ich versuche auf keinen Fall, meine Religion anderen aufzuzwingen, vor allem nicht mit Gewalt.“

Mehmet sprang auf und stand seiner Schwester Nase an Nase gegenüber, sodass sich ihre Augen in seinen Brillengläsern spiegelten.

„Du bezeichnest dich als gläubig? Dann lebe gefälligst danach. Du bist schamlos. Alleine wie du dich anziehst und auf die Straße gehst, wie eine ...“

Alia packte ihren Bruder an der Schulter und schubste ihn weg, sodass seine Brille von dem Schwung verrutschte, die andere Hand holte mit dem Putztuch aus.

„Wag es, sprich dieses Wort aus und ihr könnt beide eure Klamotten packen.“ Sie wies mit dem Tuch Richtung Tür, doch Mehmet winkte verächtlich ab.

„Was soll´s. Du hast du dich scheiden lassen und bist eine Schande für die Familie.“

„Spinnst du? Mein Mann hat das ganze Geld beim Spielen verzockt, auch das, was ich als Kassiererin verdient habe. Monat für Monat und dazu hat er mich geschlagen, wenn ich was sagte. Das weißt du doch. Was sollte ich machen, wir müssen Miete bezahlen und die Kinder brauchen Essen.“ Der jungen Mutter, die ihre Familie alleine durchbrachte, stiegen Zornestränen in die Augen und ihre Stimme überschlug sich. „Außerdem - nach dem Glauben ist Glücksspiel verboten. Was sagst du nun, frommer Prediger? Papa hat ihn selbst rausgeschmissen, als er wieder zugeschlagen hat. Erzähl du mir nicht, wer sich schämen muss. Wenn unsere Eltern dich sehen könnten, dann ...“

„Dann wären sie stolz auf mich.“

Sie lachte höhnisch und reichte Mehmet ihr Handy vom Küchentisch.

„Deshalb rufst du bei mir an und verkriechst dich in meiner Wohnung? Nimm das Telefon und ruf Papa an. Aber das traust du dich nicht. Soll ich die Nummer eintippen? Feigling!“

Timur hatte den Geschwistern den Rücken zugekehrt und die ganze Zeit zum Fenster raus geblickt. Kinder spielten im kargen Innenhof der Wohnhäuser zwischen parkenden Autos, ein alter Mann führte seinen Hund spazieren und ein Postbote trug seine Sendungen aus. Briefkästen klapperten im Hausflur. Er hatte genug gehört, drehte sich um und wand der Frau das Gerät aus den Händen.

„Beendet den Streit. Euren Vater anzurufen halte ich für überflüssig und wir sind dir sehr dankbar, dass du uns abgeholt hast und ein paar Tage bei dir wohnen lässt. Aber ihr müsst das Schreien aufhören, die Nachbarn brauchen doch nichts davon mitzubekommen.“ Timur legte das Telefon weg und Alia sah ihn erbost an. Sie hatte sich gegen ihren Ex-Mann durchgesetzt und ein Fremder durfte sie am allerwenigsten in der eigenen Wohnung bevormunden.

„Wer bist du überhaupt? Auf jeden Fall kein Türke. Als mein Bruder mich angerufen hat, rechnete ich nicht damit, dass noch jemand mit kommt. Ich freute mich so, dass er zurückkehrt und dachte, er wäre aufgewacht. Aber jetzt zweifele ich daran. Ich will wissen, was ihr vorhabt.“

„Wir führen nichts Schlimmes im Sinn. Du hast recht, ich bin kein Türke, sondern Afghane. In meiner Heimat herrscht Krieg und wir brauchen dringend medizinische Versorgung. Uns fehlt es an allem. Ich sammele bei den Gläubigen Spenden für mein Volk und dein Bruder hilft mir. Er macht mich mit führenden Leuten islamischer Wohlfahrtsvereine bekannt.“ Timur setzte sein vertrauenswürdigstes Lächeln auf, zu dem er fähig war.

„Wenn ich nur glauben könnte, dass ihr für wohltätige Zwecke sammelt, denn vor kurzer Zeit hat Mehmet noch den Weg der Gewalt vertreten. Er bringt uns mit seinen radikalen Ideen in Gefahr. Unsere Eltern leben schon viele Jahre in Deutschland; auch ich genieße es, hier als Frau frei zu sein und will keine Probleme. Aber wenn die Behörden auf ihn aufmerksam werden und seine Reden, die er schwingt, ist es mit allem vorbei. Dann haben wir keine ruhige Minute mehr.“ Vor lauter Anspannung drückte es erneut in Alias Tränenkanälen und ihre Hände zitterten.

