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Kapitel 2

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Hallo! Ich bin es, Mutti! Melissa! Dieses uralte Diktiergerät, das ich in meiner Hand halte, ist meine einzige Hoffnung, zu dir Kontakt herzustellen. Ich habe es mit ein paar gebrauchten Bändern von einem Trödelhändler während meiner Flucht geschenkt bekommen. Er hatte wohl Mitleid mit einer hochschwangeren Frau, der die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben steht. Du hast jetzt schon seit Wochen nicht mehr das geringste Lebenszeichen von mir erhalten. Glaube mir, es hat nichts damit zu tun, dass ich dich nicht mehr liebe oder dich nicht mehr brauche. Genau das Gegenteil ist der Fall. So sehr, wie zum jetzigen Zeitpunkt, habe ich dich noch nie gebraucht. Und dennoch: Es ist im Augenblick nicht möglich, einen direkten Kontakt zu dir herzustellen. Es wäre für dich viel zu gefährlich. Dabei bist du der einzige Mensch, dem ich noch vertraue! Ich weiß, dass du nichts mit ihnen zu tun hast. Aber sie kennen dich. Sie werden dich Tag und Nacht überwachen. Nichts wird dir aufgefallen sein. Warum auch? Woher solltest du wissen, dass es sie gibt? Ich hoffe so sehr, dass diese Bänder irgendwann einmal in deine Hände gelangen. So richtig kann ich nicht daran glauben. Und sie sind mir zu dicht auf den Fersen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit! Genau wie die Geburt. In vierzehn Tagen müsste es so weit sein. Es ist schon eigenartig, auf der Flucht zu sein, um sein Kind auf die Welt zu bringen. Das Wort Flucht trifft in meinem Fall zwar tatsächlich zu, aber es fehlen mir im Grunde genommen sämtliche Voraussetzungen für ihr Gelingen. Erfolgreiche Fluchtversuche, aus welchen Gründen auch immer, setzen beim Fliehenden ein hohes Maß an Aktivität, Ausdauer und Einfallsreichtum voraus. Zwar trifft das Letztere schon seit meiner Kindheit auf mich zu, was du sicherlich jedem bestätigen würdest, aber ich möchte die hochschwangere Frau sehen, die kurz vor der Niederkunft vor Aktivität und Ausdauer strotzt. Mein einziger Motor, allen Versuchungen der Selbstaufgabe nachzugeben, liegt in dem Wissen um die Rücksichtslosigkeit meiner Feinde. Wenn sie mich finden, werden sie mich unmittelbar nach der Geburt töten. Mein Kind werden sie, wenn es nicht von albtraumhaften Entstellungen gekennzeichnet ist, ein Leben lang untersuchen, um festzustellen, ob ihr Experiment gelungen ist. Es ist ein Albtraum, Mutti. Nein, es ist viel schlimmer. Es ist die Realität.

»Sehr spannend, auch wenn der Erzählstil für meinen Geschmack bisher ein wenig zu sachlich gehalten wurde. Unsere süße kleine Melissa versucht offenbar mit aller Anstrengung, ihre Gefühle im Zaum zu halten, damit die nackte Panik sich nicht ihres Verstandes bemächtigt. Naja, trotzdem, wenn diese Aufzeichnungen uns nicht gerade eine Reihe von Unannehmlichkeiten bereiten würden, wären sie gut für Hollywood geeignet!« Langsam lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, ohne jedoch die Hand von dem Diktiergerät zu nehmen, dessen Stopp-Taste er eben betätigt hatte.

Sein Gegenüber schob ihm die restlichen Kassetten seitlich über den Tisch zu. Dabei blieb sein Blick am Mund des Abhörers hängen. Es erstaunte ihn immer wieder, wie viel Zigarettenqualm zwischen den Lippen des Abhörers hervorquoll, wenn er etwas in seiner abweisenden Art sagte. Wie bei jedem Treffen der beiden, konnte er sich auch dieses Mal nicht eindeutig festlegen, ob ihn der Mann, der auf der anderen Seite des Tisches saß, faszinierte oder anekelte. Da es aber kein Aspekt ihrer Zusammenarbeit war, verwarf er die Suche nach einer Antwort wie immer schnell. Der Abhörer war der Beste von ihnen auf diesem Gebiet und für diesen Teil der Arbeit unverzichtbar. Wie alle, die wie er waren, so trug auch er eine stark verdunkelte Sonnenbrille, obwohl in den verrauchten, fensterlosen Raum kein Tageslicht fiel.

