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04. Dienstag, 24.12.2013 |

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04. Dienstag, 24.12.2013 |

Sailor hält die Patronen in der Hosentasche fest umschlossen. Er ist der Frau einen Schritt voraus. Er fühlt die Vorfreude auf das, was ihn erwartet. Ich werde dorthin kommen, wo ich hin will, denkt er, und du kommst mit mir, mein Engel. Dennoch, er spürt, dass er nicht sicher ist. Etwas läuft verkehrt.

„Maria ist ein hübscher Name“, sagt Schleyer, „mein Freund hält mich für schwul.“

Die Frau sieht zu ihm auf.

„Hier geht es nicht um dich“, geht Sailor dazwischen und greift nach der Frau. „Ich muss mit dir schlafen, mein Engel.“ Sie zuckt zurück und nickt, ohne dass er es mitkriegt. Engel, er hat mein Engel gesagt. Schleyer beugt sich zu ihm hin. „Sie hat genickt, hast du das nicht gesehen?“

„Trink dein Bier aus“, gibt Sailor zurück, „sie ist gleich so weit.“

Ein Küchengehilfe geht durch das Lokal und legt Speisekarten aus. Corinna lässt sich eine geben und steckt sie ein. Sailor nimmt einen Geldschein und zieht ihn am Tresen glatt. Corinna sieht an ihm vorbei und trinkt ihr Glas leer. Der Kellner stellt ihr ein neues hin. Schleyer gesellt sich zu dem Mann am Flipperautomaten.

„Willst du Geld?“ Sailor sieht keine Reaktion und ist irritiert. Nach seiner Erfahrung lässt die Aussicht auf Geld jeden reagieren. „Jede Frau ist eine Hure“, setzt er ihr auseinander, „selbst eine Dame ist eine Hure.“ Er zieht einen weiteren Schein am Tresen glatt. „Es gibt Frauen, die damenhafte Getränke trinken, ohne dass sie Damen sind, aber es gibt kein Getränk, das nicht damenhaft wird, wenn es von einer Dame getrunken wird.“ Er legt die geglätteten Scheine übereinander. „Zwei Monatsmieten für eine Dame.“ Die Frau sagt nichts. Weder mit ihrer Stimme, noch mit ihrem Körper.

„Es gibt Damen“, fährt Sailor fort, „die ein Getränk für immer damenhaft machen, und das Getränk ist selbst dann damenhaft, wenn es nicht getrunken wird.“ Verdammt, denkt Sailor, was rede ich hier, und warum rede ich hier, sie reagiert kein bisschen. „Nimm zum Beispiel Greta Garbo, sie hat den Martini zum damenhaftesten Getränk gemacht, ja ohne Greta Garbo wäre der Martini längst ausgestorben.“ Es ist ein Bluff. Er hat keine Ahnung, was Greta Garbo getrunken hat. Er sieht sich um. Es sitzen inzwischen einige Gäste an den Tischen. Sie sind festlich gekleidet. „Du bist eine Dame“, sagt er, auch wenn er sich dessen nicht mehr sicher ist, „und dein Getränk ist ein damenhaftes Getränk.“ Sie nickt, und dieses Mal sieht er es, auch ohne dass er darauf geachtet hat. Der Küchengehilfe ist auf dem Weg zurück in die Küche und sieht fragend zu ihr hin. „Was ist?“, geht ihn Sailor an, „scheiß auf Greta Garbo, und essen tun wir auch nichts.“ Sie lächelt. Links unten ist der Eckzahn mit Gold überkront. Sie nimmt Handtasche und Mantel. „Los jetzt, bevor ich es mir anders überlege.“ Er hat keinen Mantel. Er liebt die Kälte. Sie macht ihn stark und trennt ihn auf eine Art von den Mitmenschen, wie es die Hitze nie tun könnte. Er zahlt und lässt ein paar Münzen als Trinkgeld zurück. Auf dem Weg nach draußen macht er sich an Schleyer ran. Schleyer spielt den Flipperautomaten. „Wir sehen uns morgen, und ruf die beiden an und sag ihnen für heute ab, kapiert?“ Schleyer sieht kurz hoch und wendet sich dann wieder dem Automaten zu, und sein Freund weiß, dass er die Sache regeln wird.

