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02. Dienstag, 24.12.2013 |

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02. Dienstag, 24.12.2013 |

Er ist allein. Schleyer wird später kommen, nach seiner Arbeit, die nach dem Dauerregen der letzten Wochen reichlich gewesen sein wird. Reichlich anderer Leute Hecken schneiden und anderer Leute Laub rechen und all die anderen Arbeiten verrichten, für die andere Leute einen Gärtner bezahlen. Er winkt dem Kellner. Fronzek und Albers hat er ebenfalls herbestellt, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob er sie dabei haben will.

„Ein großes Glas Bier, mit ordentlich Schaum drauf.“

„Flasche oder Hahn?“

„Na Fass, oder hast du schon mal ordentlichen Schaum in der Flasche gesehen?“

„Bei uns wird getrunken, was auf den Tisch kommt.“ Die Mine des Kellners fordert zum Scherzen auf.

„Bei uns?“ Sailors Blick wird hart. „Was heißt das?“

„In Berlin, bei uns in Berlin, wussten Sie das nicht?“

„Da lebt man gefährlich“, weiß Sailor, „pass auf, was du sagst.“

„In Ordnung, jawohl, zu Ihren Diensten.“ Der Kellner deutet eine Verbeugung an und macht sich ans Zapfen. Sailor massiert sich den Nacken. Er hat letzte Nacht einen Zug abbekommen. Er sollte das Fenster abdichten. Und etwas gegen den Schimmel tun, der sich durch das Zimmer frisst. Er spürt die Narbe, die sich vom Daumenballen quer über den Handrücken zieht. Sie hat mit der Kälte, die sie draußen abgekriegt hat, eine violette Färbung angenommen und lässt ihn spüren, was es heißt, vierzig Jahre auf einem Schiff gearbeitet zu haben. Er spreizt die Finger und ballt sie zur Faust. Die Haut strafft sich, und mit ihr die Narbe. Er konzentriert sich auf den Schmerz, der seine Gedanken klar und hart werden lässt. Der Kellner bringt das Bier. Die Sache ist die, dass es zu zweit eng werden wird. Zwei werden sie schon allein für den Fahrerjob brauchen, und noch mindestens einen, der ihnen bei der Übergabe zur Hand geht. Sich auf den Chinesen zu verlassen wäre ein Fehler. Er sieht sich um. Am Ende des Tresens steht eine Handtasche. Eine Frau, denkt Sailor, die auf der Toilette ist oder beim Telefonieren. Er trinkt. Eher beim Telefonieren, überlegt er weiter, auf die Toilette hätte sie wohl die Handtasche mitgenommen. Es ist eine sehr weibliche Handtasche, mit zwei steifen Schlaufen, die im halbkreisförmigen Bogen über der Tasche stehen, und mit einer Stickerei, die das Licht reflektiert. Im Grunde genommen ist jede Handtasche weiblich, denkt Sailor, aber es gibt eben welche, die sind es ganz besonders.

Hinten spielt ein Mann den Flipperautomaten. Er steht mit gespreizten Beinen davor, und wenn er die Knöpfe drückt, dann geht ein Ruck durch seinen Körper. Am Tisch neben dem Fenster liest ein Mann Zeitung. Er hat Weihnachtseinkäufe neben sich auf der Bank stehen. Der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen hat Feuchtigkeit kondensieren lassen, die an dem Fenster haftet. Jemand hat einen Weihnachtsstern in die Feuchtigkeit gemalt. Der Flipperspieler kommt an die Bar, um einen Schein in Münzgeld zu wechseln. „Was für ein Wetter.“ Er deutet mit dem Kinn zur Tür und nimmt die Münzen entgegen. „Und morgen kommt der Temperatursturz.“ Er sieht Sailor auffordernd an. Sailor nickt. Er ist zurück in Berlin. Die Menschen hier wollen Bestätigung. Auf See, da gibt es so etwas nicht. Da gibt es die See, mit allem, was dazugehört, und bei Gott, für was sollte die See eine Bestätigung brauchen?

