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Kapitel 6
ОглавлениеDie Tage bis zur Ankunft ihrer Gefährten verbrachten Timur und Mehmet häufig in der Stadt. Vieles war zu erledigen, außerdem wollte der Afghane sich nicht mehr als nötig in Alias Wohnung aufhalten. Sie deckten sich mit Kleidungsstücken ein, denn die Sachen, die sie auf dem Flug getragen hatten, stellten nur eine Grundausstattung dar. Das meiste an Textilien in ihren Koffern sah zu fremdländisch aus und war darin enthalten, weil es ungewöhnlich gewesen wäre, ohne Gepäck zu reisen. Nun verfügten sie über ein ausreichendes Sortiment an Jeanshosen, Sweatshirts, Jacken und Sportschuhen und verschmolzen mit der Masse ausländischer Mitbürger.
Ein Besuch beim türkischen Friseur hielt ihre Kopf- und Barthaare kurz, wie bei vielen der gemäßigten Muslime, die sich in Westeuropa ansiedelten. Der Barbier schabte Timur die Wangen mit einem Rasiermesser glatt, stutzte den Schnauzer und brannte ihm die Nasen- und Ohrenbehaarung weg. Der Brandgeruch ekelte den Afghanen und weckte schlimme Erinnerungen, doch er ließ sich nichts anmerken. Lediglich Mehmet hörte vom Nachbarstuhl, wie sein Gefährte unter dem Handtuch die Fingerknochen dehnte, dass es knackte.
Auf verschiedenen türkischen Banken, die in der Stadt Filialen unterhielten, hob Mehmet mit der Kreditkarte von Mustafa Dogan einen großen Betrag ab. Das Verteilen auf mehrere Institute vermied es, einen dicken Geldstapel am Schalter in Empfang zu nehmen oder gar bei ihrer Ankunft durch den Zoll zu schmuggeln. Was sich bei der Durchsuchung als kluger Entschluss erwiesen hatte. Eine wachsende Anzahl Muslime tätigte Geldgeschäfte mittlerweile bei Bankhäusern, die Gewinne weder aus Zinsen erwirtschafteten, noch Geld in Alkohol, Schweinefleisch oder Glücksspielunternehmen investierten. Inmitten der täglichen Kundenzahl gingen die beiden Kämpfer unter und keiner der Angestellten würde sich an das Allerweltsgesicht des Türken erinnern, während die auffällig kräftige Gestalt des Afghanen um die Ecke wartete.
An einem Fotoautomaten fertigten sie Passbilder an, eine weitere Anweisung Dogans, denn die Abzüge sollten für die Herstellung von gefälschten Dokumenten gelten. Der Kasten spuckte die Ablichtungen aus und Timur fand, sie sahen aus wie Fahndungsfotos.
Bei ihren Streifzügen lernte der Afghane, sich wieder in einer deutschen Großstadt zu bewegen. Seit seinem letzten Aufenthalt hatte sich einiges verändert: Die Menschen schienen noch oberflächlicher zu sein und das Leben hektischer, auch zeigten sich die Sitten verkommener. Empfand er seinerzeit einen Teil der weiblichen Bevölkerung als schamlos, liefen jetzt viele herum, als gingen Huren auf den Strich. Obwohl der Sommer vorüber war, trugen zahlreiche Weiber Miniröcke und Tops, präsentierten Beine und Brüste. Speckrollen lugten unter zu kurzen T-Shirts hervor und Bauchnabelpiercings kamen zum Vorschein. Leider passten sich junge islamische Frauen diesem Trend an und provozierten Pfiffe. Timur betrübte das und Mehmet stachelte es zu langen Tiraden an. Vieles, was Timur sah, gefiel ihm nicht.
