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Kapitel 4
ОглавлениеKurz nach den morgendlichen Verhandlungen saßen Falk Sturm und Alexander Kraft in dessen Dienstwagen und fuhren aus Köln heraus. Der Motor der dunklen BMW-Limousine brummte gleichmäßig, untermalt von einem lokalen Radiosender, dessen Melodie Kraft mitsummte, während er mit einer Hand lenkte. Falk saß in dem lederbezogenen Beifahrersitz und konnte das Geschehene noch nicht fassen. Es kam ihm vor wie ein Traum, aus dem er augenblicklich erwachen musste, denn als er einwilligte, ging alles sehr schnell. Der Unterhändler legte dem Justizbeamten das Dokument vor und gemeinsam marschierten sie von der Verwaltung zum Zellenblock, wobei er den Weg wie in Trance erlebte. Der Beamte schloss die Tür des Haftraumes auf und wartete mit Alexander Kraft auf dem Gang. Falk packte in Windeseile den Seesack, stopfte seine Habe willkürlich hinein und drückte den Verschlussbügel zu. Er konnte sich nicht einmal von Darko und ein paar anderen Freunden verabschieden, denn Kraft legte ein hohes Tempo vor. Mit dem Unterhändler stattete er einen letzten Besuch beim Anstaltsleiter ab, der ein amtliches Schriftstück unterzeichnete und einen festen Händedruck mitgab. Als nächster Schritt folgte der obligatorische Abstecher zur Kleiderkammer, wo Falk im Tausch für die Anstaltsklamotten seine bescheidenen, zur Habe genommenen Privatsachen abholte. Nachdem er den Empfang quittiert hatte, stieg er nach Jahren wieder in die geliebte Jeanshose und warf sich seine abgewetzte Lederjacke über. Dann öffnete das Tor in die Freiheit seine Pforten: Die elektrisch betriebene Glastür der Besucherschleuse schwang summend auf und ganz unspektakulär machte Falk den ersten Schritt in ein neues Leben. Der langjährige Gefangene genoss diesen Augenblick, obgleich er sich nun in den Händen des mysteriösen Konsortiums befand.
Alexander Kraft hupte und scheuchte einen vor der Ampel schlafenden Lieferwagenfahrer auf. Sie passierten die Vororte der Großstadt und ein Gewerbegebiet, dann lenkte Kraft das Gefährt auf die Autobahn und gab Gas. Falk sah sich die am Autofenster vorbeifliegende Landschaft verändern, kleinere Städte tauchten auf und Dörfer zeigten sich. Die Entfernung zwischen dem ehemaligen Insassen und der Haftanstalt vergrößerte mit jeder Minute. Er betrachtete die überholten Fahrzeuge, darunter einen Sportwagen. Am Lenkrad steuerte eine hübsche Frau in den Dreißigern, die für einen Moment ihre Sonnenbrille anhob und rüber schaute. Von einer im Pensionsalter befindlichen Sozialarbeiterin abgesehen, die erste weibliche Person nach langer Zeit, die keine Uniform trug. Hinter Euskirchen, einer kleinen Voreifelstadt, bremsten Wanderbaustellen die Fahrt. Falk genoss die Aussicht auf abseits der Trasse liegende Felder und sichtete Bauern die Ernte einfahren. Ihre Landmaschinen rumorten auf den Äckern und wirbelten Staub auf. Der Wetterbericht im Autoradio versprach eine milde Septemberwoche und die Landwirte freute es. Überall schwebte der Duft von Zuckerrüben, die geerntet, verladen und in der Euskirchener Raffinerie zu Sirup verkocht wurden. Gerüche, die Falk fast vergessen hatte und die für ihn nach Freiheit dufteten. Sie verließen die Autobahn und durchfuhren auf Landstraßen Dörfer mit Fachwerkhäusern und Bauernhöfen. Auch hier herrschte emsiges Treiben und Traktoren verstopften die Straße. Falk erblickte abseits der Fahrbahn Greifvögel, die über abgeernteten Feldern im warmen Aufwind Kreise zogen und nach Beute spähten. Kraft startete ein waghalsiges Überholmanöver und der Treckerkonvoi verschwand im Rückspiegel. Das Sonnenlicht brach durch die Baumwipfel am Straßenrand und flimmerte auf der Windschutzscheibe. Mittels elektrischem Fensterheber ließ Kraft die Scheibe auf Falks Seite hinunter und seinem Beifahrer die Aromen in die Nase wehen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Fahrtwind dessen Haare zerzauste und er dies genoss. Dann endete die Sprinteinlage, sie erreichten Bad Münstereifel und der BMW schoss eine Serpentinenstrecke runter, als liefe er auf Schienen. Sie umrundeten die Ortschaft entlang der Wehrmauer und gelangten an eines der Stadttore. Kraft bog auf einen Parkplatz ein, dass Schottersteine unter den Reifen davon spritzen und die Fahrt endete. Als sie ausstiegen, blinzelte Falk in die Sonne. Ein schöner Herbsttag entfaltete seine Farbenpracht und keine stacheldrahtbewehrten Einschließungen einer Strafanstalt engten die Sicht ein. Die Steinwälle, die sich nun vor ihm auftürmten, waren Anlagen der mittelalterlichen Stadtbefestigung. In früheren Kriegszeiten hielten sie mehr oder minder erfolgreich die zahlreichen Feinde, die plündernd durchs Land zogen, von dem Städtchen ab. Da passte es, dass dieser geheimnisvolle Alte, den Kraft als direkten Vorgesetzten beschrieb, hier seinen Wohnsitz hatte, inmitten wuchtiger Mauern und trutziger Wehrtürme. Doch um die neuen Bedrohungen abzuwehren, bedurfte es mittlerweile anderer Methoden. Zum Beispiel Männer wie Falk Sturm anzuwerben und ins Feld zu schicken. Obwohl, wenn er den Gedanken weiter verfolgte, rührte das Landsknechtsunwesen gerade aus den finsteren Epochen. Falk schüttelte die Spinnerei aus dem Kopf.
