Читать книгу MINDERWERTIG - Frank Muller - Страница 4
Kapitel 3
Оглавление»Da haben wir ihn ja wieder, diesen vielsagenden Blick der früheren Kommissarin.« Langsam schob Karin Breit ihre Chefin mit dem kombinierten Dusch- und Toilettenstuhl vom Waschbecken weg. Erst jetzt trafen sich ihre Blicke über dem Spiegel. Die Chefin mochte es, wenn sie vor dem Duschen die Zähne geputzt bekam. Dann fühlte sie sich noch sauberer, dann war gefühlt alles perfekt, soweit das überhaupt noch möglich war.
Als Karin Breit den Stuhl in Richtung der bodengleichen weißgekachelten Dusche bewegte, verloren sie den Blickkontakt. »Was ist los mit dir, Sabine?«, fragte die Assistentin. »Seit ich hier bin, bist du so nachdenklich.«
Vor sechs Jahren noch hätte Sabine Sommer einfach ihren Kopf zu demjenigen gedreht, der sie von hinten ansprach. Aber heute ist halt nicht vor sechs Jahren, ging es ihr durch den Kopf. Sie wartete mit einer Antwort, bis sie auf ihrem Gefährt in der Mitte der Dusche von Karin Breit geparkt worden war. Jetzt konnten sich beide in die Augen sehen. Die eine blickte angezogen hinab und die andere blickte nackt hinauf.
Während Karin Breit die Dusche anstellte und die Wassertemperatur prüfend eine Hand unter den Wasserstrahl hielt, sagte Sabine Sommer nachdenklich: »Bevor deine Schicht heute anfing, hatte ich wieder Besuch von Sieglinde Meyer.«
»Die von schräg gegenüber?«, fragte die Assistentin, die offenbar mit der eingestellten Temperatur des Wassers zufrieden war.
»Ja, genau die. Sie war ja gestern schon da gewesen, wie du weißt.« Es entstand eine kurze Pause, weil die Assistentin den Duschkopf in die Hand genommen hatte und das Wasser über Sabine Sommers linke Hand laufen ließ. An dieser Hautpartie konnte sie am besten die Temperatur des Wassers fühlen. Im Gegensatz zu den Beinen, wo sie nicht wirklich sagen konnte, ob das Wasser zum Duschen eine angenehme Temperatur hat, oder eben nicht. Mit einem kurzen Nicken gab sie ihrer Assistentin ein Zeichen, dass das Duschen jetzt starten konnte. Von den Füßen aufwärts begann die Assistentin in weichen Spiralbewegungen den Duschkopf so zu bewegen, dass nicht nur überall Wasser hinkam, sondern dass es auch wie eine leichte Massage wirkte. Sabine Sommer folgte den Bewegungen des Duschkopfes mit ihrem Blick. »Die arme Frau ist nervlich am Ende. Restlos! Ihre Tochter Melissa ist verschwunden. Und das im achten oder neunten Schwangerschaftsmonat.«
»Ach du liebes bisschen«, sagte Karin Breit erschrocken, während sie das Wasser nun über das kräftige schulterlange, braune Haar ihrer Chefin laufen ließ.
Sabine Sommer hatte ihre Augen geschlossen, als sie mit ihrem Bericht fortfuhr. »Eine Frau von Anfang dreißig, die sich auf ihr erstes Kind freut, verschwindet nicht einfach. Da muss etwas passiert sein. Ich habe deshalb mit Kollegen von früher telefoniert.«
Karin Breit nickte nachdenklich, während sie den Duschkopf wieder in die Wandhalterung hing. Danach ergriff sie routiniert das Shampoo, ließ etwas davon in ihre Hand fließen und begann damit, die Haare ihrer Chefin zu waschen. Karin Breit hatte sich dazu neben Sabine Sommer gestellt und verteilte das Shampoo mit massierenden Bewegungen in das Haar. Sabine Sommers entspannter Gesichtsausdruck verriet, wie sehr sie diesen Teil des Duschens liebte. Ihr restlicher Körper zeigte nichts von dem Gefühl, das Sabine Sommer gerade durchfloss. Er war durch die spastischen Lähmungen so gezeichnet, wie er es durch die Krankheit bereits seit Jahren war.