»Wie dem auch sei«, stellte der Mann, der die Diktierbänder gebrachte hatte, fest und sah den Abhörer ausdruckslos an. Er strich sich über seine auffällige Narbe, die quer über seine linke Wange lief. »Du hast nur sehr wenig Zeit für die Auswertung. Wir brauchen jeden noch so kleinen Hinweis, um die Flucht nachzuvollziehen. Die Ernte findet in Kürze statt. Bis dahin sollten möglichst alle Zeugen und Kontaktpersonen eliminiert sein. Wir wissen, dass ihre Mutter eine ehemalige Kommissarin aufgesucht hat, um ihr bei der Suche nach Melissa zu helfen. Sie ist wegen Multipler Sklerose schon lange aus dem Dienst ausgeschieden. Ihren hellen Kopf hat sie aber immer noch, auch wenn sie ihr Leben mit Assistenzkräften organisiert. Sie telefonierte gestern offenbar mit ehemaligen Kollegen. Die Zeit drängt. Egal, ob sie oder andere Nachforschungen anstellen, wir müssen einen deutlichen Vorsprung erarbeitet haben, um alle Spuren vorher beseitigen zu können. Es sind in letzter Zeit viel zu viele Dinge aus dem Ruder gelaufen.«

»Warum eliminieren wir diese Kommissarin nicht sofort?«, wollte der Abhörer mit regungslosem Gesichtsausdruck wissen. Wieder war dabei nahezu unaufhörlich Zigarettenqualm seinem Mund entwichen. Die Luft im Reich des Abhörers war zum Schneiden.

»Jede Spur, die wir übersehen, wird sie vielleicht entdecken. Sie muss in ihrer aktiven Zeit richtig gut gewesen sein. Wir hören sie ab. Gegebenenfalls werden durch ihre Erkenntnisse noch ein paar Nachreinigungen erforderlich. Alles andere wird beim Zieleinlauf entschieden. Du weißt ja, bis zu einem gewissen Grad fördert die Konkurrenz die Leistungsfähigkeit.« Ohne sich zu verabschieden, drehte er sich um und ließ den Abhörer mit den Kassetten zurück.

Mit einem flüchtigen Lächeln hörte der Abhörer, wie sich die Tür schloss und der Auftraggeber beim Hinaustreten so tief durchgeatmet hatte, wie es Taucher machen, wenn sie durch die Wasseroberfläche stoßen und endlich wieder Sauerstoff aufnehmen können. Fest zog er an der Zigarette, deren Glut sich augenblicklich erhellte. Er strich sanft über die Bänder auf dem Schreibtisch. Entspannung breitete sich in ihm aus. Weich waberte der Qualm aus seinem Mund. Endlich konnte er wieder in sein Element eintauchen. In die Welt der Töne. Dort und nur dort fühlte er sich lebendig. Alles um ihn herum löste sich dort in nichts auf. Alles, was ihn körperlich ausmachte, verschwand für diese Zeit aus seinem Bewusstsein. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich Gedanken über seine Zustände gemacht hatte und dabei Gefahr gelaufen war, durch seine Analysen seine einzigen lebendigen Momente zu zerstören. Er hatte längst aufgegeben, auch nur nach Ansätzen von Lebensfreude in sich zu suchen. Das Einzige, was er brauchte, waren Aufträge wie dieser. Allein mit seinen Maschinen und Bändern zum Abhören - das war sein Leben. Die jahrelange Beschäftigung hatte sein Gehör geschärft. Er wusste schon fast instinktiv, an welchen Stellen er die Geräte einsetzen musste, um auch noch die feinsten Hintergrundgeräusche herauszufiltern. Jeder Wortfetzen und die Analyse des Dialektes konnten wieder ein Mosaikstein im großen Bild werden. Er war ein Jäger nach schon längst verhallten Schallwellen der Vergangenheit. In ihm entstanden sie neu, wurden sie gebündelt. Als Ganzes brachte er sie wieder in die Gegenwart und machte sie so lange lebendig, bis seine Leute zuschlagen konnten. Danach zerfielen die zahlreichen Gesamtbilder, die er schon zu Hunderten hatte entstehen lassen, wieder in ihre Mosaike zurück und verloren sich in der damit beginnenden endgültigen Vergangenheit durch sein Loslassen und der gleichzeitigen Vernichtung der Bänder. Worte sind wie Schall und Rauch, fuhr es ihm durch den Kopf. Er zündete sich eine neue Zigarette mit seiner bis kurz vor dem Filter gerauchten Zigarette an und inhalierte tief den Rauch. Langsam drehte er sich auf seinem Arbeitsstuhl zu den Geräten, drückte die Starttaste des Diktiergerätes, zog seine Sonnenbrille ab und begann damit, sich über seine Konzentration wieder einmal zu verlieren, um endlich wieder einmal lebendig zu sein. Jedes Geräusch war wichtig. Langsam öffnete er seine Augen. Wie allen Dauer-Sonnenbrillenträgern unter ihnen fehlten ihm beide Pupillen. Die weißen Augäpfel leuchteten durch den aufsteigenden Zigarettendunst auf, als er erneut tief am glühenden Tabak zog.