„Irgendwie unwirklich, nicht wahr Herr Sturm? Genießen Sie es.“ Die ganze Fahrt über hatten sie kein Wort gesprochen und Kraft stellte nur Vermutungen an, wie es in seinem Begleiter toben musste.
„Vier Jahre saß ich im Bau und im Handumdrehen stehe ich hier draußen. Wie kann das sein? Ich hätte normalerweise noch mal das Gleiche vor mir gehabt.“
„Wir haben Sie auf Halbstrafe rausgeholt, so wie es in dem Dokument steht.“ Kraft verschloss das Auto per Funksignal, schaltete die Alarmanlage ein und sie gingen los.
„Gut, das habe ich gelesen. Aber günstigstenfalls bekommt man, wenn zwei Drittel verbüßt sind, den Rest auf Bewährung erlassen. Halbstrafe ist seltener als ein Sechser im Lotto. Außerdem bedarf es dazu einer Anhörung mit Staatsanwalt und Richter.“
Beide zogen die Jacken aus, hängten sie über die Schultern und schritten durchs Stadttor. An der Außentheke eines Cafés kaufte Kraft Eiswaffeln und schleckend schlenderten sie tiefer in das gepflegte Städtchen. Die Erft floss in ihrem gemauerten Bett zwischen den Fachwerkhäusern hindurch und steinerne Brücken überspannten den kleinen Fluss, dessen Geplätscher zu den Männern drang. Unter ihren Schuhen knirschten Steinchen und Kraft kickte eines weg, es sprang einer Gruppe Touristen vor die Füße, die in Scharen umher wuselten. Eine Clique junger Frauen in kurzen Röcken kam angetrippelt, sie strahlten Kraft an, und als dieser zurückflirtete, stolzierten sie kichernd und hüftschwingend davon. Falk sah den Grazien hinterher als seien es Fabelwesen, eine der Schönheiten drehte sich noch einmal um und winkte. Dann holte ihn der Unterhändler aus der Elfenwelt zurück in die Realität und beantwortete seine Frage nach den Umständen der Strafhalbierung.
„Selbstverständlich weiß ich, dass eine Anhörung erforderlich ist, solch eine hat auch stattgefunden. Alles hat seine Ordnung und ich habe an Ihrer Stelle daran teilgenommen. Sozusagen als Anwalt und Fürsprecher.“ Kraft zwinkerte ihm zu.
„Und tatsächlich einen Richter samt Staatsanwalt gefunden, die meine Freilassung befürworten? Sie sind ein toller Beistand, warum waren Sie nicht damals bei meiner Verhandlung mit im Boot?“
„Lief ganz einfach“, wehrte der Unterhändler ab. Er hielt das Hörnchen schräg, Geschmolzenes tropfte auf seine Hand und er leckte die Soße weg. „Der Staatsanwalt schnupft Koks. Ja wirklich, da können Sie gucken. Der Job stresst ihn und so hält er sich fit. Geht uns im Prinzip nix an, außer es dient unseren Zwecken, wie in Ihrem Fall. Ich legte ihm Fotos unter die Nase, die zeigen, wie er in einem Nachtklub Lines vom Umfang einer Strafraumbegrenzung schnorchelt. Das überzeugte den Mann schnell zur Zusammenarbeit und beim Richter ging das noch fixer. Mit dem hat der Alte, den Sie gleich kennenlernen, im Voraus gesprochen und ihm unterbreitet, wofür unsere Organisation steht.“ Kraft zog ein Erfrischungstuch aus der Jacke und wischte die klebrigen Finger ab. Dann zerknüllte er das Tuch und warf es in einen Papierkorb, während sie sich plötzlich in einer Traube japanischer Reisender befanden. Falk wich einem der knipsenden Touristen durch geschmeidige Bewegungen aus, vermied es, auf Fotos für ein fernöstliches Album zu landen und der kleine Asiat dankte mit dem üblichen stillen Lächeln. Kraft registrierte es befriedigt; Kampfsportler reagierten instinktiv und Sturm hatte nichts verlernt.
„Da gab dieser Richter einfach aus dem Handgelenk sein Autogramm drunter? Nach dem, was ich über diesen Herrn weiß, ist der nicht für Milde bekannt. Ganz im Gegenteil.“
Sie spazierten am roten Rathaus vorbei, auf dessen Vorplatz der Pranger stand, ein Holzpfosten mit einem eisernen Halsring. Jugendliche eines Schulausflugs umringten den Schandpfahl, der Klassenclown legte sich den Bügel an und schnitt Grimassen. Die anderen lachten und johlten, wie es das Publikum gleichfalls in dunklen Zeiten getan hatte. Nur verlief die Angelegenheit für den Verurteilten damals weniger amüsant. Immerhin bewarf heutzutage niemand mehr den Verspotteten mit faulem Gemüse oder Pferdeäpfeln, wie es anno dazumal üblich war. Im Lauf der Jahrhunderte erstarkten die Menschenrechte und das änderte auch die Gerichtsbarkeit. Ging die mittelalterliche Justiz mit rigoroser Härte vor, strafte in der Gegenwart ein Wegschlussapparat mit Resozialisierungsaussage. Nur Alexander Kraft konnte anscheinend noch verfahren wie ein Gutsherr.
