Читать книгу Jäger des verlorenen Zeitgeists - Frank Jöricke - Страница 19
ОглавлениеUnd irgendwie ist es auch die Geschichte des World Wide Web. Dass eine Nation braver Bausparer über Nacht zu tollkühnen Börsenzockern wurde, ist eine Folge des Internets und der damit verbundenen Möglichkeit, per Mausklick Aktien zu kaufen und zu verkaufen. Das Web beschleunigte nicht nur den Wertpapierhandel, sondern auch die Kommunikation. Flatrate sei Dank konnten Leute, die seit Jahren keinen Brief mehr geschrieben hatten, endlich rund um die Uhr „chatten“ und „mailen“. Und flirten. Der deutsche Wortschatz wurde um die „Internetbekanntschaft“ bereichert. Längst ist die virtuelle Welt ein Ort realer Annäherungsversuche. Menschen verlieben sich nicht länger in verräucherten Eckkneipen, sondern vor Computerbildschirmen. Die sichere Distanz und die Gewissheit, sich jederzeit zurückziehen zu können, macht es selbst Schüchternen leicht, die Fühler auszustrecken.
Doch der Zweifel bleibt. Nicht nur Papier ist geduldig, sondern auch die Eingabemasken der sozialen Netzwerke und Partnerportale. Nirgendwo wird so unverblümt geflunkert und so schamlos geschönt wie im Web, oder sagen wir’s netter: Imagepflege betrieben. Muss ja keiner wissen, dass das Foto im Netz schon neun Jahre alt ist und allenfalls zufällige Ähnlichkeit mit lebenden Personen aufweist. Spätestens bei der Begegnung in 3D mit Geruchs- und Tonspur – „Date“ hieß das früher – tritt die Ernüchterung ein: Glamourgirl entpuppt sich als piepsende graue Maus, und Adonis hat Schuppen und Mundgeruch. Wieder ein Traum geplatzt.
Doch wir wollen nicht klagen. Eigentlich geht es uns gut. So gut, dass wir von jenen, denen es schlechter geht, gehasst werden. Wie sehr, das wird uns seit dem 11. September 2001 immer wieder vor Augen geführt. An diesem Tag gingen nicht nur Wolkenkratzer zu Bruch, sondern auch Weltbilder. Mancher zu Wohlstand gekommene Altaktivist musste lernen, dass Solarzellen auf dem Dach, Rußfilter im SUV und Einkäufe beim Öko-Edelitaliener zwar das eigene Gewissen beruhigen, nicht aber todesbereite Fundamentalisten, denen die ganze Erste Welt (also wir) ein Dorn im Auge ist.
Lauter schlechte Nachrichten also? Keineswegs. Die nahenden Lawinen – Bankrott von Städten und Staaten, soziale Unruhen Marke London/Athen, Häufung von Hurrikans und anderen Klimakapriolen – verlangen Rettungskräfte, die unerschrocken agieren. Klare Köpfe, die ihre Illusionen hinter sich gelassen haben und zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden wissen. Kurz: Menschen, die in den 00er Jahren erwachsen wurden. Bereit für die Zukunft?
Zeitgeistentdeckung Nr. 3:
Die 00er Jahre haben nie geendet. Die Börsen spielen schon wieder verrückt, die Taliban drehen weiterhin durch, und das Internet macht die Leute noch immer ganz kirre.
Zum Weiterschauen
Die fetten Jahre sind vorbei (Regie: Hans Weingartner)