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Kapitel 4

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Wie sich auch immer dieser Albtraum, in dem ich stecke, entwickeln wird, zu Beginn, war alles traumhaft. Ich lernte den Mann meines Lebens kennen, dachte ich zumindest eine ganze Zeit lang. Es war eigentlich kein Kennenlernen, Mutti, sondern ein Hineinstürzen. Ich hielt es für eine Fügung des Schicksals, für meine Bestimmung. Du weißt doch sicherlich noch, wie ich wegen des Rohrschadens in meiner Wohnung für ein paar Tage ins Hotel gezogen war. Das Bett war so ungewohnt, dass ich nachts keine Ruhe fand. Um meine Wachstunden sinnvoll zu füllen, besorgte ich mir zum Lesen einige Zeitschriften, die an der Rezeption des Hotels auslagen. Eigentlich hatte mich das Thema des Artikels, der kurze Zeit später mein Leben verändern sollte, gar nicht sonderlich interessiert. Deshalb las ich ihn auch. Mir sollte davon langweilig werden. So langweilig, bis mir endlich die Augen zufallen würden. In dem Artikel ging es um gentechnische Experimente an Tieren. Ursprünglich hatte ich ja die Hoffnung gehabt, dass dieser wissenschaftliche Artikel mich ermüden würde, aber das Gegenteil war der Fall. Nicht weil er so sonderlich interessant war, sondern weil im Anschluss des Artikels noch ein Interview mit einem Gentechniker gebracht wurde. Das Foto dieses Mannes versetzte mich für einige Minuten in euphorische Teenagerphasen zurück. Mutter, das Bild zeigte meinen Traummann! Groß, schlank, dunkelhaarig, einen sinnlichen Mund und dunkelbraune Augen. Als Beilage war er auch noch äußerst erfolgreich, ohne Familie, vermögend und, wie das Interview vermittelte, ein Weltverbesserer. In diesem Interview ging es um die ethische Verantwortlichkeit von genetischen Experimenten. Zunächst bezog er eine deutlich ablehnende Haltung gegenüber so genannten Chimären. Das sind Lebewesen, die aus Zellen zweier verschiedener Arten bestehen. Für Aufsehen hatte wohl schon vor Urzeiten die Schiege gesorgt, eine Züchtung aus einer Ziege und einem Schaf. In freier Natur hatte die Schiege allerdings keine Überlebenschance, da ihre Körperproportionen unausgeglichen waren und ihr Organismus äußert empfindlich war. Dr. Peter Barlow, so der Name meines Traummannes, hielt nichts von Experimenten, bei denen es um die Vermischung von Arten geht. Seine Zustimmung bekamen jedoch alle Bemühungen der Gentechnik, die mit der Produktion von Medikamenten zusammenhängen. Als Beispiel gab er Kolibakterien an, die einem Menschen-Gen für die Produktion von Insulin eingebaut wurden. Als ich morgens aufwachte, hatte ich die Zeitschrift mit dem Bild meines Peters immer noch in der Hand.

Es war Fügung, Mutti, mein unabwendbares Schicksal. Mir kam es gar nicht in den Sinn, dass ein Stapel dieser Zeitschrift nur deshalb vom Hotel ausgelegt worden war, weil er Gast im Hotel und auch die Hauptperson des Symposiums war. Wie dem auch sei, Mutti, als ich morgens durch die Hotellobby schritt, kam er mir entgegen. Ein US-Spitzenforscher ist mein Traummann und er ist im gleichen Hotel wie ich, wegen eines Symposiums! So etwas kann nur Schicksal sein. Er telefonierte während des Gehens mit seinem Handy. Irgendetwas schien ihn zu verärgern, denn er blieb abrupt stehen. Ich blieb peinlicher Weise auch stehen - direkt neben ihm. Ich will gar nicht wissen, wie ich ihn angestarrt habe. Wie ein total verknallter Teenager wahrscheinlich. Ich war schlagartig in seinem Bann. Leibhaftig und noch attraktiver, als es das Foto vermittelt hatte. Mein Herz schlug bis zum Hals. Mein Blick, oder vielmehr mein Anstarren, schien ihn von seinem Ärger abzulenken. »Darf ich ein Autogramm haben?«, fragte ich ihn allen Ernstes auf Englisch. In mir steigt immer noch die Schamesröte auf, wenn ich daran zurückdenke.