„Sie kennen den Richter auch nicht so gut wie wir. Er gab uns sogar den Tipp mit dem Staatsanwalt und sorgte dafür, dass die Koksnase an der Anhörung teilnimmt. Ich erzähle Ihnen eine kleine Geschichte: Der gute Mann hatte eine Enkelin, an welcher er sehr hing. Ein nettes Mädchen, von den Fotos her, die ich auf seinem Schreibtisch sah. Wirklich niedlich, sie wäre bestimmt eine tolle Frau geworden.“
Während Falk zuhörte, wich das Lächeln aus Krafts Gesicht, ein böser Blick starrte aus den Augen und die Stimme klang bedrohlich. „Wird sie aber niemals, weil es kranke Gehirne gibt, für die sie unwerter Dreck gewesen ist. Die Kleine ist bei den Bombenanschlägen auf Bali getötet worden. So, und wir sind da, hier wohnt der Alte.“
Die Wut verrauchte, Kraft bekam wieder gute Laune und öffnete das Tor in einem Jägerzaun. Sie durchquerten einen Garten, in dem Obstbäume mit Früchten beladene Äste herabbogen. In einer Ecke befand sich zwischen Tannen ein Geräteschuppen nebst dem Verschlag für Kompost und an den Stämmen hingen Nistkästen. Vor den Nadelbäumen lud eine Bank zum Sitzen ein und in den Beeten standen Gemüseköpfe Spalier wie Soldaten. Gerüche nach reifem Obst füllten die Luft mit schwerer Süße. Äpfel und Pflaumen lagen am Boden und Insektenschwärme flogen summend auf, als sich eine Tür in dem mit Wein berankten Fachwerkhaus öffnete und eine ältere Dame mit Schürze heraustrat. Sie umarmte Kraft, drückte Falk die Hand und lächelte ihn voll Wärme an.
Kraft machte Falk mit Vera Traunfels bekannt, der Frau des Alten. Sie bat die beiden herein und entschuldigte ihren Gatten: Richard Traunfels wanderte noch eine Runde mit dem Hund. Die Hausherrin schenkte Kaffee ein und stellte die Tassen auf ein Tablett mit Gebäck. Dann führte sie die Besucher eine Wendeltreppe hinauf ins Arbeitszimmer ihres Mannes, wo sie auf dessen Rückkehr warten sollten. Sie setzte das Servierbrett auf einen Beistelltisch aus Mahagoni ab, der neben zwei hellbraunen Stoffsesseln stand, und empfahl sich nach unten. Kraft hing sein Sakko über eine Sessellehne und nahm auf dem Polstermöbel Platz. Im Erdgeschoss klapperte Frau Traunfels beim Geschirrspülen und draußen fuhr ein Nachbar mit seinem Rasenmäher vorbei. Falk konnte den Geruch geschnittenen Grases förmlich schmecken. Er trank von dem Kaffee, der um Meilen besser mundete, als das eingetauschte Gebräu von Darko. Wieder kam ihm die Situation unwirklich vor - waren erst zwei Stunden seit seiner Entlassung vergangen? Vom Sessel her hörte er mahlende Geräusche: Alexander Kraft machte sich über das Kaffeegebäck her, während Falks Blick im Arbeitszimmer kreiste.
Durch ein Panoramafenster flutete Sonnenlicht über die Lehne eines Drehstuhls auf den Schreibtisch und erhellte einen Computer, ein zusätzliches Notebook, Telefonapparate, Blöcke und diverse Büroutensilien. Besonders faszinierte Falk ein Chronometer, der die Uhrzeiten fremder Hauptstädte anzeigte. Alles lag platziert, wie mit einem Lineal gezogen. In einer Schrankwand links von ihm standen alphabetisch geordnet Gesetzestexte, Militärhandbücher, Dokumentationen Kriminalstatistiken, geschichtliche Werke und Biografien. Von der Sitzecke, in der Alexander Kraft seinen Kaffee trank, gingen zwei weitere Wände aus, die mit Urkunden, Auszeichnungen und Fotos bedeckt waren. Keines von den Dingen hing schief. Wenn in dem Raum irgendein Staubkorn geduldet würde, dann nur an seinem zugewiesenen Platz. Falk wanderte über den knackenden Parkettboden zu den Dekorationen hin und passte auf, dass er nicht an die niedrigen Trägerbalken der Decke stieß. Aufmerksam betrachtete er die Bilder und Urkunden. Richard Traunfels hatte eine beeindruckende Karriere bei Polizei, Kripo und BKA absolviert. Die Diplome zeugten von Lehrgängen beim FBI in den Staaten, andere wiederum dankten der Zusammenarbeit mit militärischen Stellen und Geheimdiensten. Klar, Bad Münstereifel lag nicht weit weg von Dienststellen in Bonn, dem BKA in Meckenheim und dem MAD in Köln. Mittendrin saß der Alte wie eine Spinne im Netz und zog die Fäden. So sah es jedenfalls aus.
Andererseits bildete ein Foto ab, wie Richard Traunfels zwischen seiner Frau und zwei jüngeren Kerlen, allem Anschein nach die Söhne, auf dem Deck eines Segelboots stand. Der Mann hatte kurz geschnittenes graues Haar, war mittelgroß und sehnig. Seine Augen blickten so blau wie das Meer, auf dem das Boot schwamm. Die spitze Nase über dem bleistiftdünnen Oberlippenbart, das ausgeprägte Kinn und besonders die gerade Haltung, erinnerten an den englischen General Sir Montgomery aus dem Zweiten Weltkrieg. Wenn Falk einen Spionagefilm drehen würde und eine Besetzung für den Agentenführer suchte - Traunfels wäre sein Mann.