Auf der Straße bleiben sie stehen und drehen sich zur Eingangstür hin, wie um sich von dem Lokal und von dem, was sie mit dem Lokal verbindet, zu verabschieden. Corinna zieht ihren Mantel über. Sie spürt den Wodka im Blut. Ihre linke Hand hat Schwierigkeiten, in den Ärmel zu finden. Sie schließt die Augen und holt tief Luft, und als sie die Augen wieder öffnet, ist die Konzentration zurück. Auf das, was getan werden muss. Sie greift in die Tasche und schaltet das Handy aus. Sailor beschließt, den Wagen stehen zu lassen. Er zieht einen Parkschein für zwei Stunden und legt ihn unter die Windschutzscheibe. Corinna beobachtet ihn.

„Zwei Stunden?“

„Wir gehen zu Fuß“, erklärt Sailor, „ist gut für den Kreislauf.“

Auf dem Gehsteig klebt Herbstlaub. In den Schaufenstern hängt Weihnachtsschmuck. Es ist dunkel, auch wenn es in der Stadt nie wirklich dunkel wird. Die Luft trägt die Feuchtigkeit und die Kälte der Nacht. Er geht schweigend und versucht nicht, sich ihr anzunähern. Das kommt später. Er greift in die Hosentasche und hält die Patronen fest umschlossen. Hamburg wird noch ein paar Stunden warten müssen.

Sie folgt ihm so zielstrebig, dass ihn bald das Gefühl überkommt, von ihr geführt zu werden. Er geht langsamer. Sie passt sich seinem Tempo an. An der nächsten Kreuzung hält er inne und wartet darauf, dass sie den Weg wählt. Sie wählt ihn nicht. Ihre Augen sind geradeaus gerichtet. Er geht weiter. Sie bleibt an seiner Seite, und ihn überkommt erneut das Gefühl, von ihr geführt zu werden.

Nach zwei weiteren Blocks bleibt er in der Skalitzerstraße Höhe 32 stehen. Corinnas Blick scannt die Fassade. Seine Finger suchen ihre Hand. Die Hand zuckt zurück. „Ein Versuch“, sagt er, „hat noch keinem geschadet.“ Sie ballt die Hand zur Faust. Dunkle, tiefhängende Wolken kündigen Schnee für den kommenden Tag an. Eine Flussmöwe fliegt über das Dach. Im obersten Stock steht eine Pflanze auf dem Fensterbrett, Wasser tropft auf den Gehsteig, ein Windstoß zerrt an ihrem Mantel. „Flussmöwe“, sagt Corinna.

„Ein Vogel wie jeder andere“, sagt Sailor, „braucht Luft nicht nur zum Atmen.“ Sie steigen über das Treppenhaus in den zweiten Stock. Er bleibt vor einer der Türen stehen, die von einem schmalen Gang rechtsseitig abgehen. Sie prägt sich ein, dass es die dritte ist. Er macht eine Weile rum, bis der Schlüssel seinen Weg in das Schloss findet. Sie sieht eine Matratze auf dem Boden des einzigen Zimmers. Die Tapete ist von den Wänden gerissen, der rohe Putz mit Kalk überstrichen. Einen Schrank gibt es nicht. Es gibt das Fenster, durch das man die Bahngleise und einen Kirchturm mit Kirchturmuhr sieht. Es ist 17 Uhr 15. Da, wo der Fensterrahmen eingelassen ist und die Feuchtigkeit sich ihren Weg in das Zimmer sucht, ist die Wand mit Schimmel überzogen. Die U-Bahngleise sind auf Stützen gebaut und thronen über der Straße. Er folgt ihrem Blick. Er mag die Gleise. Er mag das Rumoren der Züge, das sich steigert, wenn sie näher kommen und jedes Wort überflüssig macht, sobald sie auf der Höhe des Fensters sind, und das dann wieder verebbt und schließlich mit einem Kreischen erstirbt, wenn die Züge am Görlitzer Bahnhof halten. Er mag das Vibrieren der Fensterscheibe und seine eigene Gestalt, die sich zitternd darin spiegelt. Er sagt: „Die älteste U-Bahn in unserem Land.“

„Ich mag den Lärm.“ Er hat das Gefühl, dass sie gerade etwas gesagt hat, was von Bedeutung ist. „Wegen der Stille“, fügt sie hinzu, „die sich dahinter verbirgt.“ Sie deutet auf eine Tür, die am Ende des Ganges als einzige linksseitig abgeht. „Ist das die Toilette?“

„Das ist die Toilette“, bestätigt Sailor, „sie ist heute gereinigt worden.“

„Wann?“ Corinna spürt Panik.

