Читать книгу Führen ohne Psychotricks - Frank Hagenow - Страница 8
Der Psychotrick: Wie alles begann
Оглавление»Apfel gefällig?«
»Oh nein, lieber nicht. Das könnte Ärger geben.«
»Merkt doch keiner.«
»Aber: wenn das rauskommt … dann fliegen wir doch sicher hier raus.«
»Ach, was soll schon groß passieren?«
»Hhm … na, gut.« (hineinbeiß)
»Haha, reingefallen!« (davonschleich)
Am Anfang erschuf Gott Adam und Eva – und der Teufel den Psychotrick. Die Sache mit dem Apfel stellt zumindest für unsere abendländische Kultur so etwas wie den Anbeginn der Verführung, der Manipulation dar. Sozusagen der Prototyp des Psychotricks. Und schon damals hatte die kurzfristige Aussicht auf Erfolg letztlich langfristig negative Konsequenzen im Schlepptau. Der Wunsch nach einem Machtgewinn durch die Frucht vom Baume der Erkenntnis wurde nämlich leider viel schneller als vermutet entdeckt und mit einer fristlosen Kündigung für die beiden ersten Geschäftsführer des Unternehmens Menschheit quittiert.
»Einspruch, Herr Vorsitzender, wir wurden reingelegt.«
»Schwacher Vortrag. Schon mal etwas von freiem Willen und Eigenverantwortung gehört?«
»Ja, aber …«
»Nix da, selber schuld. Ende der Diskussion. So sorry.«
Letzte Konsequenz: Rauswurf. Die Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden.
Wenn wir der Story noch etwas weiter folgen wollen, ging damit der ganze Ärger eigentlich erst so richtig los. Als ob der Platzverweis allein nicht schon schlimm genug gewesen wäre, gab es für den Rest der Menschheit eine ganze Reihe von weiteren Unannehmlichkeiten. Die bis dahin als natürlich empfundene Nacktheit war plötzlich mit einer bislang unbekannten Scham behaftet und musste fortan verhüllt werden. Auch die Verantwortung für die Ressorts »Nahrungsbeschaffung« sowie »Fortpflanzung« wurde vom Chef für alle Zukunft an die Mitarbeiter delegiert. Dabei hätte doch alles so einfach sein können. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, was uns alles erspart geblieben wäre, wenn sich Frau Eva an dieser signifikanten Schnittstelle menschlicher Entwicklungsgeschichte einfach anders entschieden hätte. Wenn sie gegenüber ihrem CEO etwas mehr Loyalität und Compliance an den Tag gelegt hätte. Wenn sie kurz vor diesem emotional gesteuerten Schnellschuss einen Moment inne gehalten und vielleicht um einen Tag Bedenkzeit gebeten hätte (»Vielen Dank, Herr Schlange, für das interessante Angebot. Ich würde aber gern noch einmal eine Nacht darüber schlafen«). Vielleicht hätte sie dann auch die Gelegenheit genutzt, um ein vertrauensvolles Gespräch mit ihrem Mann zu führen (»Du, Adam, stell dir vor, was mir heute so ein zwielichtiger Vertreter vorgeschlagen hat. Denkst du, dass ich darauf eingehen sollte?«). Und mit reiflicher Überlegung, unter Abwägung aller Vor- und Nachteile, hätte sie sich dann vermutlich gegen den Apfelklau entschieden (»Ach nö. Lass mal lieber«).
Welch eine charakterliche Größe wäre es gewesen, dieser Versuchung zu widerstehen! Und wie hätte sich die Geschichte der Menschheit dann vermutlich weiterentwickelt? Vielleicht würden wir noch heute im Paradies leben und wären mit der Natur und unserem Selbstwertgefühl im Reinen. Wir bräuchten nicht unendlich viel Geld für Kleidung, Friseurbesuche, Cellulite-Cremes oder plastische Chirurgie auszugeben. Wie herrlich wäre es, sich keine Sorgen um die eigene Existenzsicherung machen zu müssen! Wir wären nicht mit so belastenden Lebensfragen konfrontiert, welches Kleid wir heute anziehen oder für welches neue Auto wir uns nach Ablauf des Leasingvertrags denn nun diesmal entscheiden sollen. Schönen Dank auch, Frau Eva! Wir würden uns heute nicht über Psychotricks Gedanken machen müssen. Ich würde darüber keine Vorträge halten, hätte dieses Buch nicht geschrieben und Sie hätten es nicht kaufen können. Na ja – zugegeben –, das hätte dann auch irgendwie seine Nachteile gehabt. Nun gut, genug des Wunschdenkens. Wie Sie ja wissen, ist es doch alles ganz anders gekommen.