Kraft stellte seine Kaffeetasse ab, wischte ein paar Krümel von seinem Hemd und trat neben ihn. Er wies auf ein Bild, das ihn mit anderen Personen zeigte, wie sie Traunfels in die Mitte nahmen.
„Der Alte war mein Mentor, damals beim BKA. Habe eine Menge von ihm gelernt. Er hat mich auch ins Konsortium geholt, nachdem ich bei der Polizei ausgeschieden war und bei meinem Schwiegervater arbeitete. Da bin ich dem Alten richtig dankbar für.“
„Das will ich hoffen, junger Freund, aber Sie verfügen über diverse Qualitäten, die eine Anwerbung rechtfertigten“, erklang es hinter ihnen. Richard Traunfels stand im Türrahmen, und trotzdem er freundlich lächelte, umgab ihn eine Aura geballten Respekts. Ein Jagdhund drängte sich vorbei, sprang an Alexander Kraft hoch und dieser kraulte ihn ausgiebig. Obwohl Traunfels nur eine Runde mit seinem Hund gelaufen war, trug er dezente, dennoch sichtlich teure Kleidung. Er steckte in einer braunen Hose mit scharfer Bügelfalte und in einem cremefarbenen Kaschmirpullover, aus dessen Halsöffnung ein Hemdkragen ragte. Sein Schuhputz hätte jeden Gardesoldaten vor Neid weinen lassen. Der Mann ging auf Falk zu und drückte ihm fest die Hand, danach begrüßte er Kraft. Mit einem leisen Pfiff befahl Traunfels den Hund unter den Tisch und ließ sich dahinter auf dem Bürostuhl nieder. Durch einen Wink bat er die beiden, in den Sesseln Platz zu nehmen und griff eine Lesebrille vom Schreibtisch. Er setzte das Gestell auf und las in einem Schnellhefter. Dann sah er hoch.
„Ich will mich nicht lange mit Formalitäten aufhalten. Von der Tatsache, Herrn Sturm hier sitzen zu sehen, gehe ich aus, dass alles zu meiner Zufriedenheit geregelt ist. Dafür meinen Glückwunsch, Kraft.“
„Moment“, sagte Falk. „Ich habe immer noch keine Ahnung, was genau gespielt wird. Ihr Mitarbeiter hält sich ziemlich bedeckt. Aber ich bin, sage ich mal, interessiert. Nur - eine so bedeutende Entscheidung will durchdacht sein.“
Traunfels verschränkte die Hände, überlegte eine Weile und fing erneut an zu sprechen.
„Nun gut. Ich vertraue Ihnen. Das Konsortium ist eine Vereinigung, die von verantwortungsvollen Menschen aus Politik - ja auch diese gibt es - und anderen führenden Kreisen ins Leben gerufen wurde. Nicht viele wissen von uns und kaum einer kennt das Gesamtspektrum. Aber wir haben hochgestellte Freunde, die uns unterstützen, wo sie können.“ Dabei blickte er in Richtung Alexander Kraft, der wiederum wissend nickte. Dann fuhr Traunfels fort: „Im Endeffekt sind wir auf uns gestellt. Wir bilden keine staatliche Institution, wir bedienen uns ihrer nur und arbeiten teilweise mit ihnen zusammen. Die Wirtschaft gibt Geld, Geheimdienste und Polizei Informationen, das Militär liefert Waffen und Ausrüstung, der Rest hält uns nach Möglichkeit den Rücken frei. Wenn die Sache schief läuft, geht es allerdings uns an den Kragen und keiner wird uns mehr kennen wollen. Presse und Bürgerrechtler, vereint mit Schmalspurpolitikern, zerreißen das Konsortium dann in der Luft. Das zeigt den Umriss im Groben.“
Falk hob die Hand, und nachdem Traunfels ihm zunickte, brachte er seine Bedenken vor.
„Aber warum riskieren Sie das? Sie könnten doch im Rahmen der staatlichen Gewalt, von der Sie ursprünglich herkommen, Ihre Ziele verfolgen? Das leuchtet mit nicht ein.“
Richard Traunfels zog die Lesebrille aus, kaute auf dem Bügel und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Dann legte er die Brille auf den Tisch und hielt die Hände vor den Bauch.
„Ganz einfach: 11. September, London, Madrid, Bali, Djerba, noch mal London“, zählt er an den Fingern ab. „Sagt Ihnen das was? Dazu im letzten Moment verhinderte Attentate in Frankreich, Deutschland und wiederum Madrid. Wir sind im Krieg gegen einen gnadenlosen Gegner und konventionelle Mittel reichen nicht mehr aus, um ihn zu bekämpfen. Wir müssen umdenken und neue Wege beschreiten. Es ist ein Wettlauf, aber eben kein sportlich fairer. Fanden die Anschläge früher auf fernen Kontinenten statt, bomben Terroristen mittlerweile Zivilisten in Vorortzügen und Bussen zu Tode und rücken näher. Stand der Feind früher noch vor der Tür, so ist er jetzt bereits im Haus. Arbeitet dazu verstärkt an der Beschaffung von Material für Massenvernichtungswaffen.“
Falk waren diese Bombenanschläge bekannt, schließlich beherrschte jedes dieser Attentate eine Zeit lang die Nachrichten. Doch reichte es ihm noch nicht als vollständige Antwort auf seine Frage, aber die folgte sogleich.