Karin Breit wusste, wie sehr ihre Chefin diesen Teil der Grundpflege genoss und schwieg. Genau wie Sabine Sommer, in der ein paar Erinnerungsbilder aus der Zeit aufstiegen, als sie sich noch selbst waschen und pflegen konnte. Mit sehr viel Mühe, aber immerhin noch selbst. Lange Zeit hatte sie sich dagegen gewehrt, sich waschen zu lassen. Hatte den Schritt dorthin immer abgewehrt. Irgendwann brauchte sie morgens vier bis fünf Stunden, bis sie fertig war. Verdammte Multiple Sklerose, ging es ihr durch den Kopf. Sich das erste Mal von einem Fremden waschen zu lassen, war furchtbar gewesen. In ihrer Erinnerung war sie weiterhin die selbstbewusste und erfolgreiche Kommissarin, die viele ihrer Altersgenossen auf der Karriereleiter zurückgelassen hatte. Bis sie mit Ende zwanzig die Diagnose erhalten hatte. Ihr Denken und Fühlen würden sich niemals ändern. Doch der Körper tat es rasant. Als schließlich auch der rechte Arm und die rechte Hand immer wieder verkrampften, ging körperlich kaum noch etwas. Noch gestern hatte sie es unter Aufbringung aller Konzentration geschafft, eine Verkrampfung selbständig zu lösen, aber es hatte sich schon früh gezeigt, dass behutsame Hilfe einer Assistentin schneller wirkte. Sie musste damals unter Tränen akzeptieren, dass fremde Menschen sie waschen. Ihr wegen der Inkontinenz Einlagen und Windeln wechseln, ihr das Essen mundgerecht zubereiten, bei fast allem, was einmal eine Selbstverständlichkeit im Sein des selbstbestimmten Lebens war. Selbst bestimmen konnte sie immer noch, aber zur Ausführung ihres Willens brauchte sie Assistenten. Niemals, so hatte sie sich während des aggressiven Krankheitsverlaufes schon zu anfangs geschworen, würde sie sich in ein Pflegeheim abschieben lassen. Mit Mitte dreißig zwischen Senioren das Leben verbringen und über Jahrzehnte zu verbringen, war ihr ein Graus gewesen. Ihre Lebenserwartung würde nahezu normal sein. Also würde es auch ausreichen, wenn sie jenseits der 60 Jahre über ein Pflegeheim nachdenken würde. Ihr Kopf war voller Leben, voller Neugierde, voller Wissen und voller Tatendrang. Deshalb hatte sie sich für das Persönliche Budget und gegen die Fürsorge entschieden. Mit eigenen Assistenten, die sie als Arbeitgeberin mit der Finanzierung verschiedener sozialer Träger angestellt hatte, konnte sie selbstbestimmt leben. Bis zu 14 Stunden am Tag standen ihr Assistenzkräfte zur Verfügung. Und Karin Breit war ihr die liebste von allen. Im Laufe der Zeit war zwischen Chefin und Angestellter tiefe Freundschaft erwachsen.
Als die Haare ausgespült waren, öffnete Sabine Sommer wieder ihre Augen. Sofort nutzte Karin Breit die Gelegenheit, um eine Frage zu stellen, die ihr die ganze Zeit schon auf der Zunge lag: »Warum kam sie zu dir mit diesem Problem? Warum geht sie nicht zur Polizei?«
»Da war sie schon«, antwortete Sabine Sommer ruhig. »Nach eigenen Angaben mindestens zehnmal am Tag. Doch Antworten oder Hinweise blieben bisher aus.«
»Wie furchtbar! Die arme Frau.«
»Ja, sie ist nervlich völlig am Boden. Zu mir kam sie, weil ich einem Cousin von ihr mal richtig aus der Patsche helfen konnte. Alle Beweise sprachen damals gegen ihn. Nur dadurch, dass ich jedes Steinchen umdrehte, fand ich die Wahrheit heraus. Man hatte versucht, den Cousin aufs Kreuz zu legen. Für die Familie war ich im Anschluss so etwas wie eine Heilige.«
Beide lachten auf.
»Ich muss jetzt der Heiligen die Achselhöhlen waschen. Bist du bereit?«
Sabine Sommer nickte. So entspannend das Duschen bis zu diesem Zeitpunkt auch war, jetzt wurde es irgendwie Arbeit. Da die Spastik ihre Arme und Hände in einer Verkrampfung hielt, musste die waschende Assistenzkraft einiges Geschick und auch Kraft aufwenden, um mit dem Waschhandschuh unter die Achseln zu kommen. Um sich und Karin Breit davon etwas abzulenken, berichtete sie weiter. »Die Mutter von Melissa Meyer hat einen Karton mit Unterlagen gebracht. Neben Fotos gibt es einen Lebenslauf, eine Liste mit Namen von allen Leuten, die je enger etwas mit Melissa zu tun hatten und auch einige Krankenunterlagen. Sie hat mir heute Morgen alles vorgelesen.«
»Krankenunterlagen? Was hat sie denn?« Karin Breit drehte sich zum Waschbecken und wusch den Waschhandschuh unter dem Wasserhahn aus.