„Heute Nachmittag“, gibt er zurück, „sie ist sauber. Auch für eine Dame wird sie es tun.“

„Eine Kloschüssel ist eine Kloschüssel“, sagt Corinna lauter als nötig und sucht Halt an der Wand. Wichtig ist, dass du einen Schritt voraus bist, und dass der Gegner davon ausgeht, dass er derjenige ist, der den Schritt voraus ist, denn dann bist du zwei Schritte voraus, deinen und den vom Gegner, denn der geht in die falsche Richtung. Sie geht auf die Tür zu. Der Boden schwankt unter ihren Füßen. Sie zieht die Tür hinter sich zu und schiebt den Riegel vor. Ihre Hände zittern. Sie fällt auf die Knie und greift unter das Waschbecken. Ihre Finger fliegen über die Keramik, verheddern sich in Schläuchen, ein Schwamm fällt zu Boden. Sie umschließt mit der Linken das rechte Handgelenk. Spürt den Puls, schließt die Augen, macht weiter, führt die rechte Hand mit der linken. Findet die Schachtel mit den Patronen. Arbeitet sich hoch und stützt sich am Waschbecken ab. Lässt Wasser in ihre hohle Hand laufen und wirft es sich ins Gesicht. Sieht sich im Spiegel. Das Wasser tropft vom Kinn. Sie glättet mit dem Daumen die Falte auf der Stirn. Die Panik lässt nach. Sie nimmt den Revolver aus der Handtasche und sieht, dass Sailor die Patronen entfernt hat. Die Panik kommt zurück. Sie zwingt sich, tief und regelmäßig zu atmen. Die Luft strömt in den Körper, aus dem Körper, rein, raus, rein, raus. Er hat die alten Patronen. Sie hat die neuen Patronen. Sie ist den Schritt voraus. Sie füllt die Kammern auf, entsichert den Revolver, legt ihn zurück in die Tasche, zieht die Spülung und tritt auf den Gang. Neben Sailors Tür gehen drei weitere Türen ab. Es gibt weder Namensschilder noch Klingeln. Auf einer Fußmatte stehen Arbeitsschuhe. Ihre rechte Hand greift nach der Waffe, die linke öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Er liegt auf der Matratze und raucht. Die Flasche in seiner Hand hat kein Etikett. Er setzt sie an und trinkt. An dem Gesicht, das er macht, erkennt sie, dass es Schnaps ist. Sie zieht den Revolver. Ohne Sailor aus den Augen zu lassen, greift sie hinter sich. Der Schlüssel steckt im Schloss. Sie dreht ihn um und vergewissert sich, dass abgesperrt ist. Sailor lächelt. Sie tut einen Schritt auf ihn zu, steht jetzt vor ihm, ein schönes Bild, der Rock, hochhackige Schuhe, enge Bluse, sie legt den Mantel ab.

„Warum?“

„Weißt du noch, wie du Engel zu mir gesagt hast?“ Ihre Stimme ist kein bisschen mehr schrill.

„Es gibt viele, zu denen ich Engel gesagt habe.“ Er erkennt sie nicht. Er weiß nicht, um was es hier geht. „Mein Weihnachtsengel“, sagt er, „komm her und schlaf mit mir.“ Er drückt die Zigarette auf dem Holzboden aus und hält ihr die Flasche entgegen. „Es ist kein angemessenes Getränk, weder für Engel noch für Damen, und ein Glas habe ich auch nicht, aber es ist alles, was ich dir anbieten kann.“