„Wir brauchen jemand, der die Gegner ohne lästige Fesseln aus parlamentarischer Kontrolle, Medien und Bürgerrechten aufspürt, ausspioniert und gegebenenfalls bekämpft.“
Dabei breitete Traunfels die Arme aus und deutete an, wen er damit meinte. Das bezog Falk mit ein, wie diesem klar wurde und der Alte wandte sich den konkreten Vorstellungen ihres Engagements zu.
„In der Konsequenz heißt das, wenn die Nachrichtendienste erfahren, dass sich was tut, bekommen wir eine Info. Im Idealfall. Wir überwachen dann die Verdächtigen und zapfen deren Telefone an, ohne lange um Genehmigung zu betteln. Schleusen V-Leute ein, die nicht später vor einem Ausschuss gewissenloser Politiker landen, die alles tun, um wiedergewählt zu werden, nur nicht das, was ihre Pflicht wäre. Sollte es nötig sein, wenden wir auch Methoden an, die aus dem Rahmen fallen. Ich will keine Details ausbreiten, Sie können es sich denken.“
Das konnte Falk allzu gut und er bekam ein mieses Gefühl. Eigentlich hatte er, wenn er überhaupt mal an die Zeit nach der Haft dachte, andere Perspektiven gewählt. Mehrere Variationen spielten dabei eine Rolle, aber die Mitgliedschaft in einem politisch und militärisch operierenden Geheimbund kam bisher in seiner Lebensplanung nicht vor. Dafür traten noch fragwürdigere Gesichtspunkte ans Licht, als Traunfels weiter sprach.
„Nehmen wir als Beispiel den entführten Millionärssohn aus Frankfurt, bei dem ein Ermittler dem Kidnapper mit Folter drohte, um das Kind zu retten. Wissen Sie, welchen Fall ich meine? Gut - egal was sich danach für ein Geschrei erhob, das sogar zur Verurteilung des Polizisten führte – so eine Handlungsweise ist auf unserem Weg völlig legitim. Die Allgemeinheit bekommt nur selten was davon mit.“
Falk wollte von seinem Sitzplatz aufstehen und gehen, doch Alexander Kraft drückte ihn sanft, aber bestimmt, in den Sessel zurück. Falk protestierte.
„Das kann nicht Ihr Ernst sein. Hören Sie, ich habe eine Menge Mist gemacht, klare Sache. Nur, was Sie da andeuten, das ist Wahnsinn. Ich bin kein Folterknecht.“ Seine Stimme nahm an Lautstärke zu, während Traunfels die Beherrschung behielt.
„So meine ich das auf keinen Fall und das würde auch niemand von Ihnen verlangen. Ich wollte nur darlegen, dass in den heutigen Tagen selbst der Gute einmal den Pfad der Tugend verlassen muss. Wie das in der konkreten Situation aussieht, zeigt sich dann, aber der Erfolg rechtfertigt die Mittel. In letzter Zeit verhinderte man viele Anschläge und verhaftete zahlreiche Islamisten. Gleich, ob es die Kofferbomber von Köln betraf, die Sauerlandgruppe oder das versuchte Attentat auf den Straßburger Weihnachtsmarkt. Die Menschen glauben, dass man die Informationen zu den Verhaftungen mit rein legalen Mitteln erlangte, aber dem ist nicht so. Dabei ist das, was an die Öffentlichkeit drang, nur die Spitze des Eisberges.“
Falk beruhigte sich. Als er von den Anschlagsversuchen hörte, die er auch über die Medien verfolgt hatte, bekam sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck. Natürlich sah er ebenfalls die Gefahren, welche durch neue Formen des Terrorismus drohten, der sich gegen die breite Bevölkerung richtete und dessen Täter vor dem eigenen Tod nicht zurückschreckten. Vielleicht war dieser erfahrene Ermittler doch ein Stück weit im Recht. Sie bearbeiteten ihn tüchtig, das musste er zugestehen und fixierten ihn mit den Augen, sogar der Hund widmete ihm seine Aufmerksamkeit. Eine vertrackte Situation und Traunfels hieb in die Kerbe, welche sich auftat.
„Mit jedem Tag steigt die Bedrohung, obwohl die bekannten Islamisten unter Überwachung stehen. Selbst wenn sie nach dem Besuch ausländischer Terrorcamps gegen alle Vernunft wieder in unser Land einreisen dürfen, machen die keinen Schritt, ohne dass die Behörden davon erfahren. Sie verfügen auch nicht über eine straff organisierte Truppe. Viele Zellen handeln autonom und verständigen sich mittels Internet und ihnen dient das Netzwerk al-Qaida lediglich als Sprachrohr und Geldquelle. Aber der Gegner ist nicht dumm und es wird verstärkt dazu kommen, das kleine schlagkräftige Einheiten oder Schläfer auf eigene Faust losschlagen.“
Der ältere Mann stand auf und lief in dem Raum umher. Die Vorstellungen, die er verbreitete, ließen ihm keine Ruhe. Schon lange nicht mehr.
„Irgendwann hat eines der Kommandos Erfolg, sicherlich. Aber wir sorgen dafür, dass dieser Tag so fern wie möglich bleibt. Das ist unsere Pflicht.“
Er nahm erneut an seinem Tisch Platz, lächelte - als seien ihm die Emotionen peinlich. Dann richtete er den Blick wieder auf Falk.
„Wohlgemerkt, wir stellen keine Cowboytruppe oder Todesschwadron dar. Wir sind auch nicht zu vergleichen mit privatwirtschaftlichen Söldnertruppen aus Amerika, wie Blackwater. Aber zum Schutz unseres Landes und der Menschen erscheinen uns alle Mittel recht.“
Richard Traunfels öffnete eine Tür in seinem Schreibtisch, holte die stets gekühlte Flasche Vulkaneifeler Mineralwasser hervor und schenkte ein Glas ein. Der Vortrag hatte den Mund ausgetrocknet, doch er musste diesen Sturm unbedingt haben. Bisher bekam er jeden, den er rekrutieren wollte und er schaute den Mann auffordernd an, nur jener zögerte noch. Nach einer Weile des Schweigens sprach Falk.