„Wir müssen bereit sein Opfer zu bringen für die Verbreitung des wahren Glaubens“, fing Mehmet wieder an. Timur atmete tief durch, wenigstens er musste Ruhe bewahren.

„Opfer? Wer bringt denn welche, du?“ Jetzt weinte sie wirklich. „Was hast du überhaupt, dass du noch verlieren könntest?“

Timur trat auf die Geschwister zu, nahm beide in die Arme und drückte sie an seine Brust. Alia wehrte sich, aber die Umklammerung war zu stark.

„Schluss mit dem Streit, ihr findet doch keine Lösung. Ich passe auf deinen Bruder auf und wir werden nur wenige Tage bleiben. Dann nehmen wir deine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch und ziehen weiter. Versprochen. Bis dahin sollten wir alle so gut wie möglich miteinander auskommen.“ Er ließ die beiden los. Alia warf den Putzlappen in eine Ecke, wie ein geschlagener Boxer das Handtuch, und eilte hinüber ins Kinderzimmer, wo Babygeschrei nach ihr verlangte.

Timur schob Mehmet rüber ins Wohnzimmer, dieser glühte vor Scham und Zorn.

„Ich entschuldige mich für meine Schwester“.

Der Afghane klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, nahm seine Zigarettenpackung und zündete zwei Glimmstängel an. Einen davon gab er seinem Gefährten.

„Ärgere dich nicht, mein Freund, der Westen hat sie mit seiner Lebensweise verdorben. Sie trifft keine Schuld, es ist schwer, in diesem Umfeld der Verlockungen standhaft zu sein. Ich habe lange genug hier gelebt und vieles gesehen. Nur wahre Gläubige, wie du einer bist, sind in der Lage, den rechten Weg zu beschreiten und auf ihm zu bleiben.“

„Danke für deine Worte, aber ich halte es bei ihr nicht mehr aus und muss vor die Tür. Lass uns gehen, wir haben eine Menge zu erledigen.“ Mehmet nahm seine Jacke und wollte den Raum verlassen, doch Timur hielt ihn am Arm fest.

„Warte einen Moment und hör mir zu. Deine Schwester könnte zum Problem werden. Wir sind noch einige Zeit auf Alia angewiesen; glaubst du, sie wird schweigen?“ Timurs Hand drückte so hart um Mehmets Oberarm, dass dieser am liebsten aufgeschrien hätte, jedoch warnte eine innere Stimme davor. Diese riet ihm auch, seine Schwester ausnahmsweise zu verteidigen.

„Ja, egal was sie sagt, sie würde mich nie verraten.“

„Das ist gut. Denke daran, wir sind nicht so weit gereist, um zu versagen. In unserer Mission bündeln sich die Hoffnungen vieler Brüder und die altehrwürdigen Führer vertrauen uns. Wir dürfen sie auf keinen Fall enttäuschen. Außerdem weißt du, welchen Grund ich habe, um zu kämpfen.“ Der Druck verstärkte sich und Mehmet glaubte, der kräftige Mann presse ihm das Blut aus den Adern. Er befürchtete, einen großen blauen Fleck zu bekommen, der ihn noch lange an das Gespräch erinnern würde.

„Keine Sorge, ich verspreche dir, sie sagt niemanden, dass ich in Köln bin. Selbst meinen Eltern nicht.“ Timur ließ ihn los und ging zu der Couch, wo seine Sachen lagen. Kribbelnd kehrte das Gefühl in Mehmets tauben Arm zurück. Er sah, wie der Gefährte die Jacke anzog, den Tascheninhalt überprüfte und ganz langsam auf ihn zu kam, bis sich die Gesichter fast berührten.

„Das ist gut, andernfalls sorge ich für ihr Schweigen.“

In den Augen des Afghanen erkannte Mehmet einen dunklen Abgrund und empfand zum ersten Mal Furcht.

