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Sehnsucht nach Jancker

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Auch Rumpelfüßler haben Charme – der schöne schlechte deutsche Fußball

Der deutsche Fußball gefällt mittlerweile jedem, sogar den Brasilianern. Das war mal anders. Ein Rückblick auf schöne triste Jahre.

Nein, früher war nicht alles besser. Im Gegenteil. Ich sage nur: Horst-Dieter Höttges, Berti Vogts, Bernhard Dietz, die Förster-Brüder, Jürgen Kohler, Christian Wörns – die Ahnenreihe des Fußball-Malochertums. Männer mit eisernem Willen und noch härteren Füßen. Emsig, rechtschaffen und unerträglich anzusehen.

Und dennoch: Für einen echten Fan gab es keine Alternative. So wie ein Hungernder für jeden Krumen Brot dankbar ist, berauschte man sich am Elfmeterschießen des Halbfinales 1982 gegen Frankreich und vergaß darüber das elende Gegurke in den Spielen zuvor, sogar den Nichtangriffspakt im Vorrundenmatch gegen Österreich.

WM bedeutete für einen deutschen Fußballfan: auf magische Momente hoffen und dafür bereit sein, Stunden des Stumpfsinns durchzustehen. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Deutschen sich ins Endspiel wurschtelten oder nicht. Gruselig war es so oder so. Ob 1982, 1986 oder 2002, der Weg ins Finale war stets mit Leiden verbunden – für den Zuschauer, der lustlose Gruppenspiele, komatöse Achtelfinals und ermüdende Viertelfinals erdulden musste. Selbst im Weltmeisterjahr 1990 hieß der wichtigste deutsche Spieler „Dusel“ und verhalf Beckenbauers Elf zu glücklichen K.-o.-Siegen gegen die Tschechoslowakei und England.

Dass vor allem Frauen diese Art des „Entertainments“ mieden, war nur allzu verständlich. Dann lieber Kreuzworträtsel oder Gardinenwaschen. Fußball war kein Vergnügen. Wenigstens nicht in Deutschland. Es war harte Arbeit. Was nicht passte, wurde passend gemacht. Das Zaubern überließ man den anderen, die in der Regel „tragisch“, „unglücklich“ und „unverdient“ ausschieden.

Bis Klinsmann und Löw kamen. Seit ihrem Amtsantritt im Sommer 2004 wird auch in Deutschland Fußball GESPIELT. Das ist hübsch anzuschauen. Ein wenig Fantasie genügt – man stellt sich einfach vor, die Trikots wären gelb statt weiß –, und schon hat man die Illusion, Brasilien wirbelte auf dem Feld. Ende gut, alles gut.

Oder auch nicht. Denn der alte deutsche Fußball verlangte Demut und Unterwerfung. Man legte sein Schicksal in die Hände (= Füße) von Menschen, die damit offenkundig überfordert waren. Das eigene Seelenheil von der Ballbehandlung eines Horst Hrubesch, Jens Jeremies oder Carsten Jancker abhängig zu machen, setzte ein quasi-religiöses Vertrauen voraus. Selbst Atheisten entdeckten die Kraft des Stoßgebets („Oh Gott!“, „Herr im Himmel!“, „Jesses Maria!“), wenn das störrische Leder sich wieder mal den Zähmungsversuchen deutscher Fußarbeiter widersetzte. Wie schafften es die Spieler anderer Mannschaften bloß, den Ball anzunehmen, ohne dass dieser drei Meter versprang?


Doch dann geschah tatsächlich das Wunder: Der Fußballgott hatte ein Einsehen und belohnte all jene, die immer wieder ausgeharrt hatten, mit magischen Momenten. Dann setzte Klaus Fischer zum Fallrückzieher an, oder Guido „Diego“ Buchwald entdeckte den Maradona in sich und schlug die Flanke seines Lebens. Ehe im nächsten Spiel das Martyrium von vorn begann und wieder Demut verlangt war.

Der neue deutsche Fußball verlangt gar nichts. Er ist wie 90 Minuten Popcorn-Kino: beste Action, klasse Spezialeffekte, und am Ende triumphieren meist die Guten. So was gefällt selbst Leuten, die zwischen WM und EM nie auf die Idee kämen, sich ein Spiel anzuschauen. Fußball ist in der Spaßgesellschaft angekommen, mit der Weltmeisterschaft als ihre Loveparade – wir schalten rüber zum Public Viewing.

Zeitgeistentdeckung Nr. 6:

Der Preis der Spaßgesellschaft: Selbst der Fußball ist zu schön geworden. Er macht es einem viel zu leicht, verlangt keine Opfer mehr.

Zum Weiterschauen

Die Fussball-WM Klassikersammlung, Nr. 23: Viertelfinale 1986, Deutschland - Mexiko 4:1 n. E. Das Spiel in voller Länge. (Herausgeber: Bild am Sonntag)

Jäger des verlorenen Zeitgeists

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