»Nein«, sagte er in ausgezeichnetem Deutsch, dem man nur schwach den amerikanischen Akzent anhörte »aber ein gemeinsames Abendessen kann ich Ihnen anbieten.«

Oh Gott, Mutti! Ich kann mich an das erste Gespräch abends im Hotelrestaurant mit Peter so gut erinnern, als hätte es gerade erst stattgefunden. Er hatte eine Packung Pralinen dabei. Sie waren nicht für mich. Ich habe nie gefragt, woher er sie hatte. Seltsam, dass mir dieses Detail auf einmal in den Sinn kommt! In einem Anflug von Übermut fragte ich in Bezug auf die Pralinen jedenfalls: »Gentechnisch entwickelt?«

»Die nicht«, hatte er lässig geantwortet. »Das ist bei diesen Pralinen nicht nötig. Sie sind auch ohne Gentechnik einfach perfekt. Deshalb forsche ich in Sachen Menschen. Man kann sagen, dass ich an der Vervollkommnung des Menschen arbeite.«

»Welch noble Absicht, Peter«, gab ich mit kritischem Unterton zurück. »Ist der Antrieb dafür in einer noblen Gesinnung oder durch den häufigen Verzehr nobler Pralinen zu suchen?«

Wieder lachte er. Das schönste Lachen, das ich je bei einem Mann gesehen habe. Und dann sein Blick! Es war eindeutig. Ich war auf der Gewinnerstraße hin zu seinem Herzen. Jetzt musste ich nur noch eine Kostprobe meiner Intelligenz einbringen, und er würde mir verfallen, genau wie ich ihm schon verfallen war.

Ich gab mich ihm als Journalistin zu erkennen, und bat darum, dass ich unser Gespräch über das Gen-Thema aufzeichnen dürfte. Ich habe dir einen Ausschnitt kopiert. So kannst du auch mal Peters Stimme hören. Um meine Professionalität zu unterstreichen, ging ich ziemlich aggressiv bei meinen Fragen vor. Jetzt kommt es, Mutti. Du hast dir doch immer gewünscht, mich mal bei der Arbeit zu erleben. Es tut mir so unendlich leid, dass es jetzt auf diese Weise geschieht.

»Gentechnische Experimente lösen bei mir immer einen bitteren Beigeschmack aus!«

»Zu Recht! Um ein Horrorgebilde zu produzieren, braucht man noch nicht einmal viel Fantasie. Melissa – im Übrigen ist das ein sehr schöner Name –, du brauchst nur ein Buch über Veterinärmedizin zur Hand zu nehmen und ersetzt überall das Wort Tier durch das Wort Mensch und hast einen Albtraum vor dir liegen. Im Prinzip ist es nämlich möglich, jede menschliche Eigenschaft auf ein Tier zu übertragen und umgekehrt. Wenn wir diesen Weg allerdings gehen, dann kommen wir zwangsläufig an den Punkt, wo wir neu definieren müssen, was ein Mensch ist.«

»Peter, so erschreckend diese Vorstellung ist, so erschreckend ist auch die Vorstellung, an der Vervollkommnung des Menschen zu arbeiten.«

»Ich verstehe deine Reaktion. Du bist Deutsche. Aufgrund der Vergangenheit deines Landes sind für dich natürlich Begriffe wie vollkommene Menschenrasse und alles, was damit assoziiert wird, absolut verpönt …«

»Es mag sein, dass dies mit ein Grund für meine Ablehnung ist, aber abgesehen von meinem Deutschsein bin ich auch noch im christlichen Glauben erzogen worden. An der Vervollkommnung des Menschen zu arbeiten, hat für mich auch etwas Blasphemisches an sich.«

»Was ich völlig verstehen kann, Melissa, aber deine Ablehnung entsteht nur deshalb, weil du befürchtest, ich würde Eingriffe im Menschen vornehmen, die sein typisches Menschsein und seine Individualität gentechnisch verändern oder sogar zu Fall bringen könnten. Daran bin ich aber in keiner Weise interessiert. In erster Linie interessiert mich der Mensch und sein komplexes Verhalten. Ich selbst bin stark im göttlichen Glauben verankert. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass der Mensch, und da bietet sich die Gentechnik an, neue Kontrollmechanismen braucht …«

»Kontrollmechanismen?«

»Genau! Schau, Melissa, schon der griechische Philosoph Platon erkannte, dass durch Belehrung allein nie aus einem bösen Menschen ein guter wird. Dennoch sind viele Menschen überzeugt davon, dass alles lösbar, weil erklärbar und somit therapierbar ist. Verzweiflung genauso wie Vandalismus, oder Überbevölkerung oder wenn aus kleinen Kindern bestialische Mörder werden. Ich jedoch bin davon überzeugt, dass diese Therapiegläubigkeit nur neue Probleme schafft, da das Böse durch soziale Maßnahmen nicht erkannt und auch nicht abgeschafft werden kann. Beide großen Kirchen stecken voll solcher therapiesüchtiger Sozialarbeiter und werden sich dadurch noch selbst zerstören, weil sie das Böse durch ihre Therapiewut nicht erkennen können. Das Böse steckt nämlich in uns allen und hat auch ein Recht darauf, im gewissen Rahmen ausgelebt zu werden. Das Böse ist dem Menschen angeboren. Was dem Menschen jedoch nicht angeboren ist, ist die Fähigkeit, klar zu unterscheiden zwischen dem Bösen, was nützlich für das Überleben ist, und dem Bösen, was schädlich für das Leben ist.«