Seit dem etwas verunglückten Start des Unternehmens Menschheit sieht unsere Realität nun im Allgemeinen so aus, dass wir als Säugling in diese Welt geboren werden. Was bedeutet das für uns? Eben waren wir noch in Mamas warmen Bauch, diesem Uterus-Paradies, in dem vollumfänglich und wohltemperiert für uns gesorgt wurde. Wir brauchten uns um keinerlei Nahrungsbeschaffung oder -entsorgung zu kümmern und wurden in unserer Fruchtblase der Glückseligkeit auch nicht von dubiosen Apfel-Verführern belästigt. Leider wurde es dort dann doch irgendwann zu eng und wir mussten das Licht der Welt erblicken, auch wenn wir noch gar nicht so richtig fertigentwickelt waren. Im Grunde wieder ein Rauswurf aus dem Paradies. Und diesmal, obwohl wir uns in keiner Weise daneben benommen hatten. Mietverhältnis abgelaufen – Auszug erforderlich – Licht an – Leine los – Atmen, bitte. Kaum, dass wir uns von den Strapazen unseres Umzugs erholt haben, sind wir ganz unvermittelt in eine völlig fremde Umgebung hineingeboren. In diesem neuen Umfeld sind wir dann auch gleich einmal mit den alltäglichen Mühen unseres neuen Daseins konfrontiert – und hoffnungslos überfordert. Bisher ungekannte Sinneseindrücke wie Hunger, Durst oder Verdauungsaktivitäten belasten uns – das muss schon ein ziemlicher Schock für so eine zarte Kinderseele sein. Das Einzige, was uns jetzt hilft und über die Runden rettet, ist: Vertrauen. Das ist die Grundlage unserer Existenz. Und zwar noch bevor wir überhaupt wissen, was Vertrauen ist oder wie es ausgesprochen wird. Uns bleibt überhaupt nichts anderes übrig, als in unserer Verletzlichkeit darauf zu vertrauen, dass für uns gesorgt wird. Dass man sich um uns kümmert und unsere Bedürfnisse erfüllt. Selbst dann, wenn wir sie momentan nur durch unartikulierte Lautäußerung kundtun können. Sonst sterben wir.
Im Gegensatz zu anderen Säugetierarten sind wir kurz nach unserer Geburt noch nicht in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen und halbwegs autonom zurechtzukommen. Um soweit zu sein, müssten wir noch etwa ein Jahr länger im Mutterleib verbringen; erst dann wären wir groß genug und bereit für den aufrechten Gang. Aber das machen selbst die aufopferungsbereiteste Mutter und das gebärfreudigste Becken der Welt nicht mit. Deshalb müssen wir also leider mitten in unserem halbfertigen Entwicklungsprozess geboren werden, weil wir ansonsten schlicht zu schwergewichtig für den Absprung durch den natürlichen Vertriebsweg wären. Und daher muss sich an die frühe Geburt noch eine umfangreiche Phase der Brutpflege anschließen, und auch danach sind wir mit unserer Entwicklung ja längst noch nicht fertig. Vielmehr müssen wir durch Erziehung und Schule mühsam einsehen, dass wir nicht der Mittelpunkt der Welt sind und dem anderen nicht einfach im Sandkasten die Schaufel wegnehmen dürfen.
Darüber hinaus müssen wir voller Mühe lernen, dass wir nicht alles haben können, was wir gern hätten. Und schon gar nicht immer gleich auf der Stelle. Vielmehr besteht unsere nächste Entwicklungsaufgabe darin zu verstehen, dass wir unsere Wünsche nicht immer sofort erfüllt bekommen und manche Ziele erst auf einem mühevollen Weg mit einem langen Atem erreichen können. Das kindliche »Lustprinzip« (»Ich will alles, gleich jetzt sofort!«) wird, wenn bei uns alles gut läuft, vom »Realitätsprinzip« (»Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt!«) abgelöst. Davon hat Sigmund Freud schon vor über hundert Jahren berichtet. Für diesen Entwicklungsschritt brauchen wir allerdings eine gehörige Portion Zuversicht und positive Kontrollüberzeugung, dass wir unsere Ziele auch mit Geduld und Zielstrebigkeit erreichen können. Wir müssen einsehen, dass es durchaus sinnvoll sein kann, wenn wir die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung zugunsten eines späteren, noch attraktiveren Ziels vertagen. Sehr hilfreich und positiv verstärkend ist es für uns, wenn wir schon die eine oder andere erfolgreiche Erfahrung mit dieser Strategie gemacht haben. Selbst der gelegentliche Misserfolg vermag uns dabei nicht unbedingt vom Kurs abzubringen. Nein, ganz im Gegenteil. Manchmal werden wir dadurch sogar erst recht angespornt, weil ein Erfolg nur dann als solcher erlebt wird, wenn er mit einer entsprechenden Anstrengung verbunden war. Zu oft sollten wir allerdings auch nicht scheitern, weil der positiv verstärkende Effekt ansonsten in Frustration und Resignation umschlagen kann. Oder wie der frühere Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt es ausdrückte: »Niederlagen stählen. Aber nur, wenn es nicht zu viele sind!«
Vertrauen spielt für uns in unserem Entwicklungsprozess also eine zentrale Rolle. Nicht nur als Menschenjunges, sondern auch auf unserem gesamten weiteren Entwicklungsweg. Vertrauen zu müssen, vertrauen zu wollen und gleichzeitig in der Ambivalenz zu stecken, ob wir auch wirklich vertrauen können. Auch wenn wir uns schon längst aus kindlicher Abhängigkeit herausentwickelt haben, bleibt für uns immer eine wichtige Frage, ob unser Vertrauen nicht doch enttäuscht wird. Das nimmt weiterhin Einfluss auf uns und unser Selbstwertgefühl, auch wenn es später nicht mehr so existenzbedrohend wie am Anfang sein mag. Menschen sind soziale Wesen. Wir sind voneinander abhängig und allein auf uns gestellt nicht überlebensfähig. Deshalb brauchen wir Vertrauen, Zuversicht und die anderen Menschen um uns herum.
Insofern liegt es wohl in der Natur des Menschen, an eine (noch) bessere Zukunft oder manchmal sogar an Wunder glauben zu wollen. Allerdings macht uns das dann wiederum sehr anfällig für allerlei Psychotricks.