Читать книгу Gefangen - Unter Wasser und Beton - Frank Hille - Страница 9
Donnerstag, 22. Oktober 1942, früh, Dover
ОглавлениеCaptain Brown konnte sich auf seine Crew verlassen. Sie hatten bereits 24 Einsätze hinter sich und waren jedes Mal wohlbehalten zurückgekommen. Ein paar Einschüsse oder Löcher durch explodierende Flakgranaten waren zwar unschön, aber niemand war zu Schaden gekommen. Einmal hatte sein Kettenhemd, das die Besatzungen über der Fliegerkombination trugen und sie an Brust und Rücken schützen sollte und vom Hals bis zum Becken reichte, einen glühenden Flaksplitter aufgefangen. Am Boden hatte er ihn herausgezogen und trug ihn seitdem als Talisman an einer Kette um den Hals. Mit seinen 28 Jahren war er der Älteste. Seine Babys, wie er sie nannte, waren nicht älter als 22. Alles patente Jungs, die aus verschiedenen Bundesstaaten stammten. Keiner war verheiratet, sie hatten das Leben noch vor sich. Wenn sie vom Einsatz zurückkehrten erzählten sie sich gegenseitig, wie sie sich das Leben nach dem Krieg vorstellten. Jeder hatte seine Pläne und Wünsche.
Das Briefing hatte ihnen ein Ziel in Frankreich bei Amiens zugewiesen. Also kurzen Sprung über den Kanal, Bomben runter und wieder ab nach Hause dachte er sich. Die deutschen Jagdflieger waren nicht mehr so kraftvoll wie zu Kriegsbeginn, sie hatten in der Luftschlacht um England Federn lassen müssen. Und der eigene Jagdschutz kam immer besser in Form. Was soll also passieren, beruhigte er sich, denn Anspannung war vor jedem Einsatz da. Er versuchte es seinen 9 Babys nicht zu zeigen. Besonders seinem Tail Gunner Baker und den Ball Turret Gunner Wilson durfte er die Unsicherheit nicht spüren lassen. Baker hatte hinter seinem Browning M2 eine exponierte Position in der Heckverteidigung. Die Deutschen waren schnell darauf gekommen, die Bomber von hinten unten anzugreifen. Noch schlechter war Wilson dran. Im Kugelturm unter dem Rumpf, welcher sich um seine horizontale und vertikale Achse mit Hilfe eines Elektromotors bewegen ließ, musste er auf dem Rücken liegend zwischen den Beinen hindurch visieren, Sicht war nur durch kleine Fenster möglich. Der Turret Gunner konnte als einziger der Besatzung keinen Fallschirm anlegen, weil der Platz dazu nicht ausreichte. Und falls die Maschine abschmierte, brauchte der Schütze gut eine Minute, um aus seinem Gefängnis zu entkommen. Viele schafften es nicht. Brown gab sich keinen Illusionen hin. Auch er und sein Copilot Pacino hatten zwar gepanzerte Rückenlehnen, am Bug fand sich jedoch keinerlei Panzerschutz, so dass sie Frontalbeschuss nahezu wehrlos ausgesetzt waren. Allerdings vertraute er auf die geballte Feuerkraft der Formation die eine Annäherung der Jäger erschwerte.
Die Maschine rollte auf die Graspiste. Die Motoren dröhnten schon gut 20 Minuten und hatten Betriebstemperatur erreicht. Zusammen mit Pacino war er die Checkliste durchgegangen, es gab keine Probleme. Über die Bordsprechanlage rief er seinen Leuten zu:
“ Das wird ein Spaziergang heute, Jungs. Das Ziel ist 500 Kilometer entfernt, eine schwach geschützte Gießerei, zum Mittagessen sind wir wieder da.“
„Hast du für uns in der Kantine bestellt“ ließ sich Wilson vernehmen.
„Ja, Austern und Sekt“ rief Brown zurück.
Brown schob die Gashebel der vier Motoren nach vorn und ließ die Bremse los. Die Maschine gewann an Fahrt und hob schwerfällig und leicht nach Steuerbord driftend ab. Mit den Füßen bediente er die Ruder und langsam kletterten sie höher, um sich in die Formation einzureihen. Es dauerte zirka 30 Minuten bis alle 50 Bomber in der Luft waren. Wie Habichte umkreisten bereits die Jäger die Bomber, es waren P 51 Mustang. In der Anfangszeit der Tagangriffe gab es keinen geeigneten Jäger mit ausreichender Reichweite, so dass die Bomber auf sich selbst gestellt waren. Die Verluste waren dementsprechend hoch gewesen.
Die Armada ging auf Zielkurs. Funksprüche schwirrten zwischen den Maschinen hin und her, die Navigatoren legten den Kurs fest. Sie überquerten den Kanal und drehten nach Süden auf das Ziel zu. Gegnerische Jäger waren nicht zu sehen. Es hatte sich eingebürgert, dass die komplette Schutzkleidung erst dann angelegt wurde, wenn das Ziel in Nähe kam. Brown forderte seine Leute jetzt dazu auf. Sie waren 150 Kilometer von Lille entfernt.