Nach dem Verlassen der Wohnung suchten die beiden eine Moschee auf. Das Gebetshaus lag in der Nähe, die Gefährten mussten lediglich zwei Querstraßen weiter abbiegen und eine Ladenzeile runtergehen. Im Rücken des kleinen Kuppelbaus führten Bahngleise über einen Damm und in der Umgebung siedelten Kleinbetriebe: Handwerker und Lieferdienste, darunter auch solche von Christen und ganz und gar Ungläubigen. Niemanden störten die Besucher des Gebetshauses, da es sich um gemäßigte Muslime handelte, die lediglich ihre Religion ausübten. Einmal im Jahr lud die Gemeinde sogar Nichtmuslime zum Tag der offenen Moschee in die Räumlichkeiten, um Vorurteile abzubauen. Die Aktion fand regen Zuspruch in der Nachbarschaft, die sich bei Tee und süßem Gebäck die Grundzüge einer friedlichen Interpretation des Korans erklären ließ. Timur wählte diesen Ort mit Bedacht, vermied es so, die Gebetsräume bekannter Islamisten aufzusuchen. Er befürchtete, dass Sicherheitsdienste diese überwachten. Viele Gotteskrieger hielten den deutschen Staat für schwach und formulierten ihre Parolen in aller Öffentlichkeit. Die Aktivisten verbreiteten Hass über das Internet, sammelten Geld für den Dschihad und rekrutierten Freiwillige und waren es gewohnt, beinahe unbehelligt zu bleiben. Trotzdem wollte Timur sich nicht im Dunstkreis von radikalen Muslimen zeigen. Mochte die Staatsgewalt lange stillhalten, so hortete sie akribisch Daten, observierte Verdächtige und Gebäude, hörte Telefone ab und spähte Konten aus. Strategen seiner Organisation hatten ihn vorgewarnt. Aus dem Grund beschlossen die Anführer der Dschihad Union, eine Gruppe von Personen einzusetzen, die bisher ohne jeden Kontakt zu Islamisten in Deutschland lebten. Ihre Feinde nannten diese Leute Schläfer. Timur sollte die Kämpfer aktivieren und mit Mehmets Hilfe ins Gefecht führen.

Nach dem Gebet schlüpften die Gefährten in ihre Schuhe und verabschiedeten sich von dem Imam. Der Vorbeter der Glaubensgemeinschaft, ein netter Herr mit rundlichem Gesicht und weißem Bart, lud die beiden ein, bald wiederzukommen. Sie dankten ihm und brachen auf, ihren Kontaktmann aufzusuchen.

Sie wanderten durch die Straßen, schlugen Bögen um leere Flaschen und umrundeten im Slalom Hundekot, der in der aufkommenden Wärme stank. Ein Hund, der an den Sockel einer Hauswand pinkelte und danach an der Duftmarkierung eines Artgenossen roch, schnupperte an Timurs Hosenbein. Angewidert verjagte er den Köter mit einem Tritt und das Tier rannte jaulend davon. Der Hundebesitzer protestierte, bis ein Blick des Afghanen ihn verstummen ließ und die Gefährten zogen weiter. Um einen Springbrunnen feierte ein Rudel Punks, blecherne Musik dröhnte aus den überlasteten Boxen eines Rekorders; das Schlagzeug raste und der Sänger schrie heiser. Bierflaschen kühlten in den Becken und die betrunkenen Jugendlichen tanzten in den Wasserfontänen - wenn es Tanz war, sich anzuspringen wie Böcke in der Paarungszeit. Es erinnerte die beiden an die Derwischorden, einem mystischen Zweig des Islam, der beim Großteil der Muslime auf Ablehnung stieß. Wie Punks, die sich die Ohren mit Krachmusik verstopften, um Allahs Wort auszusperren.

