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Kapitel 5

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Wie an jedem Abend, wenn sie für das Zubettgehen vorbereitet wurde, hielt sich Sabine Sommer nur mit der rechten Hand am Griff des Lifters fest. Ihre linke Hand schmerzte zu sehr, um sie zur zusätzlichen Stabilisierung einzusetzen. Nötig war es ohnehin nicht. Die Technik war sicher. Es hätte ihr aber ein besseres Gefühl gegeben, wenn sie sich mit beiden Händen hätte festhalten können.

Karin Breit hatte ihre Chefin nach dem Duschen auf dem kombinierten Dusch- und WC-Stuhl abgetrocknet und eingecremt. Nachdem die Creme in ihre Haut eingezogen war, hatte sie Sabine Sommer ein T-Shirt angezogen und erst dann zum Lifter im Schlafzimmer geschoben. Einmal am Tag wollte Sabine Sommer diese ausgiebige Grundpflege haben. Manchmal am späten Nachmittag vor dem Zubettgehen, manchmal auch morgens, wenn sie tagsüber die Wohnung verlassen wollte oder musste. Meistens war es, weil sie die Wohnung verlassen musste. Hinaus zog es sie nur noch selten.

Mit routiniertem Griff schob Karin Breit den Lifter so weit es ging unter den Stuhl, bückte sich und hob Sabine Sommers Füße auf das Brett des Lifters. Normalerweise unterhielten sich die beiden Frauen bei der Prozedur, doch Sabine Sommer schien so tief in Gedanken versunken zu sein, dass ihre Assistentin schwieg. Hundertfach hatten beide dieses Abendritual schon gemeinsam absolviert. Das Prozedere war so zum Automatismus geworden. Das Anlegen des Gurtes hinter dem Rücken, genauso wie das Anlegen der gepolsterten Schlaufen unter den Achseln, wie auch das Einhängen der Hängeschlaufen in den Lifter. Erst als Sabine Sommer das leise Surren des Elektromotors vernahm, wurde sie aus ihrer Gedankenwelt gerissen. Langsam zog der Lifter sie aus dem Stuhl hoch, bis sie aufrecht stand. Gesichert wurde ihr Stand vom Lifter, der sie an das ehemals selbstverständliche Gefühl erinnerte, wie es war, als sie ihr Leben noch stehend, gehend und laufend gemeistert hatte.

Sanft zupfte Karin Breit das rote T-Shirt am Körper ihrer Chefin zurecht. »Das ist wirklich ein sehr schönes T-Shirt. Super weich.« Noch einmal strich sie sanft über den Stoff.

»Ja, finde ich auch, hat mir meine Mutter vorbeigebracht. Mit einer extra Ladung Weichspüler gewaschen und perfekt gebügelt. Du kennst sie ja.«

Karin Breit grinste, während sie hinter sich aus einem Holzregal eine Windel mit Klebestreifen nahm. Nach einer routinierten Körperdrehung legte sie Sabine Sommer die Windel zunächst nur locker an, um sie auszurichten. Nachdem sie das Gefühl hatte, dass alles saß, löste sie noch einmal die Klebestreifen um sie fest zu fixieren. Nach einem kontrollierendem Blick sagte sie: »Ich verstehe das immer noch nicht, dass diese Melissa als Schwangere nichts über den Vater ihres Kindes gesagt haben soll. Das ist mir ein absolutes Rätsel.«

»Mir auch«, sagte Sabine Sommer mehr zu sich selbst. »Die Mutter weiß nur, dass sie ihren Traummann in einem Kölner Hotel kennengelernt hat, als ihre Wohnung wegen eines Wasserschadens kurzfristig unbewohnbar war. Das war es auch schon an Informationen.«

Karin Breit hob den linken Fuß an und führte ihn durch die Beinöffnung der Einwegpants. Dann zog sie die Windel hoch und verschob sie mit geübten Griffen so, dass sie einen möglichst perfekten Sitz hatte. »Welches Hotel war es denn?«

»Keine Ahnung. Da kümmern wir uns erst drum, wenn wir in Erfahrung gebracht haben, ob Melissa wegen eines psychischen Problems abgetaucht ist. Vielleicht erübrigen sich dann schon weitere Nachforschungen. Dass sie von Monstern beim letzten Paniktelefonat mit ihrer Mutter gesprochen hat, deutet ja schon recht deutlich in diese Richtung.« Ein leichter Ruck durchfuhr Sabine Sommers Körper, als Karin Breit ihre im Lifter stehende Chefin langsam auf das Bett zuschob.

»Wie willst du denn an diese Information kommen? Wenn Melissas Mutter schon an der ärztlichen Schweigepflicht gescheitert ist, wie willst du dann an Auskünfte kommen?«

»Lass mich mal machen«, antwortete Sabine Sommer mit selbstbewusster Stimme.

»Und dir ist schon klar, dass es meist Wochen dauert, bis man einen Termin bei einem Therapeuten bekommt?« Karin Breit schob den Lifter so dicht unter das Pflegebett, dass ihre Chefin langsam wieder in eine Sitzposition gebracht werden konnte.

»Lass mich mal machen«, wiederholte Sabine Sommer mit noch festerer Stimme. »Du wirst sehen, dass ich morgen innerhalb von einer halben Stunde einen Termin habe. Du bist doch morgen früh gegen 9 Uhr hier, oder nicht?«

»Doch, da habe ich Schicht. Aber wie …«

»Lass mich nur machen«, unterbrach Sabine Sommer ihre Angestellte.