Eine andere Wahrnehmung verriet ihm, dass einige Deutsche Angst vor seiner Person verspürten. Er fühlte sich beunruhigt, als er die Blicke spürte - fürchtete, sie durchschauten sein Vorhaben. Mehmet klärte ihn auf, dass sich jüngere Immigranten in Gangs organisierten, deren Schlagkraft berüchtigt sei. Deshalb würden mittlerweile weite Schichten der Einheimischen Unbehagen empfinden, wenn sie Fremden begegneten. Kriminalität schien Timur zwar der falsche Weg von Muslimen zu sein, andererseits erfassten ihn keine Beklemmungen mehr, wie in jenen Tagen als Asylant. Damals sorgten sich die Bewohner in den schäbigen Unterkünften, dass sie Opfer von Brandanschlägen wurden und eine Vielzahl solcher Attacken begründete diese Furcht.
Er entwickelte seinerzeit ein gegensätzliches Verhältnis zur Bevölkerung. Manche sahen ihn ablehnend an und stuften ihn als minderwertig ein oder sie schimpften, dass die Asylbewerber Steuergelder kosteten. Timur bekam bei Wahlen mit, wie die Politiker um Stimmen buhlten und sich darin überboten, den Flüchtlingsstrom zu stoppen.
Oft war er wütend gewesen, wenn seine Eltern mit Behördenvertretern, denen Eiswasser statt Blut in den Adern floss, um Kleinigkeiten feilschten. Aber er lernte auch gute Menschen kennen, Sozialarbeiter und Bürger, die sich ehrenamtlich in Flüchtlingsinitiativen engagierten. Dann kam der Tag, an dem er das deutsche Volk zu hassen begann. Dachte er zuvor noch mit zwiespältiger Dankbarkeit an dieses Land zurück, galt es nun eine Blutschuld zu begleichen. Und Angst jagte ihm mittlerweile niemand mehr ein.
Ein paar jugendliche Musliminnen schlenderten in knapper Kleidung vorbei und unterhielten sich über belanglose Dinge der Popkultur. Einmal mehr dankte Timur einer höheren Macht, dass er keine Tochter hatte; Mädchen bescherten Vätern nur Sorgen. Doch als Bilder seiner Söhne vor dem geistigen Auge lebendig wurden, packte eine dunkle Klammer sein Herz und er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe.
Nachdem sie weitere Besorgungen ausgeführt hatten, suchten die beiden ein Bistro auf, um eine Pause einzulegen. Das Lokal nannte sich "Die Nachrichtenzentrale" und für die Gäste hingen Tageszeitungen aus aller Welt an Wandhaken und in einem Regal lagen Magazine aus. Über der Theke und in den Raumecken waren Fernsehgeräte montiert, auf denen aktuelle Nachrichtensender und Sportkanäle liefen. Zeitungsseiten tapezierten die Wände und der Wirt pflegte mit Schirmmütze, aufgeschlagenen Hemdsärmeln und gestreifter Weste das Image eines Journalisten der zwanziger Jahre. Zudem legte er die Hektik einer Redaktion an den Tag. Ein Automat summte und aus einer Düse schoss Kaffee mit geschäumter Milch in zwei Tassen. Der Kneipier schnappte die Gefäße und stellte sie klappernd auf den Tisch der Gefährten, dann eilte er weiter. Während Timur und Mehmet in dem heißen Gebräu rührten, lief in einem Programm eine Reportage über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Soldaten fuhren mit gepanzerten Fahrzeugen durch staubige Straßen und sicherten mit ihren Waffen nach allen Seiten, zielten auf Zivilisten.
„Verlogene Bastarde“, schimpfte Mehmet. „Siehst du, wie ich dir gesagt habe, sie verkaufen die Besetzung deiner Heimat als Aufbauhilfe und was anderes wollen die Leute nicht hören. Ich verstehe nicht, wie du ihnen helfen konntest.“
Timur nickte nachdenklich und trank von dem Kaffee, er kannte die Wahrheit, wie es in seinem Land aussah. Als Lehrer unterrichtete er die Kinder auch in der Geschichte ihres Volkes und schon immer geriet Zentralasien zum Schlachtfeld für durchziehende Eroberer und ausbreitende Imperien. Aber diese machten keinen Hehl aus ihren Motiven und vertuschten Raubkrieg nicht als Feldzug für Demokratie und Menschenrechte.