Sie sagt: „Ich knall dich ab. Wie oft kommen die Züge?“

Er holt die Patronen aus der Hosentasche und legt sie nebeneinander auf die Matratze. „Um diese Uhrzeit kommen sie alle paar Minuten.“ Er nimmt eine Patrone zwischen Daumen und Zeigefinger und rollt sie vor und zurück. „Was macht so eine wie du mit einem Revolver, Kind, noch dazu mit einem, der nicht geladen ist, noch dazu heute, am Heiligabend, kein Abend wie jeder andere.“ Die Angst, denkt er, wo ist sie bloß, ich kann sie nicht spüren. Ein Zug kündigt sich an. Sie hebt den Revolver und hält ihn mit beiden Händen und ausgestreckten Armen auf Brusthöhe. Sie sieht durch das Fenster auf den Zug. Der Rumpf eines Mannes und ein paar Hinterköpfe hüpfen vorbei. Sie zielt auf sein Knie. Er lacht und spielt mit den Patronen, die Zähne weiß, der Bart blond, die Augen blau, auch die Augen lachen. Sie schießt und trifft den Oberschenkel. Sein Schrei mischt sich mit dem Rattern des Zuges. Ein roter Fleck auf der Matratze wird schnell größer. Sie hat eine Arterie verletzt. Er presst eine Hand auf die Wunde. „Was soll das?“ Zwischen den zusammengebissenen Zähnen kommt seine Stimme kaum durch.

„Weißt du noch, wie dein Schwanz meinen Unterleib blutig gestoßen hat?“

„Es wird wohl deine Blutung gewesen sein.“ Seine Stimme kommt stoßweise.

„Kleine Mädchen haben keine Blutung.“ Ein weiterer Zug fährt vorbei. Sie schießt, ohne zu zielen. Die Kugel bohrt sich in den Boden. Holz splittert. „Sag, dass du es noch weißt!“

„Deine Angst“, sagt er, „ich kann sie nicht spüren.“

„Angst lässt sich verstecken.“

„Deine Stimme ...“

„Wird wohl so sein, dass ich nervös war, und jetzt, jetzt knall ich dich ab.“

„Die elende Stadt“, sagt er, „zu viele Ecken und Kanten für einen, der auf dem Wasser zuhause ist.“

„Sag, dass du es noch weißt!“

„Wird wohl so sein, dass ich sterbe“, sagt er, „warum also sollte ich lügen?“ Er erinnert sich. Es ist lange her. Die Eltern durften nichts wissen. Der Vater hat es trotzdem gewusst. Es war sein Taubenschlag. Er muss es gewusst haben. Das kleine Mädchen ist groß geworden. Er sieht sie an. Die Frau ist zu jung, um damals das kleine Mädchen gewesen zu sein. Er versucht, nachzurechnen und gibt den Versuch wieder auf. Das Kreischen des Zuges lässt ihn wissen, dass er im Görlitzer Bahnhof einfährt. Er presst die Hand auf die Wunde. „Woher hast du die Waffe?“ Corinna sieht auf die Waffe in ihrer Hand. Es ist ein Revolver der Marke Smith & Wesson. Er hat einen kurzen Lauf und eine Trommel, die acht Patronen fasst. „Kaliber 22“, sagt Sailor, „eher was für Karnickel und Ratten.“ Corinna zielt, bis Kimme und Korn eine Linie bilden. Sie fixiert einen Punkt oberhalb seiner Nasenwurzel. Sie lässt den Fixpunkt über seinen Körper wandern. Die Augen, den Brustkorb, die Stelle, wo sie sein Herz vermutet. Sie führt den Lauf nach unten, bis er auf seine Weichteile zeigt. „Die Waffe macht das, was wir ihr zugedacht haben.“

„Wir?“ Sailors Kräfte schwinden. Er muss die Blutung stillen, wenn er eine Chance haben will. „Eine Kleinmädchengang?“

Sie lässt die Waffe sinken. Er stirbt. Es gibt keinen Grund, es ihm nicht zu sagen. „Familienbetrieb, die Frau Mama lässt grüßen.“