„Wird wohl so sein, jawohl.“ Und meine Narbe, die wird es mir schon stecken, wenn es so ist, ergänzt Sailor in Gedanken, und vielleicht sollte ich mir Handschuhe zulegen, oder zumindest einen rechten Handschuh. Es ist kalt in der Stadt, und der Herbst geht in den Winter über. Sailor mag den Winter, der in diesem Jahr spät dran ist. Er mag ihn, weil er ihn für eine Jahreszeit hält, in der sich die Spreu vom Weizen trennt. Er mag die Kälte, und er mag es, wenn die Feuchtigkeit an den Fenstern zu Eis erstarrt und die Menschen zu Hause bleiben, weil sie den Winter für ihren Feind halten.

Von der Durchreiche, die den Gastraum mit der Küche verbindet, kommt das Geklapper von Porzellan, das aufeinandergestapelt wird, Besteck, das in den Besteckkasten geworfen wird, die Stimme des Chefkochs, der Anweisungen gibt. Ab 16 Uhr 30 werden Bestellungen entgegengenommen. Die erste Schicht findet heute nicht statt, und die zweite ist bereits seit 14 Uhr 30 zugange. Die meisten Tische sind reserviert. Es ist 15 Uhr 30. Der Mann am Flipperautomaten wirft eine Münze nach. Der Mann am Fenstertisch legt die Zeitung weg. Die Eingangstür öffnet sich, und eine Frau kommt herein. Sie geht an die Bar und lässt ihr Handy in der Handtasche verschwinden.

Die Frau gefällt ihm. Er nimmt sein Bier und den Filzdeckel, geht zu ihr und stellt fest, dass es eher ein Mädchen als eine Frau ist. Neben dem Barhocker, auf dem sie sitzt, steht ein weiterer, freier Barhocker. Er will sich erst setzen, bleibt dann aber stehen. Er fühlt sich sicherer, wenn er steht. Sie gefällt ihm sehr, auch wenn er nicht genau sagen kann, was es ist, was ihm an ihr gefällt. Er stellt sein Glas ab. „Tolle Handtasche, Sie gefallen mir.“ Sie zeigt keine Reaktion. „Sie gefallen mir sehr.“ Er setzt sich auf den freien Barhocker. „Ich will mit Ihnen schlafen.“ Er glaubt zu erkennen, dass sie zusammenzuckt. „Mein Weihnachtsgeschenk, wenn Sie so wollen.“ Er spürt keine Angst. Die würde er spüren. Er kennt die Angst, in all ihren Variationen. Er winkt dem Kellner und bestellt einen Bloody Mary. „Mit Eis, Herr Wirt, denn ohne Eis ist ein Bloody Mary nichts wert.“ Er wendet sich an die Frau. „Sie mögen Bloody Mary?“ Sie antwortet nicht. „Ich kenne keine Frau, die Bloody Mary nicht mag, wenn er nur mit genug Eis zubereitet wird.“ Der Kellner stellt den Drink hin. Sailors Blick umfasst das Lokal. „Was macht eine Frau wie Sie am Heiligabend an einem Ort wie diesem?“

„Weihnachtsgeschenk für wen?“ Ihre Stimme ist sehr hell, sie wirkt fast hysterisch. Ihr Körper spricht nicht mit. „Für Sie“, sagt er, „für uns beide.“ Sie sagt: „Ich studiere Psychologie.“

Sailor ignoriert den schrillen Ton, und die Stummheit ihres Körpers fällt ihm nicht auf. Sie nimmt den Strohhalm aus dem Glas und legt ihn in den Aschenbecher.