„Anfangs sah es wirklich so aus. Nach den Anschlägen in Amerika marschierten US-Truppen ein und Armeen aus aller Welt schlugen ihre Zelte in unseren Gebieten auf. Manche kamen zum Töten und Zerstören, aber andere, wie die Deutschen, bauten Schulen, bohrten Brunnen und verteilten Medizin und Nahrung. Bis neue Kämpfe aufflammten und sie erste Gefallene beklagten. Eine stabile Ordnung sollte helfen, hieß es, die afghanische Polizei rekrutierte Personal dafür und europäische Beamte bildete es aus. Ich meldete mich und begleitete Patrouillen der Bundeswehr.“
„Aber warum?“
„Um meine Angehörigen zu beschützen und sie zu ernähren. Im Bürgerkrieg habe ich auf Befehl der Stammesführer oft eine Waffe getragen und auch abgefeuert. Wobei es mir egal war, auf wessen Seite mein Clan kämpfte, ob mit der Taliban, für die Nordallianz oder auf eigene Rechnung. Immer stand das Wohlergehen meiner Familie im Vordergrund. So schloss ich mich den Deutschen an und sie waren froh, da ich ihre Sprache beherrsche.“
„Aber es geht dem Westen darum, die muslimischen Länder zu besetzen. Erst unterjochten sie Palästina mithilfe der Juden, dann eroberten sie Afghanistan, den Irak und bombardierten Libyen. Sie wollen den Islam vernichten und das Erbe der Kreuzritter antreten“, folgerte Mehmet und sein Gesicht glänzte. Timur widersprach.
„Der Hundesohn Bush wandelte auf einem Kreuzzug, das ist wahr. Aber die Männer, die wirklich das Sagen haben, interessiert nur eines: Öl und andere Bodenschätze. Beim Irakkrieg gab es wenigstens noch Minderheiten, die protestierten und ausdrückten, dass es ausschließlich darum geht, uns auszubeuten. Wir selbst erfuhren recht schnell die blutige Wahrheit und auch die Deutschen bauten und bohrten nicht lange und wurden stattdessen zum Feind. Ich schloss mich dem Widerstand an und setzte mein Wissen gegen sie ein.“
Die beiden griffen in eine Schüssel Pistazienkerne und füllten mit den Schalen einen Aschenbecher, denn im Lokal herrschte das gesetzliche Rauchverbot. Timur gierte nach einer Zigarette, er schob das Verlangen beiseite und nahm den Diskussionsfaden wieder auf.
„Kaum jemand stört es, dass die US-Armee das Territorium sichert, damit ihre Multis Pipelines durch mein Land legen, um das Öl der ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens abzuzapfen und das muslimische Volk auszuplündern. Wir können uns nur selbst befreien. Deshalb versetzte ich mit meinen neuen Brüdern den westlichen Truppen und ihren Helfern harte Schläge. Wir entführten, legten Sprengfallen und töteten aus dem Hinterhalt. Dadurch entfachte ich die Aufmerksamkeit übergeordneter Führer und sie erwählten mich für einen Spezialauftrag. Für die Gier des Westens bezahlen wir mit Blut und es ist Zeit, den Krieg in ihre Städte tragen, damit deren Einwohner lernen, was Verlust ist. Bis sie ihre Soldaten aus allen islamischen Ländern zurückziehen.“ Timur hatte es in Zeitungen gelesen, als die Amerikaner reiche Vorkommen an Bodenschätzen wie Gold und Lithium in Afghanistan entdeckten. Nicht nur schien es niemanden zu wundern, dass Geologen stets die amerikanischen Feldzüge begleiteten. Mit den Funden starb auch jede Chance seines Landes, jemals freiwillig von den US-Konzernen in die Freiheit entlassen zu werden. Sie installierten eine Marionettenregierung, die ihnen unendliche Schürfrechte sicherte. Während Timur an seine Heimat dachte, betrat eine lärmende Gruppe Italiener in Trikots von Inter Mailand das Bistro. Mit Bier und Espressi steuerten sie den rückwärtigen Teil der Bar an, von wo ein guter Blick auf eine große Leinwand herrschte. Mehmet verzog angewidert das Gesicht.