Mutti, kannst du dich noch an unsere Gespräche erinnern, mit denen ich dich während meiner Oberstufenzeit auf dem Gymnasium immer strapazierte? Wie oft führte ich als Möchtegern-Weltverbesserin in epischer Breite aus, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr als 200 Kriege auf der Welt stattgefunden haben! Dass kein einziger Tag seitdem vergangen ist, an dem nicht irgendwo auf der Welt für die Ehre, das Vaterland, die Religion oder eine ideologische Überzeugung gekämpft und getötet worden ist. Ich erzählte dir damals von dem Psychoanalytiker Erich Fromm, der den Krieg für eine indirekte Rebellion gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Langeweile, wie sie das gesellschaftliche Leben in Friedenszeiten beherrschen, ansah. Seiner Meinung nach sollte die Tatsache nicht unterschätzt werden, dass ein Soldat – wenn er gegen den Feind kämpft – nicht gegen die Mitglieder seiner eigenen Gruppe um Nahrung, ärztliche Betreuung, Unterkunft und Kleidung kämpfen brauchte. Dass der Krieg diese positiven Züge aufweist, so stimmte ich Fromm damals zu, ist ein trauriger Kommentar zu unserer Zivilisation. Wie oft zitierte ich damals Fromm: »Wenn das bürgerliche Leben für Abenteuer, Gleichheit und Idealismus Raum hätte, wie sie im Krieg zu finden sind, könnte man die Menschen vermutlich nur sehr schwer dazu bewegen, in einen Krieg zu ziehen.« Heute weiß ich es besser, Mutti. Heute weiß ich, dass sich Fromm täuschte, dass wir uns alle täuschen. Nicht nur in Bezug auf eine solche Theorie, sondern auch über unser Selbstbewusstsein und sogar über unsere eigene Entstehungsgeschichte. Wir ziehen nicht in den Krieg, weil für uns kein Raum für Gleichheit und Gerechtigkeit vorhanden ist, sondern weil wir unbewusst den Krieg als unseren Schöpfer huldigen. Sie haben es mir gesagt, Mutti! Sie haben mir ihre Beweise vorgelegt, über die sie schon seit 3.500 Jahren verfügen. Seit dieser Zeit macht sich die Menschheit etwas vor. Auch du und ich! Und seit 3.500 Jahren haben wir sie zum Feind. Sollte ihr Experiment gelungen sein, so wird auch mein Kind zu unserer aller Feind werden. Großer Gott, ich darf gar nicht darüber nachdenken. Oh, Mutti! Es tut mir so leid, dass ich dich aus meiner Schwangerschaft ausgegrenzt habe. Nur mit einer einzigen SMS habe ich dich daran teilhaben lassen. Oh Gott, was habe ich dir damit nur angetan! Verzeih mir, Mutti, bitte verzeih mir!

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