»Nichts mehr, so hofft es die Mutter zumindest. In ihrer Jugend litt Melissa Meyer wohl unter Panikattacken als posttraumatische Belastungsreaktion nachdem sie Opfer eines Überfalls geworden war. Sie ging wohl einige Zeit zu einer Therapeutin. Falls Melissa seelisch aus dem Gleichgewicht gekommen ist, hat sie sich eventuell an ihre alte Therapeutin gewendet. Wegen der ärztlichen Schweigepflicht kommt die Mutter aber hier nicht weiter.« Als sie sah, wie Karin Breit erneut Seife auf den Waschhandschuh verteilte, verstummte sie. Ihr Schweigen, genau wie das der Assistentin, gehörten ab diesem Moment einfach dazu, weil ihr jedes Mal dabei bewusst wurde, dass fremde, wenn auch vertraut gewordene und lieb gewonnene Personen bei der Grundpflege in Bereiche vordringen mussten, die man sonst lieber für sich behalten hätte. Dabei tröstete es sie immer, dass auch die Assistentinnen diesen Part der Pflege sicher nicht als den einfachsten und beglückendsten empfanden. So sehr sie diese Abhängigkeit und Nähe immer gefürchtet hatte, umso erleichterter war sie, mit welch professioneller Distanz die Grund- und Intimpflege nach eigenen Wünschen wie selbstverständlich und ganz natürlich abgearbeitet wurde, annähernd so, als hätte man es selbst getan. Lieber bin ich sauber und gepflegt als genant, sagte sie sich immer wieder dabei. Als Karin Breit begann, den Waschlappen wieder auszuwaschen, atmete Sabine Sommer tief durch. Gleich würde das Duschen wieder zu einem entspannenden Tageselement werden, weil gleich nur noch warmes Wasser über sie floss. Auf wundervolle Weise spürte sie dabei überall ihre Haut. Auch dort, wo sie sie selbst nicht mehr berühren konnte. Der warme Wasserstrahl traf sie am Rücken. Schweigend genoss sie das Wasser, das sie sanft umhüllte. Dann wurde ihr Blick wieder nachdenklich.
»Das Eigentümlichste an dem ganzen Fall ist aber, dass die Mutter keine Ahnung hat, wer Melissa geschwängert hat. Stell dir vor, die Mutter wurde mit nur einer einzigen SMS darüber aufgeklärt, dass Melissa schwanger ist. Keinen einzigen Besuch gab es danach mehr. Einmal im Monat nur ein kurzes Telefonat, dass mehr Sorgen hinterließ als Erkenntnisse darüber brachte, wie es der werdenden Mutter und dem noch ungeborenen neuen Leben überhaupt geht. Sie sieht in dem geheimnisvollen Mann den Grund für alles. Melissa und ihre Mutter waren immer eng verbunden gewesen, besonders nach dem Tod von Melissas Vater. Da waren aus Mutter und Tochter fast so etwas wie Freundinnen geworden. Die vergangenen neun Monate waren die Hölle für die Frau. Fragte sie am Telefon nach dem Mann oder Melissas Aufenthaltsort, wurde das Gespräch jedes Mal sofort unterbrochen. Die arme Frau weiß nur, dass es für Melissa die Liebe auf den ersten Blick war und in einem Kölner Hotel begann.« Sabine Sommer schloss noch einmal die Augen, um sich ganz auf das fließende Wasser auf ihrer Haut zu konzentrieren.
In weichen Bahnen ließ Karin Breit das Wasser nach und nach über den Körper ihrer Chefin fließen. »Das passt ja irgendwie gar nicht zusammen«, bemerkte sie mit kritischer Miene an. »Wenn ich die Liebe meines Lebens finde und ein Kind von ihm erwarte, dann würde ich seinen Namen sogar herausschreien.«
»Ja, das sieht wohl jeder so.« Als Sabine Sommer ihre Augen wieder öffnete, war ihr deutlich anzusehen, dass sie mit dem Duschen gedanklich abgeschlossen hatte. Den Blick, den sie zeigte, kannten frühere Kollegen von ihr sehr gut. Sie hatte ihn immer dann gezeigt, wenn sie Feuer gefangen hatte und die Wahrheit ans Licht bringen wollte - um jeden Preis.
»Wenn die nur einmal im Monat miteinander telefoniert haben, warum glaubt Melissas Mutter ausgerechnet jetzt, dass ihre Tochter verschwunden ist?«, fragte Karin Breit mehr sich selbst, als sie die Brause abstellte.
»Melissa hatte beim letzten Anruf vor einer Woche panisch geklungen, redete wirres Zeug von Monstern - und dass sie auf der Flucht sei, aber nicht zur Mutter kommen könne, weil sie sie bestimmt schon observieren würden.«
»Von Monstern verfolgt?« Verwirrt breitete Karin Breit das gefaltete Handtuch aus. Wie alles in dem Bad, so war auch dieses Accessoire weiß.
»Ich kann mir auf das alles auch noch keinen Reim machen.«