„Gerade die europäischen Schweinefleischfresser sehen nur den eigenen Wohlstand. Sie wählen die Politiker, die Truppen in fremde Länder schicken und finanzieren mit Steuergeldern die Waffen, mit denen ihre Söldner Angehörige des islamischen Volkes töten. Deshalb darf es keine Gnade geben, niemand unter ihnen ist unschuldig.“ Seine Finger krallten sich um die Tasse. Timur gab ihm recht, er hatte es mit eigenen Augen gesehen und Rache geschworen.
Der Wirt eilte herbei, fragte nach weiteren Wünschen, doch der Afghane scheuchte ihn weg. Auf dem Bildschirm wechselte das Land, das Thema blieb das Gleiche. Diesmal zeigte der Bericht, wie US-Soldaten aus einem Helikopter irakische Zivilisten zusammenschossen, die erkennbar unbewaffnet waren. Timurs Fäuste ballten und öffneten sich, sein Herz schlug einen wilden Takt dazu.
„Ich hasse sie alle und will so viele wie möglich von ihnen töten“, zischte der Afghane und bekam nicht mit, dass auch an den Tischen anderer Gäste Empörung herrschte.
„Ich wünschte, die Kämpfer träfen endlich ein und wir könnten zur Tat schreiten“, stieß Mehmet hervor. „Hast du schon Nachricht erhalten?“
„Nein, doch ich bin zuversichtlich. Wir waren erst vorgestern bei Dogan und so schnell läuft das nicht. Die Gefährten müssen ihre Abreise unauffällig gestalten, damit jeder in seine Position zurückkehren kann. Diese Aktion ist zu wichtig und Sicherheit geht vor, aber unsere Freunde werden kommen, dafür sind sie schon lange bereit.“ Timur rupfte eine Serviette in kleine Fetzen und lächelte. „Wie die irakischen Brüder bomben wir eine Nation nach der anderen aus meiner Heimat heraus. Die Bundeswehr hat in der Vergangenheit genug Soldaten verloren, sodass die Unterstützung für den Einsatz in der Bevölkerung sinkt. Ein harter Schlag im Inland und die Deutschen laufen davon wie die Spanier nach der Aktion von Madrid.“
Mehmets Gesicht hellte sich auf, zeigte Stolz, an einem so großen Vorhaben beteiligt zu sein. Torjubel erschallte aus der Ecke, wo die Tifosi das Fußballspiel verfolgten, während auf ihrem Kanal US-Soldaten das nächste Leben auslöschten. Im Nachtsichtgerät einer Drohne kroch der Schemen eines Verwundeten davon, krümmte sich wie eine Raupe, bis er im Staub der Bordwaffeneinschläge versank. Mehmets Augen blitzten und er wollte aufspringen, wenigstens dem Jubel aus der Fußballgemeinde ein Ende setzen, doch ein mahnender Blick zwang ihn auf den Stuhl.
„Keine Sorge mein Freund, auch sie haben bereits Soldaten im Irak verloren und Aktionen in Italien folgen eines Tages. Aber zuerst müssen wir unsere Mission ausführen. Deshalb nutzen wir die Wartezeit und werfen morgen ein Auge auf den Treffpunkt“, schlug Timur vor. „Wenn die Gefährten anreisen, nehmen wir direkt das Gepäck mit. So verlieren wir weniger Zeit, denn auch ich brenne darauf, endlich zu handeln.“
Neue Gäste betraten das Lokal und suchten sich Plätze, vom Tresen klirrte Gläserspülen und Bestellungen wurden ausgerufen. In der Luft schwebte der Duft von Pizzen, die beiden bekamen Hunger und wollten nach Hause. Allerdings wartete dort nicht nur ein Abendessen auf sie.
