Читать книгу Jäger des verlorenen Zeitgeists - Frank Jöricke - Страница 23

Der alte Mann und der Mord

Оглавление

Wie sich eine Gesellschaft in ihren Verbrechen wiedererkannte

Sieben Jahre lang, von 1969 bis 1976, brachte Der Kommissar die Wirklichkeit in bundesdeutsche Wohnstuben. Und Millionen von Zuschauern staunten, wie schrecklich die Realität sein konnte.

In einem Alter, da andere in Rente gehen, legte er los. Erik Ode war 57, als er in der Rolle des Kommissars Keller seinen ersten Fall löste. Dabei halfen ihm seine drei Assistenten Robert (Reinhard Glemnitz), Walter (Günther Schramm) und Harry (Fritz Wepper, der später zu Derrick wechselte), die als Lockvogel eingesetzte Helga (Emely Reuer) und eine bedingungslos ergebene Sekretärin namens Rehbein (Helma Seitz). Sieben Jahre später hatte Keller rund hundert Mörder in Handschellen gelegt und Millionen Zuschauer gefesselt.

Der Kommissar war niemals langweilig. In keiner seiner 97 Folgen. Er war aber auch nie aufregend im Sinne eines auf Action getrimmten Til Schweiger. Das Höchstmaß an Rasanz war dann erreicht, wenn Robert, im Stile eines Aushilfs-Jerry-Cotton, über Jägerzäune hüpfte. Das sah lustig aus.

Auch sonst gab es bei Keller & Co viel zu lachen: aus heutiger Sicht. Der Kommissar war nämlich mehr als nur ein einfaches Mörder-Suchspiel. Es war eine Zeitgeiststudie in einer Zeit, in der man Zeitgeist noch nicht kannte. Natürlich gab es in jeder Folge gleich zu Beginn den obligatorischen Mord. Doch dieser diente nur als Aufhänger, sich die bundesrepublikanische Gesellschaft mal ein wenig näher anzuschauen. Der Weg war das Ziel. Und deshalb führte jede Ermittlungstour auch immer über die Stationen Doppelmoral und Exzess. Wenn Keller und Team in Anzug und Schlips in Beatschuppen hinabstiegen, sollte das aufrütteln, betroffen machen

Heute wirkt es komisch, da hoffnungslos klischeeüberladen. Hippies vor Che-Guevara-Postern delirieren zu Krautrock. Robert, Walter und Harry schütten trinkfest Bier und Klare in sich rein. Und nur Keller, dem selbst in Augenblicken höchster Spannung nie die Kippenasche auf den Boden fiel, bleibt gelassen, ist durch nichts zu erschüttern, als wolle er sagen: „Jungs, ich habe Hitler, zwei Weltkriege und eine halbe Ewigkeit Verbrechensbekämpfung hinter mir. Da werden mich doch ein paar Junkies nicht aus dem Gleichgewicht bringen.“

Keller ist der kettenrauchende Ruhepol in einer Welt des Umbruchs und Zerfalls. Eltern verstehen ihre Blagen nicht mehr, Neureiche spielen Caligula, Kleinbürger zittern vor Zuhältern. Es wimmelt von Neurotikern und Nervenärzten – und Junkies. Heute, 35 Jahre nach Christiane F., sind Rauschgiftopfer nur noch selten Stoff für Fernsehkrimis. Damals aber, als jene, die am Wirtschaftswunder mitgezimmert hatten, ansehen mussten, wie ihre Kinder auf die schiefe Bahn gerieten, war Der Kommissar die Studie, die einer ratlosen Gesellschaft allmonatlich Erklärungen lieferte.


Und wie sie das tat! Da prallten Extreme aufeinander. Dialoge als Frontalzusammenstöße. Der Kommissar war der vielleicht letzte ernst zu nehmende Versuch des Fernsehens, in einer immer mehr zerfasernden Welt noch einmal klare Fronten zu schaffen. Nicht zufällig drehte man Schwarzweiß, obgleich es damals, 1969, Farbe bereits gab. Altersstarre Väter im Zweireiher schreien hilflos ihre Langhaarkinder an (sofern diese nicht bereits ermordet waren). Und auf einmal war alles sternenhimmelklar: Warum es nicht mehr klappte zwischen den Generationen. Warum den Autoritäten die Autorität zerrann.

Das bekamen auch Keller und Gefolge zu spüren. Sie durften noch so sehr menscheln und wurden dennoch, vom Luden bis zum Sozialarbeiter, stets nur als Vertreter der Staatsmacht, also als Feinde, ausgemacht. Deshalb waren Harrys und Walters Versuche, sich an Jugend und Unterwelt ranzuschmeißen, auch selten von Erfolg gekrönt. Und nur Keller, da zu lebensklug, und Robert, da zu bieder, machten da nicht mit.

Überhaupt, Robert, der heimliche Held der Serie, chronisch unterschätzt: Wie er den immer etwas übereifrigen, nassforschen Hüter von Gesetz und Ordnung markierte – das hatte Witz und Klasse. Darum war es nur konsequent, dass mit dem Ende der Serie auch die Karriere des echten Robert, des Schauspielers Reinhard Glemnitz, zu Ende ging. Was hätte er sonst spielen können?

Es ging aber noch mehr zu Ende. Und das wiegt schwerer. Wer heute Kommissar-Folgen sieht, ahnt, was aus dem Neuen Deutschen Krimi hätte werden können. Was da in 60 Minuten an psychologisch entlarvenden Kameraschwenks und dramaturgisch auf den Punkt genauen Schnitten reingepackt wurde, steht in der Tradition von Citizen Kane. Großes Kino in bundesdeutschen Wohnstuben.

Das ist kein Zufall. Denn jene, die beim Kommissar Regie führten, waren Altmeister wie Wolfgang Staudte und Helmut Käutner oder Jungfüchse, die an die Macht der Bilder glaubten und mit entsprechendem Elan herangingen. Was auch für Schauspieler und Musiker galt. Stars wie Lilli Palmer, Will Quadflieg oder Curd Jürgens gaben Gastspiele. Talente wie Matthieu Carrière verdanken dem Kommissar den entscheidenden Karriereschub. Und eine Frau namens Daisy Door landete gar auf Platz 1 der deutschen Hitlisten, nachdem ihr Song Du lebst in deiner Welt – ursprünglich nur als musikalische Untermalung gedacht – einen Nachfrageboom auslöste.

So wurde Der Kommissar für alle Beteiligten eine Erfolgsstory, die ewig hätte weitergehen können. Tat sie aber nicht. 1976, im Jahr, als die zweite RAF-Generation im großen Stil Morde und Entführungen plante, war Schluss. Kommissar Keller als Terroristenjäger – das wäre dann doch zu viel des Zeitgeists gewesen.

Wir aber werden angesichts von Krimiklamauk (Münster-Tatort!) und weichgespültem Pseudo-Realismus wehmütig. Warum musste mit dem Kommissar, jener Serie, die uns so viel über dieses Land und ihre Menschen zu erzählen wusste, auch der deutsche Fernsehkrimi sterben?

Zeitgeistentdeckung Nr. 14:

Einen besonderen Fernsehkrimi erkennt man daran, dass er nicht nur Verbrechensaufklärung betreibt, sondern auch Aufklärung.

Zum Weiterschauen

Der Kommissar (Komplettbox, 28 DVDs)

Jäger des verlorenen Zeitgeists

Подняться наверх