Sailor wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie hat sich nicht gewehrt, hat alles mitgemacht, Herrgott, warum wehrt sie sich jetzt? Er zerrt das Laken von der Matratze, reißt mit den Zähnen einen Streifen weg und verbindet das Bein. Er blickt sich um, greift nach seinem Tabakbeutel, legt ihn auf die Wunde und schnürt ihn mit einem zweiten Streifen fest. Ein Pressverband, der ihn womöglich über die kommenden Stunden rettet. Corinna lässt ihn machen. Die Blutung lässt nach. Er sieht zu ihr auf. „Marianne?“ Auch die Mutter kann er in ihr nicht erkennen. Er versucht, sich zu erinnern, doch alles, an was er sich erinnert, ist der Geruch ihrer Haare, die immer gerochen haben, als wäre sie gerade aus der Dusche gestiegen, selbst in dem verstunkenen Taubenschlag taten sie das. Er kämpft gegen die Bewusstlosigkeit an. Ein neuer Schmerz holt ihn zurück. Ein Zug fährt vorbei. Sie hat ihm eine Kugel in den Bauch gejagt, kontrolliert jetzt die Kammern, füllt Patronen nach, lässt mit einer schnellen Bewegung des Handgelenkes die Trommel zuschnappen, schreit gegen den Lärm an: „Kapierst du, was ich mit der Stille meine, die sich hinter dem Lärm verbirgt?!“ Sie zielt auf sein Geschlecht und schießt. „Scheiß auf Psychologie und Humanbiologie.“ Sie zielt erneut und schießt. Scheiß auf hieb- und stichfest, scheiß auf eure Verhaltensmuster, ich knall euch alle ab, und dafür brauche ich kein Alibi, Männer denken mit dem Schwanz. Sie zielt und schießt, findet in den Rhythmus, es kommt ein zweiter Zug, aus der anderen Richtung, und da kommt noch einer, Herrje die ganzen Züge, sie schießt, bis die Trommel nichts mehr hergibt. Die Kugeln verfehlen ihr Ziel. Seine Hand zittert, ihre Hand zittert, er greift nach dem Schnaps. „Humanbiologie?“

„Sag, dass du es noch weißt!“

Einen Scheißdreck werde ich tun, denkt Sailor und nimmt einen Schluck, ich sterbe, und dieser Dreckskerl von einer Frau hat mich reingelegt. Er liegt da und trinkt und sucht eine Lösung und weiß, dass er keine finden wird. „Du scheißt auf die Humanbiologie?“

„Mein Studium“, sagt sie, „ich studiere dein soziales Verhalten.“

Einen Zug noch, vielleicht auch zwei, dann wird es vorbei sein, denkt er, aber ich werde nicht tun, was sie von mir verlangt, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. „Komm her.“ Seine Stimme ist kaum mehr zu hören. „Komm her und lass mich deine Haare riechen.“ Sie wendet sich ab. Er sieht die Gelegenheit und versucht, sich aufzurichten, doch er ist zu schwach. Er sinkt zurück auf die Matratze. Das Loch in der Bauchdecke ist winzig, ein Kleinkaliberloch, kreisrund, blutrot, er presst die Hand darauf und spürt das Pulsieren des Blutes. Nie warst du hilflos, in deinem ganzen Leben nicht, und jetzt bist du es, und das bedeutet, dass du stirbst. Na, überlegt er weiter, du wirst in einer elenden Absteige verrecken, ein schweres Los für einen Matrosen, aber letztendlich ist es egal, denn als toter Matrose bist du nichts weiter als ein toter Matrose. Er schüttet den Schnaps über die Wunde. „Nimm einen Schluck“, sagt er, „wir werden verrecken, du und ich, oder ich an dir, und das sollten wir begießen, weil es nicht oft vorkommt und somit eine Gelegenheit ist, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.“

Dann kommt der Schmerz. Er hat sich nie vor Schmerzen gefürchtet und immer über die Menschen gelacht, die das tun, doch jetzt weiß er, dass es einen Schmerz gibt, über den man nur lachen kann, wenn man ihn nicht kennt. Ihm bricht mehr Schweiß aus. Ein Schleier legt sich vor seine Augen. „Du hast dich nicht gewehrt.“

„Kleine Mädchen wehren sich nicht.“

Sailor starrt durch den Schleier hindurch die Frau an. „Hast mich reingelegt, aber mit den anderen wirst du es schwerer haben.“ Ein Blitz durchbricht den Schleier. „Wie geht es deiner Verdauung?“

„Verdauung?“

„Wollten damals den Dickdarm rausnehmen.“

„Ja wo ist er denn hin?“

Er versucht, sich aufzurichten und fällt abermals zurück. Er winkt die Frau zu sich. Sie beugt sich über ihn. „Haben ihn dann doch drin gelassen.“ Seine Stimme ist ein Flüstern. Er lässt ein Geräusch von sich, das sie als Lachen interpretiert. Er deutet auf seine Wunde. „War mit der Bauchdecke verwachsen. Hast damals nicht viel besser ausgesehen als ich heute.“

„Wann war das?“ Sie drückt ihm den Lauf der Waffe in die Seite.