„Kennst du Henry Miller?“, geht Sailor unvermittelt zum Du über. Sie nickt, ohne dass er es wahrnimmt. „Ich sage dir“, sagt er und hebt den Zeigefinger, „dass dieser Mann keine Ahnung von Sex hat.“ Ihr Blick folgt der Richtung, die der Zeigefinger anzeigt, und sie stellt sich vor, dass er auf Henry Miller zeigt, und dass Henry Miller keine Ahnung von Sex hat, und sie lacht bei dem Gedanken, weil Henry Miller da oben steht und eigentlich von allem eine Ahnung haben sollte. Ihr Körper lacht nicht mit. Der Mann versteht ihr Lachen als Aufforderung. „Psychologie des Schreibens“, sagt er lachend und schüttelt sich ein wenig, „Herr Miller schreibt über das, was er nicht hat, aber gern hätte.“ Er erkennt sie nicht. Möglich, dass er noch nie eine Frau erkannt hat, sowenig wie man ein Stück Seife oder das Feuer eines Streichholzes erkennt. Sie sieht ihn nicht an. Sie hat ihn die ganze Zeit über nicht angesehen. Sie weiß, dass er es ist. „Fröhliche Weihnachten“, sagt der Mann, „ich will mit dir schlafen, und wenn es nicht das ist, was du dir vorstellst, dann hören wir wieder auf damit.“ Er spürt die Vorfreude. Er sieht sie an und wartet auf ihre Zustimmung. Sie stimmt ihm nicht zu. „Ich muss mit dir schlafen“, sagt er und denkt sich, dass er sie bald so weit hat, denn wenn ein Mann etwas muss, dann kann ihm das keiner verwehren.

„Wo kämen wir hin, wenn das alle müssten?“ Es ist wieder nur ihre Stimme, die spricht, und er fragt sich, was mit ihr los ist, weil die Stimme das einzige ist, was nicht zu ihr passt, und vielleicht noch dieser Graben über der Nase, der die Stirn in eine untere und eine obere Hälfte teilt. Er winkt dem Kellner. „Einen Bloody Mary, und natürlich auf Eis.“ Sailor schiebt ihm sein leeres Bierglas hin. „Das auch nochmal vollmachen, und sobald die Dame ihr Glas leer hat, machen Sie ihr ein neues.“ Der Kellner sieht sie beide an, und man erkennt an seinem Blick, dass er die Gäste, die in seinem Lokal verkehren, weder für Damen noch für Gentlemen hält. „Haben Sie mich verstanden?“, hakt Sailor nach, „ich will, dass diese Dame immer ein volles Glas Bloody Mary vor sich stehen hat.“ Der Kellner nickt. „Ich werde darauf achten.“ Er wirft sich ein Handtuch über die Schulter und beginnt, die Gläser vom Abtropfgitter zu nehmen und in das Wandregal zu stellen. Sailor ist sich jetzt sicher, dass die Frau nicht ohne Getränk sein wird. Er könnte ihr Geld anbieten, aber lieber macht er sie betrunken. Er sieht an ihr runter und stellt fest, dass ihre Kleidung die einer Nutte sein könnte. Eine eng anliegende Bluse, die keinen tiefen Ausschnitt hat, aber alles zeigt, was ein Mann an einer Frau begehrt, und die so kurz ist, dass man den Bauchnabel sieht, und dazu trägt sie einen Rock, der so tief auf der Hüfte sitzt, dass er glaubt, die Farbe ihres Schamhaares zu erkennen, und Stiefel aus rotem Leder mit Absätzen trägt sie, die nicht größer sind als ein Centstück. Vielleicht ist es das, was mir an ihr gefällt, überlegt Sailor, die Nutte an ihr. Er bietet ihr kein Geld an.

„Du hast telefoniert?“ Er erkennt sofort, dass er die falsche Frage gestellt hat. „Ich habe dich gesehen“, versucht er die Frage zu erklären, „wie du mit dem Handy hier rein bist.“ Er deutet auf die Tür und sucht gleichzeitig nach der richtigen Frage. Es gibt viele Fragen, überlegt er, du musst nur eine finden, die richtig ist. Du musst sie hier rausmanövrieren, überlegt er weiter, das wäre richtig. Sie zeigt keine Reaktion, auch nicht auf die falsche Frage, und er denkt sich, dass sie vielleicht doch nicht falsch war. Vielleicht ist es das, worüber sie reden will. Der Anruf, der sie enttäuscht oder verletzt oder sonst wie berührt hat.




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