„Ich möchte auch die Geduld deiner Schwester keinesfalls weiter herausfordern. Du weißt, in Afghanistan nennt man Frauen das zweite Geschlecht. Ich dachte nie wirklich so, es gibt welche, die Respekt verdienen, weil sie ihrem Mann eine Stütze sind, wie Nusha, mein Weib es war. Aber ich mache mir Sorgen wegen Alia. Sie ist nicht zuverlässig.“ Timur stoppte aufkeimenden Protest mit einer Handbewegung.
„Glaube mir, wir müssen zusehen, dass wir verschwinden, bevor sie uns gefährlich wird.“
Dann standen die beiden auf, rückten die Stühle an den Tisch zurück und Timur beglich die Rechnung.
Polizeimeister Kevin Aschenbrenner gähnte herzhaft. Die Nachtschicht neigte sich ihrem Ende zu und hatte Spuren im Gesicht des jungen Beamten hinterlassen. Der Polizist blickte zum Erdgeschossfenster des Präsidiums in Köln-Kalk hinaus. Vor ein paar Jahren räumte die Behörde das eng gewordene, mit Asbest verseuchte Gebäude in der Innenstadt und zog in einen neu errichteten Komplex. Für Aschenbrenner, der mit der S-Bahn von der nahegelegenen Station fünfzehn Minuten bis zu seinem Wohnort brauchte, bedeutete dies einen Segen. Er freute sich auf das Dienstende und sein heimatliches Bett. Noch eine Stunde, wie ein Blick auf die Uhr über dem Empfangstresen verriet.
Dem Präsidium schräg gegenüber, auf den unbebauten Flächen, errichteten Arbeiter eines Wanderzirkus ein buntes Zelt. Von Tiefladern zerrten sie Metallteile und Planen herunter und schleppten die Bauelemente auf das Areal. Jedes Mal, wenn in der Stadt ein Spektakel gastierte, nutzten Veranstalter die riesige Freifläche. Der Polizist schauderte, als er sich an die Werbeplakate der Ausstellung Körperwelten erinnerte. In der Freizeit plastinierte Leichen zu betrachten löste keine Begeisterung aus, immerhin hatte er in seiner kurzen Laufbahn schon zwei Tatorte von Morden gesehen. Alleine, wenn er an den Geruch dachte, wurde ihm übel. Er verzog das Gesicht und trank den letzten Schluck kalten Kaffee aus der Tasse mit dem Wappen des Polizeisportvereins.
Draußen klingelten Beflaggungsleinen im Wind an die Fahnenmasten. Er sah hinaus und erblickte wieder die junge Frau, die an der Fassade hoch sah. Sie fiel ihm schon vor einer Stunde auf, als sie unschlüssig vor dem Gebäude herlief und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Attraktive Erscheinung befand Single Aschenbrenner, die er gerne auf einen Drink nach Feierabend einladen würde. Aber da es sich um eine Türkin handelte, verwarf er den Gedanken; das gab nur Ärger mit deren Familie.
Das schätzte er auch als Grund ein, warum sie vor dem Präsidium wartete. Wenn Frauen auf dem Gehsteig davor auf und ab schritten, überlegten sie aufgrund seiner Erfahrung, ob sie es betreten sollten. In der Regel waren es Missbrauchsopfer. Bei den Ausländerinnen verhielt es sich anders, entweder traute sich kein Vergewaltiger an sie heran oder die Dunkelziffer war aus Scham enorm hoch. Wandten sich Migrantinnen an die Polizei, ging es um Probleme mit den Angehörigen. Manche suchten Schutz vor Verwandten wegen ihrer zu westlichen Lebensweise - auch diese dunkelhaarige Schönheit trug enge Jeanshosen, ein lilafarbenes Sweatshirt und hohe Stiefel. Oder die Frauen flüchteten vor gewalttätigen Ehemännern. Obwohl das Schichtende nahte, hoffte er, sie würde die Wache noch betreten. Denn er wollte gerne von Nahem begutachten, ob sie wirklich so hübsch aussah, wie aus der Ferne. Ein zweiter Blick auf die Uhr, die Zeit lief davon. Doch als er seine Tasse absetzte und aus dem Fenster schaute, war die Frau verschwunden.