Die Häuser, an denen Timur und sein Freund vorbeieilten, waren mit Graffiti besprüht; kunstvoll gestaltete Bilder darunter, meist hingeschmierte Namenskürzel und einmal ein Hakenkreuz, nebst Ausländer raus. Wie die Hunde hatten Jugendgangs ihre Reviere markiert; Cologne Street Boyz oder die Gangsta Generation warnten vor dem Betreten fremder Jagdgründe. Was Kriegern auf einer Mission herzlich egal war, sie überschritten ganz andere Grenzen und ließen sich von niemand aufhalten. Eine Unterführung war mit einander überlappenden Werbeplakaten zugeklebt, die auf Konzerte, Ü-30 Partys und eine Erotikmesse hinwiesen. Hindurch wälzte sich eine Lawine aus Blech, sie stockte und entnervte Fahrer hupten. Die Abgase verpesteten die Atemluft und setzten sich graubraun an den Fassaden ab. Timur fiel es schwer durchzuatmen, selbst ihm als Raucher schwindelte von dem Dunst. Im afghanischen Hochland herrschte dünne, klare Luft - und Respekt vor Mudschaheddin: Fahrradfahrer umkurvten die Autos todesverachtend wie Kamikazeflieger, einer wich auf den Bürgersteig aus und klingelte die Fußgänger beiseite. Mehmet brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit, um nicht angefahren zu werden. Kopfschüttelnd blickte Timur dem Zweiradrowdy hinterher, der ihnen im Wegfahren noch den Mittelfinger präsentierte.

Dann bogen sie um eine Häuserecke und standen vor einer Baustelle; in Beton gegossen wölbte sich eine Kuppel und zwei Minarette strebten empor. In der Ferne erkannten sie die in den Himmel ragenden Türme des Kölner Doms, der den ganzen Stolz der Einwohner darstellte und nach ihrer Auffassung als Nabel der Welt galt. Mehmet erzählte ihm von dem Streit, der in der Bevölkerung stattgefunden hatte.

„Die bescheuerten Kölner befürchteten, die Minarette der neuen Großmoschee würden ihren Dom überragen. Von mir aus ginge das absolut in Ordnung, aber es war natürlich Blödsinn, verbunden mit ausländerfeindlichen Parolen.“ Er selbst hatte hier an Demonstrationen teilgenommen, als im Wahlkampf eine rechte Gruppierung Mohammedkarikaturen hochhielt, um den Propheten zu beleidigen. Die Lage eskalierte, es flogen Steine und im benachbarten Bonn stach ein Bruder sogar mehrere Polizisten nieder. Mehmet brüstete sich damit, einen Beamten angespuckt zu haben und erwähnte, dass die Polizei Pläne von Islamisten aufgedeckt hatte, in denen die gotische Kathedrale neben anderen Symbolen des Christentums als Angriffsziel auf der Liste stand. Doch Timur hörte nicht mehr zu, beobachtete stattdessen die Arbeiter und dachte zurück, wie er nach seiner Lehrerzeit als Bauhelfer Steine geschleppt, gehackt und geschaufelt hatte. Maschinen, die Muskelkraft schonten waren rar in seiner Heimat und sein Körper formte sich. Vor allem verdiente er wieder Geld und das brauchte er auch dringend, denn beim Besuch im Hause eines Freundes stellte ihm dieser seine Schwester vor. Durch den schmalen Spalt des Schleiers verglühten ihre Augen sein Herz und unter dem Gewand ahnte er geschmeidige Bewegungen. Timur verliebte sich, eine Einigung mit dem Vater war schnell erzielt und sie heirateten. Seine Frau Nusha schenkte ihm drei Söhne und fortan musste er eine Familie ernähren. Sie wurde zu seinem Anker in unruhigen Zeiten. Dann drangen Mehmets Worte wieder an sein Ohr.

„Ein Anschlag auf die Christenkirche wäre der richtige Denkzettel für ihr Geschrei gewesen, hätte mich gerne an dem Schauspiel erfreut.“

Timur hingegen betrachtete es als sinnlos, Steine anzugreifen. Ihn verlangte es nach Blut. Da der Dom standhaft an seinem Platz weilte, nutzten sie die Türme als Wegweiser. Sie kamen ihnen schnell näher und damit auch dem Ziel, eine Adresse hinter dem Hauptbahnhof. Auf dem Weg dorthin bemerkte Timur zwei Männer, die mitten auf der Straße Küsse austauschten. Aber nicht freundschaftlich wie Muslime, sondern die Kerle schoben einander die Zungen in den Hals. Mehmet klärte ihn auf, das Köln die heimliche Hauptstadt der deutschen Schwulenszene sei.