„Gut, ich verstehe, was Sinn und Zweck ist. Das will ich jetzt auch nicht bewerten. Aber wie komme ich da ins Spiel? Ein abgehalfterter Bulle, der im Knast gelandet ist. Was Sie benötigen, sind Spezialisten, kaum einen verkorksten Typen wie mich.“
„Glauben Sie mir“, sagte Richard Traunfels und lächelte freundlich. „Es ist kein Zufall, dass Sie hier sitzen. Ihr Fall ist eingehend studiert worden und wir brauchen genau solche Leute wie Sie. Die in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen und unkonventionelle Wege beschreiten. Denen Loyalität etwas bedeutet. Dazu kommt die Persönlichkeit; unsere Mitarbeiter sind bereit Opfer zu bringen und an ihre Grenzen zu gehen; wenn sein muss darüber hinaus. Klar ausgedrückt haben einige sowieso nicht viel zu verlieren.“ Dabei grinste der Alte verschmitzt. So lief der Hase, dachte Falk, er war im Notfall leicht abzuschreiben.
„In letztere Kategorie passe dann wohl ich. Nur - ich habe mich geändert. Früher traf ich eine Entscheidung, von der ich vermute, dass sie der Grund meiner Anwerbung ist. Dafür musste ich büßen. Ich sage ganz offen, ich weiß nicht, wer ich mittlerweile bin und was ich vom Leben noch erwarte. Aber ich will nicht mehr töten. Das bin ich meinem Gewissen schuldig.“ Er war auf die Antwort gespannt.
„Eventuell bekommt Ihr Gewissen eine andere Denkrichtung, wenn Sie eine Zeit bei uns reinschnuppern. Treffen wir eine Vereinbarung und geben Sie uns und sich selbst diese Chance. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen“, bat Traunfels.
„Was passiert, sollte ich ablehnen? Dann fährt mich Ihr Mitarbeiter wohl auf schnellstem Weg zurück in den Bau?“
Alexander Kraft, der die ganze Diskussion aufmerksam verfolgt hatte, schüttelte den Kopf und die Stimme von Traunfels bekam einen feierlichen Klang, als er erklärte:
„Das Dokument mit der Halbstrafe ist gültig. Sie sind ein freier Mann. Wenn Sie jetzt aufstehen und zur Tür raus gehen, dann hält Sie niemand auf. Mein Ehrenwort.“
Beide sahen Falk wieder mit Spannung an. Er wartete ein paar Sekunden und wägte den Gefühlsturm gegen eine Gedankenflut ab - Kopf versus Herz. Eine Seite gewann vorläufig die Oberhand.
„Einverstanden, für eine Art Probezeit. Ich will mich noch nicht festlegen, aber bin fürs Erste dabei.“
Zur Feier des Tages hatte Richard Traunfels eine selbst gekelterte Flasche Weißwein geköpft und dies war nach Alexander Krafts getuschelter Auskunft seltener, als vom Alten einen Orden angehängt zu bekommen. Es handelte sich um einen erlesenen Tropfen und die edlen Gläser, mit denen sie anstießen, erzeugten einen hellen Klang.
Nachdem anschließenden Genuss eines von Vera Traunfels gekochten Mittagessens, brausten die beiden über das Autobahnnetz Richtung Ostdeutschland. Diese Fahrt verlief weniger schweigend als die vorherige nach Bad Münstereifel und Kraft erläuterte seinem neuen Kollegen ihr Reiseziel, ein Ausbildungscamp des Konsortiums.
Zuvor legten sie in der Bonner Innenstadt noch einen Zwischenstopp ein und stockten Falks mickrigen Vorrat an Garderobe und Dingen des persönlichen Bedarfs auf. In der Fußgängerzone rund um den Münster führte ihn Kraft in Boutiquen namhafter Herrenausstatter, doch Falk behauptete auch dort seinen legeren Geschmack. So kam er zu einem Stapel Klamotten, die nicht teuer aussahen, es aber umso deutlicher waren. Dabei bereitete es Alexander Kraft sichtlich großes Vergnügen, die Kreditkarte zu zücken und das Konto des Konsortiums zu belasten. Mobiltelefon, Armbanduhr, Sonnenbrille, Rasier- und Waschzeug und eine Brieftasche, in die Kraft noch ein Bündel Scheine stopfte, erstanden sie in einem Kaufhaus. Beethoven beobachtete mit steinerner Miene von seinem Sockel aus, wie die mit Tüten beladenen Männer als Letztes eine Reisetasche erwarben, während sich Tauben auf seinen mit Kot bedeckten Schultern niederließen. Lachend schleppten sie ihre Beute am Denkmal des Komponisten vorbei und verschwanden in der Seitenstraße, wo der BMW parkte. Dort packten sie alles in die neue Tasche und schmissen Falks zerschlissenen Seesack kurzerhand in den Schuttcontainer einer Baustelle. Anschließend verließen sie die Bundesstadt und erreichten gegen Abend eine kleine Gemeinde im Herzen Thüringens. Die Männer umkurvten die Ortschaft auf der Umgehungsstraße und abseits der Häuser, an einem Ausflugslokal mit zertrümmerten Scheiben, steuerten sie über Betonplatten ein früheres Kasernengelände der NVA an. Das Auto rumpelte bei jeder Zwischenfuge und schaukelte in den Schlaglöchern.
