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Kapitel 8

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Er unternahm noch nicht einmal den Versuch, sich vorzustellen, wie die Frau aussehen könnte, die sich für 100 Euro bereitwillig an diesem Morgen von ihm ficken ließ. Von Geburt an fehlten ihm die Pupillen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sehen bedeutete. In seiner Kindheit hatten verschiedene Personen versucht, seinen Tastsinn zu schulen, damit er über seine Hände eine Vorstellung über die Inhalte dieser Welt bekäme. Vergebens! Es widerte ihn an, immer und immer wieder festzustellen, dass es überall Dinge gab, die erst durch seine Berührungen Existenz erlangten und ansonsten unerreichbar in einer Art verwestem Aggregatzustand irgendwo in Raum und Zeit ihren Sinn entsprechend schwebten. Der Griff um den Nacken der vor ihm knienden Frau wurde fester. Er hatte ihr verboten, Laute von sich zu geben. Das Einzige, was er hören wollte, war sein Atmen, das Einzige, was er spüren wollte, war sein Schwanz, den er in heftigen rhythmischen Stößen in die Frau trieb. Seine rechte Hand stütze sich auf dem Po der Frau auf. Ohne erkennbares Anzeichen erreichte er seinen Orgasmus. Er zog sich sofort danach von der Frau zurück und schloss seine Hose. »Los, hau ab!«, war alles, was er zu ihr sagte. Er hörte, wie sie an ihrem Rock zog, auf die Tür zuging und diese dann leise hinter ihr geschlossen wurde. Er wusste, dass der Aufräumer ihnen zugesehen hatte. Gleichgültig nahm er wieder auf seinem Arbeitsstuhl Platz, zündete sich eine Zigarette an und drückte die Play-Taste:

… seiner Stirn näherte, erwachte Peter und lächelte mich an. Mutti, ich war …

Der Abhörer stoppte das Band und ließ es für zwei Sekunden zurücklaufen. Dann drückte er erneut den Startknopf.

Als ich mich mit meinem Mund seiner Stirn näherte, erwachte Peter und lächelte mich an. Mutti, ich war der glücklichste Mensch dieser Erde. Alles kam mir so vertraut vor. Jeder Blick, jede Berührung, jedes Wort, jedes Lächeln, alles schien einfach nur richtig zu sein. Er überredete mich, dass ich ein paar Tage Urlaub nehmen sollte und er würde mich an einen ganz wundervollen Ort entführen. Das Chaos in meiner Wohnung gab mir das perfekte Argument, um meinen Kurzurlaub in der Redaktion durchzusetzen. Mittags war alles gepackt, und wir fuhren in seinem Wagen von Köln in die Eifel - in die tiefste Eifel. Ich löste keine Sekunde meinen Blick von ihm. Wo wir später genau landeten, weiß ich bis heute nicht. Ich fühlte mich in dem Bungalow direkt wie zu Hause, obwohl es nicht nach meinem Geschmack und nicht nach meinem Ordnungssinn eingerichtet war. Die Küche zum Beispiel: Eine Küche muss für mich gemütlich und warm wirken, möglichst mit viel Holz ausgekleidet. Genau wie bei dir. Seine Küche wirkte futuristisch. Alle Schränke und Arbeitslatten waren aus verchromtem Stahl, gestaltet von Designerhänden. Genau wie der überwiegende Teil der Küchengeräte: Toaster, Saftpressen, Flaschenöffner, Deckenleuchter, sogar die Pflanzenkübel waren verchromt. Mutti, an diesem Mittag habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Hemd für einen Mann gebügelt! Peter musste noch kurz wegfahren und etwas erledigen. Mutti, ich erkannte mich selbst nicht mehr. Kaum war Peter aus dem Haus verschwunden, inspizierte ich alles, was mir in die Hände fiel. Nie zuvor hatte ich mich so meiner Neugier ergeben und die Privatsphäre eines Menschen verletzt. Aber dieses Mal warf ich alle Prinzipien über Bord. Ich durchsuchte sogar alle Kartons. Alles wollte ich über Peter in Erfahrung bringen. Abends kuschelte ich dann mit Peter und fragte ihn die sprichwörtlichen Löcher in den Bauch. Es wurde ein trauriges, aber auch wertvolles Gespräch. Peter hatte als kleiner Junge seine Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren. Beide Elternteile! Und mich hat es schon völlig aus der Bahn geworfen, Papa auf die gleiche Weise zu verlieren. Das Gespräch mit Peter wurde für mich wie ein psychologischer Schnellkurs, der in mir viele schmerzhafte Erinnerungen wachrief. Es hat schon seinen Sinn, Mutti, dass im Alten Testament von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies berichtet wird. Peter meinte, dass die Menschheit seit ihrem Beginn mit dem Ende eines Idealzustandes, dem Ende eines paradiesischen Zustandes, umzugehen lernen muss. Dass wir jeden Augenblick mit der Vertreibung aus unseren kleinen, meist selbst erschaffenen Paradiesen rechnen müssen. Und die Liebe in unserer Familie war ein solcher Idealzustand. Papa starb, und wir wurden aus unserem kleinen Paradies vertrieben. Ohne jede Hoffnung. Papas Tod ließ damals keinen Raum für Hoffnung, weil der Tod nun mal keinen Platz für Hoffnung lässt. Der geliebte Mensch ist nicht mehr wiederzubringen, anders als bei den zahlreichen Trennungsschmerzen, die ich im Leben wegen der Liebe erleiden musste. Bei ihnen hatte ich zumindest die Hoffnung, dass sie wieder zu mir zurückkehren würde. Hoffnung auf eine neue Liebe. Und ich konnte besser verarbeiten, weil ich Wut empfinden und ausleben konnte. Aber was konnte ich nach Papas Tod ausleben? Wut empfand ich auch. Aber ich habe mich nicht getraut, sie auch zu zeigen. Du kannst dich bestimmt an das Bild „Der Schrei“ des norwegischen Malers Edvard Munch erinnern. Du konntest es nie leiden. Hast immer stur an diesem Bild vorbeigeschaut, wenn du in mein Zimmer kamst. Für dich war dieses Bild immer das Sinnbild eines Menschen, der seinen Lebensinhalt verloren hat und nun nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Eines Menschen voller panischer Lebensangst. In dieser Angst bin ich ja dann auch während meiner psychischen Erkrankung eine ganze Weile hängengeblieben. Es war gut, dass ich damals in Therapie ging.