„Mittlerweile dürfen diese Kreaturen sogar heiraten und Kinder adoptieren, stell dir das vor.“

Doch das wollte der Afghane nicht; er verzog das Gesicht und beschleunigte seine Schritte. Sie wateten durch die Hinterlassenschaften einer Burgerfiliale, planierten Pappschachteln und zertraten Getränkebecher. Obdachlose und Junkies schlurften ihnen entgegen und einer der verwahrlosten Gesellen haute sie um einen Euro an, bekam ihn von Mehmet. Das tat er nicht aus Mildtätigkeit, zu welcher der Koran die Gläubigen anhielt. Nein, er wusste, dass der Drogenabhängige das Geld für Heroin ausgeben würde, das von dem Mohn stammte, mit dem die Mudschaheddin ihren Kampf finanzierten. Auch als Gotteskrieger bewahrte er Sinn für Humor. Sie überquerten die Domplatte, auf der sich Touristen drängten und froren in der Zugluft, die um das massige Monument strich. Skateboardklappern und dumpfe Glockenschläge aus dem Dominneren hallten ihnen hinterher, als sie von Jugendlichen bevölkerte Treppen hinabstiegen und den Bahnhof durch eine dunkle Unterführung umgingen. Züge donnerten über ihre Köpfe hinweg, Bremsen quietschten und sie hörten die Durchsagen der Lautsprecher. An den Tunnelwänden blühten Urinkränze aus, frische Lachen rannen auf den Gehweg und es stank. Hinter dem Hauptbahnhof stießen sie auf einen überfüllten Platz, den Ausläufer einer Großbaustelle einengten. Vom Rhein stampften Schiffsdiesel, die ihre Abgase mit Flusswassergeruch vermengten und zu ihnen herüber wehen ließen. Die Gefährten wechselten auf die andere Straßenseite, wo ein Musicalzelt seine Planen über ein Stahlgerüst ausbreitete. Davor verliefen Fahrspuren eines schmucklosen Busbahnhofs, auf denen sich mit Ruß verqualmte Omnibusse aufreihten. Von hier aus starteten ausländische Arbeitskräfte ihre beschwerlichen, oft tagelangen Reisen in die entfernten Heimatländer.

Auch Timur und Mehmet erreichten endlich ihr Ziel, ein mit blauen Fliesen verkleidetes Gebäude, auf dessen schief hängenden Jalousien sich der Dreck vorbeifahrender Züge ansammelte. Am Eingang hingen Klingelknöpfe an Drähten heraus, das Schloss war zerstört und die ramponierte Haustüre stand offen. Sie stiegen über abgescheuerte Treppenstufen in den ersten Stock; ihre Schritte knarzten und das Geländer wackelte, als Mehmet seine Hand daran entlang führte. Die Wände wiesen mehr Krater auf als der Mond und an der Decke hatten Schmierfinken ihre Namen mit Feuerzeugruß eingraviert.

Timur schellte bei einer Rechtsanwaltskanzlei, Mustafa Dogan – Anwalt für Ausländerrecht stand auf dem Türschild. Eine vom Stress gezeichnete Sekretärin öffnete und bat sie wortlos herein. Die Schreibkraft mit den kurzen grauen Haaren führte sie durch das Büro zum Zimmer ihres Chefs. Sie schritten über einen dreckigen, an mehreren Stellen zerschlissen Filzteppich. Zahllose Umzüge hatten dafür gesorgt, dass der Bodenbelag in Wellen zu Stolperfallen zusammengeschoben war und Mehmet strauchelte prompt. Überall an den Wänden standen Metallregale, in denen sich Akten voller Schicksale türmten. Auf dem Schreibtisch der Sekretärin stapelten sich Papiere und zwei Telefone schrillten ohne Unterlass. Die Luft war trocken, jede Feuchtigkeit hatten ihr vernachlässigte Zimmerpflanzen entzogen, die verzweifelt überschüssige Blätter abwarfen. Die Frau klopfte an eine Tür und die Stimme von Mustafa Dogan bat die Männer herein. Der Anwalt wies die Angestellte an, auf keinen Fall zu stören und sie verschwand zu dem Sisyphusberg auf ihrem Tisch. Während sich der Advokat aus seinem Bürosessel hievte, nahm Timur das Zimmer in Augenschein. Der Raum bot Platz für den Schreibtisch des Juristen und eine Sitzgruppe aus Kunstleder, die einen Glastisch umschloss. Fachzeitschriften und Politmagazine lagen auf der Glasplatte und Papier raschelte, als Wind eine Seite umblätterte. Ein Flügel der Fensterfront stand offen; kühle Luft und Straßenlärm wehten herein und Jalousien knatterten in der Zugluft. Auch im Zimmer des Anwalts nahmen Aktenschränke die Wände ein. Lediglich an der Kopfwand hinter dem Schreibtisch hing eingerahmt ein grünes Stück Stoff, auf dem in weißer Kalligrafie die Basmala gestickt war: Gepriesen sei Allah, im Namen des Barmherzigen und des Gnädigen. Daneben glänzte ein Poster mit dem Panorama Istanbuls. Von Kleinasien blickte der Betrachter über den Bosporus nach Europa hinüber; auf die Silhouetten von Topkapi-Palast, Hagia Sophia und der Blauen Moschee mit ihren vier Minaretten. Darunter prangte hinter Glas das Patent des Juristen, der nicht nur Migranten zu ihrem Recht verhalf, sondern auch eine wichtige Position im Dschihad einnahm. Nach der herrschenden Gesetzeslage würden es die Behörden kaum wagen, den Anwalt abzuhören oder gar dessen Kanzlei zu durchsuchen. Wenn doch, war er imstande, ihnen bis zur letzten Instanz schlimmste Albträume zu bereiten. So wie er sie schon manchem Richter und Vertretern der Ausländerbehörde verschafft hatte, die seine profunden Detailkenntnisse und die Redegewandtheit fürchteten.