»Okay, dann lass ich dich mal machen«, sagte Karin Breit gutgelaunt. Nach einem flüchtigen Augenkontakt mit ihrer Chefin drehte sie sich um und holte aus dem Regal eine Bettschutzauflage. Auf dem Weg zurück schüttelte sie das 60 mal 90 Zentimeter große Tuch aus. Mit der Plastikseite nach unten breitete sie es auf den professionellen Pflegebett aus. Auch dieses Ritual gehörte zum Abendprogramm. Denn schließlich konnte man nie wissen, ob die Windel auch die Nässe in sich halten wird.

Verdammte Inkontinenz ging es Sabine Sommer jeden Abend zweimal durch den Kopf. Einmal, wenn ihr die Windel angezogen wurde, und das zweite Mal, wenn die Bettschutzauflage auf dem Pflegebett ausgebreitet wurde.

»Bist du bereit«“, fragte Karin Breit.

Sabine Sommer nickte kaum merklich.

Das Surren des Elektromotors begleitete Sabines Abwärtsbewegung, bis ihr Po fest auf dem Bett platziert war. Auch dabei gab die Hängevorrichtung des Lifters ihr den nötigen Halt. Von dem Moment an, an dem Karin sie von den Schlaufen und dem Gurt befreien würde, war sie es nicht mehr. Wenn es dann keine helfenden Hände einer Assistenzkraft gab, würde sie seitlich einfach umfallen. Karin kam deshalb an die linke Seite ihrer Chefin, damit Sabine nach dem Ablösen vom Lifter von ihren Armen gestützt werden konnten. Behutsam ließ Karin ihre Chefin auf die linke Körperseite ins Bett sinken. Mit einem geübten Griff zog sie den Lifter weg und hob Sabines Beine ins Bett. Dann drehte sie sie auf den Rücken. Nun folgte etwas, wo keine Technik mehr helfen konnte, sondern nur noch pure Kraft. Und diese Kraft musste die Assistentin alleine erbringen, weil Sabine Sommer nichts, aber auch gar nichts dazu beitragen konnte. Ihre Spastik ließ eine Mitarbeit einfach nicht zu.

Das, was ihr früher immer viele Komplimente eingebracht hatte - nämlich Beine bis zum Himmel zu haben - war jetzt von Nachteil für sie. Damit sie im angewinkelten Pflegebett nicht zu sehr auf dem Steißbein zum Sitzen kam, mussten ihre Assistenzkräfte sie fest unter den Achseln fassen und so weit oben im Bett platzieren, dass ihr Kopf fast die Bettkante berührte. Nur so konnte sie die nächsten Stunden im Bett sitzend verbringen, um die Zeit mit der bunten Welt des Fernsehens zu verbringen. Abends war sie oft früh müde und zog sich deshalb meist schon ab 19 Uhr ins Bett zurück. Schlafen konnte sie aber selten vor Mitternacht. Und wer beinah fünf Stunden fast regungslos in seinem Bett sitzend verbringen musste, der musste einfach in eine perfekte Position gebracht werden, um Druckstellen als Pflegefehler zu vermeiden.

»Liegst du gut so? Oder soll ich noch etwas an der Position der Beine verändern?« Karin Breit strich die Bettdecke glatt, zog das Bettgitter hoch und legte die Bedieneinheit für das verstellbare Bett bereit.

»Nein, ich denke, dass es so gut ist. Das Kissen ist nur etwas tief unter die rechte Schulter gerutscht. Wenn du es bitte noch etwas hochziehen könntest, bevor du gehst.«

»Mach ich.« Mit einem geübten Handgriff zog Karin Breit das Kissen zurecht. Dann schob sie den Lifter neben das Regal und schob dafür den Krankenhausnachttisch an das unterfahrbare Bett. Auf der Ablage lag das Festnetztelefon, das Mobiltelefon, ein Thermobecher mit Trinkhalm, die Fernbedienungen für das Fernsehen und die Lichtsteuerung, eine Uhr und in einer kleinen Schale eine Tablette. »Brauchst du noch etwas?«, fragte Karin Breit.

»Nein, danke. Du kannst gehen. Wir sehen uns dann morgen früh. Mach dir noch einen schönen Abend.«

»Danke«, antwortete Karin Breit mit einem Lächeln. Sie drehte sich wortlos um, verließ das Schlafzimmer und wenige Minuten später Sabine Sommers Wohnung. Es war das erste, was die Assistenzkräfte, die die Nachmittagschichten übernahmen, lernen mussten. Lernen, dass sie nach dem Danke nichts weiteres mehr zur Chefin sagten. Niemals, weil sie danach nichts mehr hören wollte. Beim ersten Mal hatte Karin Breit ihrer Chefin ebenfalls einen schönen Abend gewünscht. Doch diesen Fehler machten alle nur ein einziges Mal. Mit mehr als deutlichen Worten machte Sabine Sommer nämlich jedem klar, dass es für sie keine schönen Abende mehr gab und auch keine mehr geben würde. Deshalb brauchte man ihr auch nicht mehr einen schönen Abend wünschen, sondern einfach nur schweigend gehen - und sie alleine bis zum nächsten Morgen lassen.

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