Die Straßenbahn ratterte über die Schienenstränge, aber die Geräusche drangen nur gedämpft an Alias Ohren. Ihre Augen blickten in die vorüberziehende Landschaft und sahen nichts. Sie fuhr zurück nach Hause und war tief in Gedanken versunken. Vorher musste sie noch die Kinder bei Sabine, einer Freundin abholen, die seit morgens auf die beiden aufpasste. Sie sah auf die Armbanduhr und runzelte die Stirn. Den Vormittag vertrödelt, schimpfte sie sich einen Angsthasen. Fast eine Stunde war sie vor dem Polizeipräsidium hin und her gelaufen und letztendlich verließ sie der Mut, das Gebäude zu betreten. Eine Kippe nach der anderen hatte sie geraucht und schmeckte jetzt einen schalen Geschmack auf der Zunge.
Ihr gegenüber saß ein Mann, der sie unauffällig musterte - wie er glaubte. Sie nahm dies hin, studierte dafür die Zeitung, die der Typ in den Händen hielt und in der er las, wenn nicht gerade sein Blick auf ihre Beine schielte. Die Schlagzeilen berichteten von schweren Selbstmordattentaten im Irak und dass die Justiz das Strafrecht für Besucher von Terrorcamps verschärfte. Sie dachte an ihren Bruder, benannt nach Mehmet dem Eroberer. Nur dass ihm im Gegensatz zu seinem Namenspatron wenig gelang. Denn außer den Firmen, bei denen er sich bewarb, mieden ihn die Mädchen und gaben ihm Körbe, bis er verbitterte und sich radikalisierte. Er kam ihr vor wie ein Samenkorn, das auf steinharten Boden traf und vom Wind weiter geweht wurde. Bis es im Schlamm des Islamismus landete, aufblühte und gedieh.
Die Argumente in ihrem Kopf überschlugen sich. Vielleicht musste sie ihren Bruder doch ans Messer liefern, um ihn vor größerem Schaden zu bewahren? Die Bahn fuhr schaukelnd in den Untergrund hinab, das Licht sprang an und die Türkin erblickte ihr Gesicht in der Scheibe. Konnte sie noch in den Spiegel schauen, wenn sie Mehmet verriet? Oder würde sie sich schämen, falls sie nichts tat, um ihren verblendeten Bruder zu retten? Den beschwichtigenden Worten des Afghanen traute sie keinen Moment über den Weg, er war niemals ein Spendensammler für humanitäre Ziele. Sie war nicht blöd und wusste, dass fundamentalistische Kreise Geld für den Dschihad organisierten. Der Fahrgast gegenüber überprüfte die Ausbuchtungen ihres Sweatshirts und sie starrte ihm direkt in die Augen, worauf er seinen Blick schnell wieder in den Kölner Express vertiefte. Alia freute sich, den Spanner in die Schranken gewiesen zu haben. Seit ihrer Scheidung ging sie gestärkt durchs Leben, war selten einzuschüchtern und strotzte vor Selbstbewusstsein. Deshalb fasste sie den Entschluss, auch vor dem Afghanen nicht in die Knie zu gehen und morgen noch mal nach Kalk zu fahren.
Im Anschluss des gestrigen Bistrobesuchs waren die Gefährten auf direktem Weg in die Wohnung zurückgekehrt. Dort verschlechterte sich die Stimmung, ständig kam es zum Streit zwischen Alia und ihrem Bruder. Die Situation glich einem Pulverfass, nur Timur verhinderte, dass es explodierte. Er sehnte die Stunde herbei, an dem das Treffen mit den anderen Mitgliedern der Gruppe stattfinden sollte und sie endlich abreisten.