Er und Timur identifiziert sich mittels eines Codes, dann lotste Dogan die Besucher zu der Sitzgruppe. Der Advokat war ein kleiner agiler Mann mit Halbglatze und Nickelbrille, gekleidet mit dunkler Anzughose und einem weißen Hemd, welches über dem Bauch spannte. Somit ähnelte er einem Kollegen der Juristerei, der sich als Aushängeschild einer linken deutschen Politpartei hervortat. Genau wie dieser kam er ohne Umschweife zur Sache:

„Willkommen im Feindesland, dem Haus des Krieges. Freut mich, dass ihr gut angekommen seid und euren Auftrag nun anpacken könnt. Durch Kuriere aktiviere ich drei weitere Kämpfer, die im Lauf der nächsten Tage anreisen. Am vereinbarten Treffpunkt, einem Café in der Südstadt, werdet ihr euch mit ihnen zusammenschließen und gemeinsam zu einem vierten Mitstreiter ins Zielgebiet aufbrechen.“

Timur nickte und der Rechtsanwalt überreichte ihm eine Kreditkarte zu einem Konto, welches die Organisation eigens für die Aktion eingerichtet hatte. Dazu erhielt der Afghane ein Mobiltelefon, mit dem er erreichbar bleiben sollte.

Anschließend orderte Mustafa Dogan über die Sprechanlage Tee für seine Gäste, welchen die Sekretärin prompt ins Zimmer brachte. Sie stellte das Gewünschte auf den Glastisch und verschwand wieder. In der kurzen Pause, die entstand, bereitete sich der Anwalt auf den nächsten Teil des Gesprächs vor. Er blickte ernst von Timur zu Mehmet, solange diese ihren Tee süßten und in den Tassen rührten. Man sah ihm an, dass er nach den richtigen Worten suchte, was ungewöhnlich für ihn war, und sie mit Bedacht wählte.

„Ich möchte keine Zwietracht säen, Timur, glaube mir, doch ich zweifele an deinem Gefährten. Mehmet ist zwar als Rechtgläubiger aufgefallen, aber kannst du ihm bei einer so wichtigen Sache wirklich trauen?“

„Ich zog in den gerechten Krieg“, sprang der Türke auf.

„Meines Wissens irrtest du einige Tage in Afghanistan umher, bevor dich eine Dorfmiliz aufgriff. Und Timur hat dich gerettet, während sie im Geiste das Kopfgeld der Amerikaner unter sich aufteilten.“

„Setz dich wieder hin“, befahl Timur und wandte sich an den Anwalt. „Das ist richtig, ich gewährte ihm Asyl. Es ist zu lange her, dass ich hier lebte, daher sind Mehmets Landeskenntnisse von unschätzbarem Wert. Das Schicksal führte ihn zu mir und er besitzt mein Vertrauen.“

Mustafa Dogan atmete durch, die erste Hürde war genommen.