»Und was verstehst du unter böse?«

»Es geht nicht so sehr darum, was man unter Böse versteht, es geht vielmehr darum, dass man es versteht und akzeptiert, dass das Böse in uns allen ist und wir alle in der Lage sind, Böses zu tun. Es geht darum, dass wir lernen, damit umzugehen. Sozialtherapeuten wissen schon seit über 50 Jahren, dass glückliche sexuelle Beziehungen immer auch ein Stück aggressiv sind. Das bedeutet, dass auch in der Liebe dem Bösen ein Stück Raum gegeben werden muss, um vollkommen zu sein. Nur – und das will ich hier betonen – es muss in festgelegten Bahnen verlaufen. Nicht der therapeutische Wahn muss für die Zukunft unser Ziel sein, um das Böse auf der Welt in den Griff zu bekommen. Und das ist bis zum heutigen Tage nicht gelungen. Du musst dir ja nur einmal die Nachrichten anhören. Das Gegenteil ist der Fall. Der Horror, der überall entstanden ist, wurde in bestimmte Rituale verpackt. Das alles zeigt uns, dass wir dem Bösen einen Rahmen geben müssen. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass es – im Rahmen – grausame Feste geben muss. Allerdings bin ich überzeugt davon, dass es nicht gelingen wird, den Menschen mit all dem Bösen in diese kontrollierten Rituale eingrenzen zu können. Und genau das ist der Punkt, warum ich an der Vervollkommnung des Menschen arbeite. Ich akzeptiere den Menschen mit all seinen Verhaltenskomplexen. Da er aber, und das hat die Vergangenheit oft genug bewiesen, sich nicht selbst kontrollieren kann und alle gesellschaftlichen Versuche gescheitert sind, dies für ihn zu übernehmen, muss der Mensch über die Gentechnik eine solche Kontrollinstanz bekommen. Ohne – und das will ich wieder betonen – ohne seine Individualität und seinen freien Willen zu zerstören.«

»So eine Art gentechnisch erschaffenes machtvolles Über-Ich?«

»So ungefähr, Melissa. Ich will ein wirklich funktionierendes Gewissen mit einem festen organischen Platz im menschlichen Gehirn.«

Mutter, es folgte wenig später die leidenschaftlichste Liebesnacht meines Lebens. Es war völlig anders, als mit den bisherigen Männern. Ich habe dir nie von meinen sexuellen Erlebnissen berichtet, aber um zu verstehen, warum sich mein Leben durch diesen Mann so verändert hat, musst du auch davon wissen.

Keine Angst, Mutti, ich habe nicht vor, dir zu erzählen, wie zärtlich er war oder wie geschmeidig und rhythmisch er seinen Körper bewegte. Nein, wovon ich dir erzählen muss, sind seine Augen, während wir uns liebten. Er verlange, dass ich die Augen immer geöffnet haben sollte. Auf keinen Fall, so beschwor er mich, dürfte ich sie schließen. Egal, was passieren würde, die Augen sollten offen bleiben. Mutti, ich schwöre dir, dass Peter in meine Seele geblickt hat. Es war, als besäße er die Macht, alle in mir ruhenden Sehnsüchte wachzurufen und sie an die Oberfläche zu holen. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Lachen und Weinen wechselten sich genauso ab wie starke Empfindungen der Abhängigkeit und übermäßiges egoistisches Verlangen. Ich weiß, dass ich in dieser Nacht süchtig nach Peter wurde. Als ich mittags aufwachte, lag er auf dem Bauch schlafend neben mir. Sein Rücken war gekennzeichnet von tiefen Kratzspuren, die ich ihm mit meinen Fingernägeln beigebracht hatte. Als ich mich mit meinem Mund …“

Schrilles Klingeln unterbrach die Aufzeichnung. Der Abhörer stöhnte genervt auf. Er setzte den Kopfhörer ab und griff zum Mobiltelefon. Nach einem kurzen Schnippen mit den Fingern gegen das Display hörte er konzentriert zu. Seine freie Hand tastete nach der Zigarettenpackung. »Zu Frage Nummer eins: Ich komme gut voran. Zu Frage Nummer zwei: Ich bin noch nicht bei ihrer Flucht angekommen. Sie hat gerade erst den ersten Fick mit Peter hinter sich gebracht. Ich melde mich schon bei dir, wenn ich etwas für dich habe. Und noch eins: Besorg mir für morgen eine Frau!« Langsam zog er eine Zigarette aus der Schachtel. »Nein! Es ist mir scheißegal, wie die Frau aussieht. Hauptsache, es ist eine. Erledige es nur!« Genervt schaltete er das Mobiltelefon aus.

Und wie scheißegal es mir ist, wie die Frau aussieht, dachte er, bevor er alle Abhör-Geräte abschaltete. Er hatte für heute genug gehört. Jetzt galt es, das Gehörte tief in seinem Inneren immer und immer wieder aufzurufen, um Dinge zu entdecken, die außer ihm kaum jemand wahrnehmen konnte.

MINDERWERTIG

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