Nach durchwachter Nacht, in der er vor seinen Albträumen floh, hatte er mit Mehmet gefrühstückt. Beide waren erleichtert gewesen, als Alia mit den Kindern früh aus dem Haus ging, um eine Freundin zu besuchen.
Nun stand er mit seinem Gefährten in der Nähe des vorgesehenen Treffpunktes. Es war einer der typischen Plätze, welche die Kölner Südstadt mit ihrem alternativen Image prägten und grenzte an einen Park. Von einer Bushaltestelle und einem Gestrüpp verdeckt, beobachteten sie durch die verkratzte Glasscheibe des Wartehäuschens das Café, dem eigentlichen Ort der Zusammenkunft. Die Kaffeestube befand sich zwischen der Saftbar "Tutti Frutti" und einer Pizzeria. Mehrere Lokale umgaben den Platz, die Tische und Stühle der Außengastronomie verbreiteten an Sommerabenden ein südländisches Flair, dem der anziehende Herbst bald ein Ende bereiten würde. Auf den Bürgersteigen vor den Gasthäusern hasteten zahlreiche Passanten vorbei und um den plätschernden Brunnen inmitten der Südstadt-Piazza kurvten Busse und Lieferwagen, drängten sich Autos und Radfahrer im Kreisverkehr. Gerade fuhr wieder ein Bus ab und gab den Blick auf das Lokal frei. Eine Kellnerin trat vor das Café und nahm die Bestellungen der übersichtlichen Gästeschar auf. Ein älterer Mann, der Zeitung las und eine Gruppe junger Leute, offensichtlich Studenten. Ein Taubengeschwader setzte zwischen den Tischen zur Landung an und fiel über herabgefallene Krümel her.
„Sieht eigentlich alles ganz harmlos aus“, raunte Mehmet, „doch der erste Eindruck täuscht manchmal.“
„Hier ist eine Menge los, gut um nicht aufzufallen. Aber du hast recht, da naht die Polizei.“
Die Gefährten erblickten zwei Polizisten mit Rennrädern. Die Fahrradstreife trug eng anliegende Kombis und trotz des abkühlenden Wetters lugten stramme Unterschenkel aus den Radlerhosen hervor. Für den Afghanen war es ein befremdliches Bild, Polizeikräfte in solcher Aufmachung zu sehen, aber Pistolen, Handschellen und Pfefferspray am Gürtel zeigten, mit den Beamten war nicht zu spaßen.
Die Polizisten stellten ihre Räder ab und schritten zu der Außentheke der Saftbar. Timur schnippte eine Zigarettenkippe ins Gebüsch und beobachtete, wie die beiden Schutzmänner zwei Becher Saft tranken.
„Da hat uns der Anwalt einen tollen Treffpunkt ausgesucht“, meckerte Mehmet, „beleidigt mich als unsicheren Kandidaten und hier gehen die Bullen ein und aus.“
„Und genau da würde uns niemand vermuten.“ Timur packte den Türken am Arm und führte ihn zur Vorderseite des Wartehäuschens, weiter dahinter rumlungern erregte zu viel Aufmerksamkeit. In dem Moment schlenderten die Ordnungshüter - einer war ein kleiner, drahtiger Mann, der andere ein großer Kerl - über die Straße und stellten sich neben sie. Beim Großen knackte es im Funkgerät, eine Meldung kam durch, die er bestätigte.
„Sie kommen“, sprach er zu seinem Kollegen. Ein Linienbus fuhr auf die Haltestelle zu und öffnete die Türen. Außer den Fahrgästen stieg ein Trupp Kontrolleure aus, die einen Jugendlichen in ihrer Mitte führten. Die Polizisten gingen auf die Gruppe zu und nahmen den Schwarzfahrer in Empfang, während die Gefährten sich schleunigst in den Bus verdrückten und zwei Fahrkarten lösten. In Timurs Jacke piepste das Handy, er hatte eine Nachricht erhalten.
„Dogan schreibt, das Paket kommt morgen um fünfzehn Uhr an.“