Peter machte mir in dieser Nacht die unterschiedlichen Leidensphasen noch einmal deutlich, und ich habe uns beide auch darin wiedergefunden. Wie wir Papas Tod zunächst nicht wahrhaben wollten. Dann die durchwachten Nächte mit endlosen qualvollen Stunden des Leidens. Aber so war es immer noch besser, als wenn wir unseren Schmerz einfach nur in unseren Seelen einbetoniert hätten. Es war eine grauenhafte Zeit für uns, Mutti. Ich sehe noch die Verwandtschaft vor mir, wie sie immer wieder sagte: Ihr müsst jetzt an euch denken. Es wird alles wieder gut! Es war ja nett gemeint, aber was mich heute noch so wütend macht, wenn ich an diese Sätze denke, ist, dass man als Leidender diese Ratschläge gar nicht hören will. Weil sie verhindern, dass man sich mit seinem eigenen Leid auseinandersetzt. Aber unsere Gesellschaft kann nur mit dem Schönen, dem Glücklichen umgehen, nicht mit dem Verletzten und dem Zerbrochenen. Die dritte Leidensphase bestand ich nicht so gut wie du, Mutti. Fest standest du da. Hast die alltäglichen Anforderungen in Angriff genommen und größtenteils bewältigt. Erst nach der Überwindung meiner Angstneurose, die der Überfall einige Monate vorher ausgelöst hatte, zeigte ich dann die gleiche Stärke. Die vierte Phase, Mutti, hast du allerdings nie bewältigt. Sie ist wohl auch die schwierigste. Du hast es nie wieder geschafft, deine Beziehungsenergie auf einen anderen Mann zu lenken. Stattdessen hast du dich hinter dem Alltag und meiner Erziehung versteckt. Wie seltsam das Leben doch manchmal spielt, Mutti. Kennst du das auch, dass man manchmal glaubt, dass sich Kreise im Leben schließen? Bei dem Bild von Munch ergeht es mir gerade so. Damals brauchte ich es wegen Papas Tod. Ich sah in diesem Druck auch bis vor kurzem einen Menschen, der in Panik schreit. Wie man sich täuschen kann! Stell dir vor Mutti, wir haben das Bild immer falsch interpretiert, weil uns eine wichtige Information fehlte. In einem Tagebucheintrag und anhand einer Bildnotiz konnten Kunstexperten endlich die tatsächliche Intention des Malers aufdecken. Vier Gemälde und eine Lithografie hatte Munch unter dem Titel »Der Schrei« veröffentlicht. Man ist sich jetzt sicher, dass nicht die Person auf dem Bild schreit, sondern dass sie einen lauten Schrei der Natur hört und sich deshalb panisch die Ohren zuhält. In einem Tagebucheintrag von 1892 steht geschrieben, dass Munch mit Freunden die Straße bei blutig rotem Sonnenuntergang entlangging. Müde lehnte sich Munch laut des Eintrags an einen Zaun und fühlte, wie ein langer, unendlicher Schrei durch die Natur ging. Mutti, als ich gestern Abend aus meinem Versteck heraus in Richtung der untergehenden Sonne gesehen habe, war mir für einen kurzen Augenblick auch so, als ob ich einen furchtbaren Schrei der Natur hören könnte. Wenn dem so war, dann schreit die Natur vielleicht deshalb, weil wir als ihre Kinder vom Antlitz der Welt getilgt werden sollen.

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