Читать книгу Null Jahreszeiten - Frank Strick - Страница 7
05. Dienstag, 24.12.2013 |
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Schleyer hat den Flipperautomaten aufgegeben und sitzt am Tresen. Die Gäste sind mit dem Essen fertig und zusammengerückt. Ein paar haben sich an die Bar begeben, der Koch hat die Küche seinen Gehilfen überlassen und sich dazu gesellt. Es ist heimelig, kann aber jederzeit kippen. Die Gäste haben kein Zuhause. Das macht sie zu Raubtieren.
„Wo ist Sailor?“
„Bei seiner Familie?“
„Sailor hat keine Familie.“
„Na, dann wird er wohl in seinem Loch sein, ohne Familie.“
„Haben Sie wirklich gedacht, er hätte Familie?“
„Kann ein jeder denken, wie er will.“ Corinna stellt die Handtasche auf einen Barhocker. Schleyer sieht sie an. Sie hält dem Blick stand. Er will wissen, was passiert ist. Er will wissen, ob sein Freund dich gevögelt hat. Er will wissen, wo sein Freund jetzt ist. Sie sagt: „Pimpern, Zigarette, Haustür. Sie wissen, wie das ist.“
Schleyer stößt ein Lachen aus, das nach Husten klingt. „Und Sie, was ist mit Ihrer Familie?“
Corinnas Hand wischt das Thema aus der Welt. Die Finger bleiben in den Schlaufen der Tasche hängen und fegen sie vom Hocker. Sie beeilt sich, die Utensilien einzusammeln. Lippenstift, Geldbeutel, Schlüssel, Handy, Schmerztabletten. Der Revolver ist nicht dabei. „Sie kennen sein Loch?“
Er schüttelt den Kopf. „Nichts für eine Dame?“
„Ein Loch wie im Krieg.“ Corinna beschließt, die Sache diesmal anders anzugehen. Die Menschen lassen sich besser beobachten, wenn man ihrem Blick nicht ausweicht. „Ihr Freund hält Sie für schwul?“
„Es ist der Bart, den er für schwul hält.“
„Sie und er, Sie sehen sich ähnlich, aber Ihr Bart, der wirkt gepflegter.“
„Stört Sie sein Bart?“ Er streicht sich über das Kinn. „Ein sekundäres Geschlechtsmerkmal.“
„Ich studiere Humanbiologie.“ Jetzt ist es raus, du hast den Köder gelegt, für einen Beweggrund, der mit Vögeln nichts zu tun hat. Lass den Köder liegen, ein Alibi für den Notfall, er wird sich an keine Frau ranmachen, die sein Freund für sich klargemacht hat, Ehre unter Männern, große Wer-Fickt-Wen-Ehre, Männer denken mit dem Schwanz.
„Humanbiologie?“
„Humanbiologie, Verhaltensmuster.“
„Verhaltensmuster?“
„In der Humanbiologie.“
„Hat Sie überhaupt irgendetwas an ihm gestört?“ Schleyer verrät mit keiner Geste, was er von ihrem Studium hält. „Ich bin keiner, der Ihnen einen ausgibt und keiner, der einen Bloody Mary zu schätzen weiß.“ Sein Blick erfasst den zweiten Kellner, der im Lokal nach dem Rechten sieht. Geschirr abräumen, Speisekarten einsammeln, Aschenbecher wechseln, Kerzen anzünden. „Und daran kann ich nichts Verkehrtes finden.“
Corinna geht auf die Bemerkung nicht ein. „Sie kennen sein Zimmer also nicht?“
„Sag ich doch.“
„Wie lange kennen Sie Sailor?“
„Wer will das wissen?“
„Egal jetzt.“ Sie winkt dem Kellner und bestellt Kaffee. „Schwarz.“ Und an Schleyer gewandt: „Er war Matrose?“
„Er hat Ihnen nichts von sich erzählt?“
„Es hat sich nicht ergeben“, weicht Corinna aus.