„Lange her“, flüstert er, „noch bevor ich das erste Mal zur See bin.“

„Wie lange?“ Er antwortet nicht. „Wann bist du das erste Mal zur See, Sailor?“ Er drückt seine Hand auf den Pressverband. „Was tut das jetzt zur Sache.“ Er hustet, lacht, hustet Blut, sieht die Waffe. „Du hältst ihn verkehrt, mein Engel, zu verkrampft, dein Finger wird sich einen Bluterguss holen.“ Seine Hand fällt zur Seite. Der Pressverband verrutscht. Corinna springt zurück. Ein einzelner Blutstrahl spritzt bis an die Decke. Seine Hand zieht den Verband zurück über die Wunde, ein Reflex, der nach dem Leben greift. Er schließt die Augen. Corinna sieht auf den leblosen Körper. Blut findet seinen Weg an dem Verband vorbei und läuft in das Laken. Sie nimmt die Patronen von der Matratze, sieht sich um, sucht die abgefeuerten Projektile, findet nur zwei von zwölf, vier stecken im Holzboden fest. Sie beugt sich über ihn. Es wird sich nicht vermeiden lassen, wenn sie Gewissheit haben will. Sie will Gewissheit. Sie greift nach seinem Handgelenk und wendet sich ab. Das Fensterglas zittert. Eine U-Bahn hüpft vorbei. Sie tastet nach seinem Puls. Findet ihn nicht. Sie sucht, bis sie sicher ist, dass es keinen Puls mehr gibt. Sie wirft die Hand von sich und betrachtet sein Gesicht. Es ist das Gesicht eines Mannes, der seine Jugend hinter sich hat. Er muss über fünfzig sein. Sie hat ihn sich jünger vorgestellt. Es ist ein markantes Gesicht. Kinn, Wangenknochen und Nase stechen hervor. Der wild gewachsene Vollbart kann die Markantheit nicht verstecken. Unter anderen Umständen hätte sie ihn wohl für attraktiv gehalten. Die Wunde hat aufgehört zu bluten. Sie richtet sich auf und ruft ihre Mutter an.

„Wo bist du?“

„In seinem Zimmer, ich werde jetzt das Adressbuch suchen.“

„Hast du die Speisekarte?“ Corinna nimmt das Faltblatt aus der Handtasche und liest: „Chicorée in Schinkenmantel, Hackbraten, gefüllte Kalbsbrust, Linsen mit Backpflaumen ...“

„Hör zu“, unterbricht die Mutter, „er serviert Obst wenn überhaupt, dann als Nachtisch. Seine Spezialität sind scharfe Senfgerichte.“

„Da war noch ein Henry Schleyer, aber ich habe ihn nicht erkannt.“

„Henry Schleyer?“, wiederholt die Mutter, „ich bin schlecht mit Namen.“

„Mama, ich habe Sailor erschossen.“

„Wir sind im Krieg, meine Liebe, so ist das, und jetzt suchst du, und das gründlich. Namen, ein Adressbuch, irgendwas. Und dann gehst du zurück in das Lokal und siehst zu, dass du mehr über diesen Henry rauskriegst.“

„Ich habe auch Sailor nicht erkannt.“

„Du hast es verdrängt, meine liebe Süße, mach dir keine Sorgen.“

„Mutter?“

„Was noch?“

„Mein Dickdarm ist mit dem Bauch verwachsen.“

„Wenn, dann ist es mein Dickdarm, der mit dem Bauch verwachsen ist.“ Die Mutter stutzt. „Woher hast du das?“

„Von Sailor.“

„Sailor ist tot.“ Die Mutter legt auf. Corinna sucht und findet den Berliner Bären auf der Innenseite seines rechten Oberarms. Es ist kein schönes Motiv. Der Bär streckt ihr seine rote Zunge entgegen und ist in einen weinroten, kreisförmigen Hintergrund gebettet. Auch die Platzierung lässt darauf schließen, dass es sich nicht um eine Tätowierung handelt, mit der sich Sailor schmücken wollte. Eher ein Zeichen. Ein Adressbuch findet sie nicht.




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