„Nun, so sei es. Unsere Führer erwählten dich, diese Mission zu kommandieren und deine Referenzen sind gut. Obwohl du eine Zeit auf der falschen Seite standst.“

„Das spielt keine Rolle, du brauchst es nicht erwähnen, denn diesen Teil meines Lebens habe ich begraben.“

„Meinetwegen. Du hast schon für Allah gekämpft und getötet, also verdienst du Respekt. Ich schreibe dir jetzt die Adresse des vierten Kämpfers auf; er führt dich zu einem frommen Mann, der bereits Beträchtliches für den Dschihad geleistet hat. Dieser Imam nennt dir das Ziel und gibt deiner Gruppe die Mittel in die Hand, mit denen ihr die Ungläubigen zur Hölle schickt.“

„Ich achte deine Bemühungen und Sorgen. Glaube mir, wir werden unsere Sache würdig vertreten“, bedankte sich Timur mit einer Verbeugung. Doch der Anwalt hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Einen Rat, von mir persönlich – mache nicht den Fehler und unterschätze die Deutschen. Viele Mitkämpfer halten sie für schwach, aber ihr Überwachungsapparat funktioniert gut. Komm mal mit ans Fenster und werfe einen Blick auf den Bahnhof. Vor einigen Jahren haben dort zwei Kämpfer aus dem Libanon versucht, Bomben in Zügen unterzubringen.“

Beide standen auf und spähten durch die Jalousien zum Glasdach des Kölner Hauptbahnhofs hinüber.

„Sie dachten an alles, sogar die Sprengsätze mit Mehl zu versetzen, damit möglichst viele Verwundete ersticken. Aber dann versagten die Zünder. Merkwürdig, oder?“

Der Anwalt trat mit Timur ins Zimmer zurück. Schweiß stand auf seiner Halbglatze und ein Tropfen lief ihm ins Auge. Er zog die runde Brille ab, wischte mit dem Hemdsärmel über das Gesicht, schließlich fuhr er fort.

„Mein Freund, es besteht der Verdacht, dass sie uns unterwandern. Daraus entstand der Vorbehalt gegen Mehmet. Zu viele Aktionen sind vereitelt worden und eine ganze Anzahl Brüder schmort in ihren Gefängnissen. Achtet auch auf die technischen Möglichkeiten. Man hat die beiden Libanesen gefilmt, wie sie mit den Koffern über den Bahnsteig gingen. Das reichte als Beweis für ihre Verurteilung.“

„Keine Sorge, sie kriegen uns niemals lebend, um uns vor ein Gericht zu zerren“, erwiderte Timur, doch der Anwalt überging den Einwand.

„Meidet öffentliche Plätze, vor allem Tankstellen und Bahnhöfe, dort hängen Kameras. Telefoniert nicht mit auf euch registrierten Handys, die Behörden überwachen Gespräche. Das Gerät, was ich dir gegeben habe, ist aus einem Secondhandladen und mit einer Prepaidkarte versehen. Sei trotzdem vorsichtig damit. Wenn möglich, umgehe es zu anzurufen, am besten sendest du codierte Nachrichten. Aus dem Grund aktivieren wir unsere Kämpfer ausschließlich per Kurier.“

Timur dankte dem Anwalt für seine Ausführungen und versprach, die Ratschläge zu beherzigen. Er wandte sich mit Mehmet zur Tür, aber der kleine Mann war noch nicht fertig.

„Einer der Libanesen wurde in seiner Heimat verhaftet und verurteilt. Im Beiruter Gefängnis folterten ihn Schergen des Geheimdienstes und ein Deutscher assistierte bei dem Verhör. Das berichtete unser Bruder Mitgefangenen. Doch alle staatlichen Stellen streiten das ab und bei den Untersuchungen kam nichts heraus. Normalerweise sickert in diesem Land immer etwas durch und die Presse stürzt sich darauf. Wir fragen uns, wer ist dieser Deutsche gewesen?“

Seine Worte standen noch im Raum, als der Anwalt den Gefährten die Türe aufhielt und sie hinausschob. Mustafa Dogan geleitete seine Gäste bis ins Treppenhaus, als sei es ihm wichtig sie jetzt schnell und endgültig loszuwerden. Ein Satz hallte ihnen beim Abstieg hinterher:

„Wenn die Berichte stimmen, wünsche ich euch Glück, dass ihr diesen Leuten nicht in die Hände fallt.“

Feuertaufe

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