Читать книгу Jäger des verlorenen Zeitgeists - Frank Jöricke - Страница 16
ОглавлениеAlles war so schrecklich kompliziert geworden. Und nicht einmal die Musik brachte Klarheit. Denn auch dort hatten sich die alten Frontstellungen – hier Radiopop und Stadionrock, dort Indie-Pop und Punkrock – aufgelöst. Am 11. Januar 1992 endete der Kalte Krieg der Musikszene. An diesem Tag erreichten Nirvana mit Nevermind Platz 1 der US-Charts. Damit war das Unvorstellbare eingetreten: Eine Independent-Band führte die Verkaufshitparade an, und das auch noch mit Grunge, einem musikalischen Bastard aus Hardcore-Punk und Metal!
Einen Kontinent weiter verhalfen Rammstein der Neuen Deutschen Härte zum kommerziellen Durchbruch. Sogar der oft atonale Techno fand seine Herde. An der ersten Loveparade 1989 hatten 150 Leute teilgenommen, 1994 waren es 120.000, 1999 über 1,5 Millionen.
Der Underground war Mainstream geworden. Das Extreme zog die Massen. Selbst Gewaltverherrlichung war nicht länger ein Fall für die Subkultur. Mit Reservoir Dogs, einem anderthalbstündigen Blutbad für Menschen mit robustem Magen, machte der ehemalige Videothekar Quentin Tarantino die Bosse in Hollywood auf sich aufmerksam. Dort stürzte man sich auf sein Drehbuch für Natural Born Killers und stellte ihm einen Blankoscheck für Pulp Fiction aus – zwei Filme, die Serien- und Auftragskiller ziemlich cool aussehen lassen. Was Millionen von Kinogängern nicht weiter störte.
Auch Gangsta-Rapper, wie Ice-T oder Snoop Doggy Dogg, wurden allenfalls milde dafür gerügt, dass sie in ihren Texten Straftatbestände wie Zuhälterei und Drogenhandel anpriesen. Schwerer hatten es da jene, die wie eh und je brav ihre drei Akkorde droschen. So schimpfte der Techno-Pionier Wolfram Neugebauer (Wolle XDP): „Rock ist reaktionär. Leute, die heute Rockmusik hören, leben in der Vergangenheit.“
Nur traf dies nicht auf Bands wie Pulp, Blur und Oasis zu, die Rockmusik spielten und dennoch auf der Höhe der Zeit waren. Und genau das machte die 90er aus: Für jede Behauptung ließ sich ein Dutzend Gegenbeispiele finden. Kein Wunder, dass FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in der Aufsatzsammlung Der westliche Kreuzzug nicht weniger als „41 Positionen zum Kosovo-Krieg“ versammelte. Und jeder der 41 Autoren hatte irgendwie recht und irgendwie unrecht.
Das war verwirrend, aber gleichzeitig befreiend – weil Sowohl-als-auch mehr Spaß macht als Entweder-oder und weil die großen Vereinfacher (Ideologen, Extremisten, Verschwörungstheoretiker) plötzlich als Dummköpfe dastanden. Und so lösten die 90er dann doch noch das Versprechen der 80er ein: „Anything goes! Alles geht!“ Oder, um mit der großen Philosophin Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf zu sprechen: „Wir machen uns die Welt, widde widde wie sie uns gefällt.“
Zeitgeistentdeckung Nr. 2:
In den 90er Jahren begann die große Unübersichtlichkeit. Seitdem wissen wir nicht mehr, wer die Guten sind und wer die Bösen.
Zum Weiterlesen
Judith Hermann: Sommerhaus, später