„Hier ist noch kein Solidaritätszuschlag verbaut worden“, murrte Kraft und wich mehreren Kratern aus. Kein Autofahrer würde freiwillig diese Buckelpiste befahren und seine Stoßdämpfer der Gefahr eines Bruchs aussetzen. Ein gewünschter Effekt, wie Falk später erfuhr, denn er schuf Abgeschiedenheit. Vereinzelte, vom Dauerwind gebeugte Gehölze säumten den Weg, unterbrochen von Grasflächen, auf denen einsame Findlinge lagen. Ein paar Hasen flüchteten im Scheinwerferlicht, unterwegs dem Fuchs gute Nacht zu sagen. Als die beiden Männer über eine Kuppe setzten, breitete sich vor ihnen ein dichter Kiefernwald aus, zwischen dessen Stämmen die Lichter des ehemaligen Militärstützpunktes hervorlugten. Die Ansammlung von Gebäuden beinhaltete Unterkünfte, wo die Mannschaften wohnten und ein Wachhaus, an dessen Schranke Posten alle einfahrenden Fahrzeuge kontrollierten. In Unterrichtsgebäuden schulte man die Lehrgangsteilnehmer, wie sie Gegner überwachten und in der Turnhalle bei Nahkampftechniken diese auszuschalten. Ärzte flickten in der Sanitätsstation zusammen, was dabei verletzt wurde. Unter den Dächern der Fahrzeughallen warteten getunte Autos, um über die Asphaltbahn zwecks Fahrertrainings geheizt zu werden. Ferner zählte Alexander Kraft einen Sportplatz, den obligatorischen Schießstand und eine Waldlichtung mit einem Übungsdorf auf. Umgeben war das Ganze von hohen Zäunen mit Stacheldraht und Kameras.
Alles wie gehabt dachte Falk, nur stand hier Germania Sicherheitsdienste auf dem Schild am Toreingang. Grelle Scheinwerfer sprangen an und blendeten ins Fahrzeug, während ein schwarz uniformierter Mann aus dem Schatten trat, an die Scheibe klopfte und im ostdeutschen Dialekt ihre Papiere verlangte. Ritual einer eingemeindeten Republik scherzte Kraft. Nach eingehender Überprüfung kurbelte der Wachposten den Schlagbaum hoch und wollte ihnen den Weg erklären, doch Alexander Kraft kannte sich aus und lehnte dankend ab.
„Ist bereits mein dritter Aufenthalt in Bad Muskelkater“, meinte er zu Falk und lotste den BMW auf einen Parkplatz zwischen den Unterkünften. Sie luden ihre Reisetaschen aus dem Kofferraum und meldeten sich in einem Büro, das im Eingang eines der weiß gestrichenen Mannschaftsblöcke lag. Ein Mitarbeiter des Sicherheitspersonals wies ihnen zwei nebeneinanderliegende Stuben im ersten Stockwerk zu und händigte die Schlüssel aus. Keuchend schleppten sie das Gepäck die ausgetretene Treppe hoch und hasteten über einen langen Gang, der nach Bohnerwachs roch und glänzte wie die Klinke einer Bordelltür. Ihre Schritte hallten in dem Korridor, während sie an den geschlossenen Stubentüren vorbeiliefen. Aus einem Duschraum trat ein tätowierter Muskelberg mit um die Hüften gewickeltem Badetuch und sah ihnen schweigend hinterher, untermalt vom Gelächter, das am Flurende aus einem Fernsehraum erklang. In dem Moment gelangten sie an ihre Stuben, schlossen die Türen auf und traten ein. Falk räumte seine Sachen direkt in die Fächer eines Spindes und schmiss die Tasche oben auf den Schrank. Außerdem bot die karge Behausung noch einen Tisch mit Stuhl, ein quietschendes Bett, wie er mit Händedruck prüfte und an der Wand hing ein Waschbecken samt Spiegel, darunter stand ein Mülleimer. Eine Mönchszelle wies mehr Behaglichkeit auf. Fast wie zu Hause in der JVA schmunzelte Falk und schaute aus dem Fenster auf den Kasernenhof. Er war gespannt, was ihn erwartete, zumindest war er freiwillig hier.
Alexander Kraft klopfte an die Türe, holte ihn ab und gemeinsam schlenderten sie in der kühlen Nachtluft über den Hof. Als die beiden Neuankömmlinge die Kantine betraten, kamen ihnen ein paar Männer in Trainingsanzügen entgegen und grüßten. Der abgedunkelte, schmucklos eingerichtete Saal diente als Speiseraum, bei größeren Versammlungen als Aula. Dichte Vorhänge verdeckten die Sicht aus breiten Schiebefenstern auf eine trostlose Umgebung und am Tresen der Essensausgabe kündeten runtergelassene Rollladen vom Feierabend. In der Küche dahinter hallte das Lärmen von Aufräumarbeiten und Kesselscheuern. Der Geruch des letzten Abendessens verschwand wie zerstäubter Nebel, verdrängt vom Zitronenduft der Spülmittel und dem stechenden Salmiak einer Putzlauge. Nur eine mit Holzpaneelen verkleidete Nische verbreitete einen Tick Gemütlichkeit; dort klang Musik leise aus Boxen und gedämpftes Licht beleuchtete ein paar Tische. Urkunden von Schießwettbewerben hingen an den Wänden, dazwischen das Foto eines Mannes, über dessen rechte obere Ecke ein Trauerflor gespannt war. Darunter hatte man eine Metallplakette genietet, auf der stand: Im Einsatz gefallen. Ein lautlos gestellter Fernsehapparat übertrug ein Fußballspiel, in seinem Flimmerlicht las Falk die Botschaft auf einer Blechtafel: Egal, was du siehst, hörst, sprichst – bleibt alles in diesem Raum! An der gezimmerten Theke befand sich ein Flaschenausschank und Alexander Kraft bestellte zwei Pils.
„Endlich was Vernünftigeres als Schampus“, stellte er fest und nestelte Geld aus einer Goldklammer. Während der Barkeeper, mit der Statur und dem Gesicht eines Preisboxers, die Flaschen aus einem der Kühlschränke holte, studierte Falk die Getränkekarte.
„Lohnt keinen Blick, die Auswahl ist bescheiden und harte Sachen Fehlanzeige. Besaufen ist verboten“, belehrte ihn der Kollege. „Würdest du dir auch nicht wünschen, bei dem Programm, was in den kommenden Tagen bevorsteht.“
Dafür bekam man verschiedene Biersorten und eine Anzahl alkoholfreier Getränke für kleines Geld. Ganz unten auf der Preisliste hatte ein Scherzbold mit einem Filzschreiber hinzugefügt: Schläge umsonst. Geschwind standen die Flaschen auf dem Tresen, Kondenswasser perlte am Hals herab und aus den Öffnungen quollen Schaummützchen. Klirrend stießen sie an und Falk genoss den ersten Schluck Alkohol seit Jahren. Sein Gaumen labte sich am bitteren Geschmack und herber Duft stieg in die Nase. Allerdings kribbelte es schon bald im Kopf, aber er empfand es als angenehm und schaute sich um. Weitere Personen bevölkerten den Raum; einige waren in Gespräche vertieft, an einem Tisch zockte eine Kartenrunde und an dem daneben lachte ein Mann laut auf. Davon abgesondert hockten drei bärtige V-Männer in islamischer Kleidung beim Tee und übten mit strengem Blick die Verachtung westlicher Unkultur. Insgesamt befanden sich nach Krafts Auskunft etwa zweihundert Menschen auf dem Gelände.
„Die Hälfte der Belegschaft besteht aus Wachleuten, Ausbildern und Einsatzkräften wie uns, die zur Schulung weilen oder ihre Kenntnisse auffrischen. Den Rest bildet das Personal, was zur Versorgung und technischen Instandhaltung notwendig ist.“ Nachdem ein bekanntes Gesicht an einem Tisch Alexander Kraft zuwinkte, setzten sie sich zu den anderen Kursteilnehmern. Vor den Augen der Männer schärfte Kraft seinem neuen Partner ein, keinen engeren Kontakt als nötig zu suchen.
„Aus Gründen der Geheimhaltung ist es besser, wenn jeder nur das weiß, was seine Aufgabe betrifft. Zumal manche nicht bei der Wahrheit bleiben“, warnte er und wies mit dem Blick in den Kreis der grinsenden Kollegen. Ein kleiner, stämmig gebauter Kerl versuchte vergeblich, besonders unschuldig zu gucken.
„Namen und Vergangenheit sind Schall und Rauch. Bei manchem Vorleben ist dies besser“, sagte Alexander Kraft, was Falk innerlich bestätigte. Einzig die Mitglieder eines Einsatzteams kämen sich näher, führte sein Kollege aus. Falk winkte dem Boxergesicht an der Bar und orderte eine Einstandsrunde, während Kraft weiter erklärte.
„Insgesamt ist das Konsortium neben der ganzen Logistik aus Planungsstab, Finanzwesen und Datenverarbeitung sowie ein paar technischen Abteilungen in drei operative Gruppen aufgeteilt.“
Der Boxer brachte die Flaschen an den Tisch und die Männer stießen miteinander an, hießen den Neuen in ihren Reihen willkommen.
„Jede Operationsgruppe ist flexibel einsetzbar, es gibt keine Beschneidung durch Ländergrenzen wie bei der Polizei. Die Gruppen werden von Einsatzleitern geführt, denen mehrere Teams unterstehen. Wir gehören dem Echo-Team an, Chef davon ist der Alte. Die Zentrale ist natürlich in Berlin angesiedelt, wo sonst.“ Kraft nahm einen tiefen Zug aus der Pulle und wischte sich Schaum von den Lippen. Er schnippte mit den Fingern, verlangte im Voraus schon Nachschub. Ein Mann am Nachbartisch donnerte seine Faust auf die Holzplatte, sodass die Flaschen klirrten, und ging auf den Fernseher zu. Vor der Flimmerkiste schüttelte er den Kopf und schimpfte. „Mist. Ausgleich kurz vor dem Abpfiff.“
Die Runde an ihrem Tisch war unmerklich zusammengezuckt, fasste sich aber schnell. Peinlich berührt nahmen sie das unterbrochene Gespräch wieder auf.
„Wer ist denn noch in unserem Team und wann lerne ich die Kollegen kennen?“ Falk unterdrückte ein Aufstoßen der mittlerweile ungewohnten Menge an Kohlensäure.
„Den anderen Mitgliedern wirst du in den kommenden Wochen und Monaten, nach der Ausbildung im Camp, über den Weg laufen. Für den Anfang musst du mit mir alleine auskommen“, schloss Kraft, aber das fiel Falk nicht schwer. Die letzten Jahre hatte er in Gemeinschaften gelebt und Alexander Kraft erwies sich als sympathischer Zeitgenosse. Nach fünf Runden Bier lallte Falk angeheitert, Kraft hieß jetzt Alex und die beiden Männer kehrten mehr oder weniger schwankend in die Unterkunft zurück.