„Sieht ihm ähnlich, dass er nichts von sich hergibt.“
„Er war also Matrose?“
„Sailor wird seinen Grund haben, wenn er Ihnen nichts erzählt.“
„Wird er wohl“, stimmt ihm Corinna zu, „und jetzt frage ich Sie.“ Sie zieht einen Barhocker heran und setzt sich. „Er war also Matrose?“
„Ja“, gibt Schleyer nach, „wer will das wissen?“
„Und jetzt ist er kein Matrose mehr, so, wie Sie keiner mehr sind?“ Schleyer antwortet nicht. „Kennen Sie sich aus der Zeit, als Sie noch Matrosen waren?“
„Haben Sie sich was rausgesucht?“, fragt Schleyer gegen und deutet auf die Speisekarten, die der Kellner am Ende des Tresens zu einem Stapel zusammengelegt hat, „der Koch ist schon halb im Feierabend.“ Corinna zieht die Speisekarte aus ihrer Handtasche. „Die gefüllte Kalbsbrust.“ Sie bestellt das Essen. „Sailor ist pleite?“
„Mag sein.“
„Wer in so einem Loch wohnt und nicht pleite ist, mit dem stimmt etwas nicht.“
„Sie sollten aufpassen, dass Sie nicht ausfallend werden.“
„Es ist auch nicht gerade der Platz, wo man eine Frau hinführt.“
„Es gibt sicher Schlimmeres“, sagt Schleyer, „eine Schiffskoje wäre da als Beispiel zu nennen.“
„Sein ganzes Gerede von der Damenhaftigkeit“, sagt Corinna, und plötzlich überkommt sie eine Wut, auf Sailor, Schleyer, das Studium, die ganze Welt, in die sie sich da hat reinziehen lassen, eine Alibiwelt, sie erhebt die Stimme, der Kellner wirft ihr einen Blick zu, „und dann ein Loch wie ein Puff, ja wahrscheinlich war es genau das, ein Puff für die Dame.“
„In Ordnung.“ Schleyer hebt beschwichtigend die Hände. „Er ist pleite. Und jetzt lassen Sie es gut sein.“
„Und was macht einer, der pleite ist?!“ Sie gibt dem Kellner durch eine Geste zu verstehen, dass sie keine Szene machen wird, nicht am Heiligabend, und sie dämpft ihre Stimme, doch das, was sie sagt, das dämpft sie nicht. „Billige Flittchen pimpern tut der, und vielleicht andere krumme Geschichten?!“
„Sie gehen zu weit, liebe Frau.“
„Zum Henker mit der Liebe“, macht Corinna weiter, und die Lüge setzt ihr zu, und auch das macht sie wütend, ein Verrat an sich selber ist diese Lüge, sie macht sie zum billigen Flittchen, diese Lüge, „gepimpert in einem dreckigen Puff.“ Sie greift nach der Handtasche, ihre Finger krallen sich in den Stoff, die Stickerei schneidet sich ins Fleisch, sie wirft den Kopf zurück und starrt an die Decke. Herrje, auf was hast du dich da eingelassen, Verhaltensmuster in der Humanbiologie, und wenn das einer nicht begreifen will, dann knall ihn ab, komm nur her du.
„Scheint Ihnen ja mächtig zuzusetzen“, sagt Schleyer, der die Situation beruhigen will und nicht weiß, wie er das anstellen soll, „pimpern, wer sagt denn so etwas.“
Sie lacht, kurz und hysterisch, lässt den Kopf fallen, ihr Blick ist jetzt hart. „Kann ein jeder sagen, wie er will.“
„Vorher, als ich hier aufgeschlagen bin und Sie waren schon da, da kamen Sie anders daher, Sie waren ...“ Er sucht nach dem passenden Ausdruck. „... bescheiden. Sie waren bescheiden.“ Er lacht. „Stand Ihnen gut, aber diese Tour hier steht Ihnen auch nicht schlecht.“ Sein Lachen wirkt gekünstelt. „Ich will Ihnen etwas sagen.“ Er sieht an ihr runter und denkt sich, dass die Frau ein Kaliber ist und mächtig reif für ihr Alter, sie denkt und sagt, was sie für richtig hält, und er begreift nicht, wie sich so eine auf einen wie Sailor einlassen kann. Er sagt: „Wenn Sie sich auf so einen wie Sailor einlassen, dann kommen Sie mit Bescheidenheit nicht weit.“
„Wie sieht es bei Ihnen aus?“
„Ich bin anders. Mag sein, dass wir uns ähnlich sehen, aber ich sag Ihnen, dass wir es nicht sind.“
„Und was hatten Sie sich zu erzählen?“
„Sie meinen heute am frühen Abend?“
„Ich meine heute am frühen Abend.“
„Wir waren verabredet“, weicht Schleyer aus, „und dann kamen Sie ins Spiel.“
„Sie wollten gemeinsam Flipper spielen“, fragt Corinna, „und andere männliche Dinge tun?“
„Es ging um das Geschäft.“ Er sieht sie abschätzend an. „Was wollen sie von einem Mann wie mir, wenn der Ihnen nicht einmal einen Bloody Mary spendiert?“
„Es geht um Sailor, und um Männerfreundschaft. Sie sind doch Männerfreunde?“ Er antwortet nicht. „Ich habe Sie beobachtet, wie Sie miteinander umgehen.“
„Die Humanbiologin“, sagt Schleyer ohne Boshaftigkeit und lässt seinen Blick durch das Lokal schweifen. Die meisten Tische sind wieder mit Gästen besetzt, die genug vom Rumstehen haben und solchen, die genug von Zuhause haben und neu dazugekommen sind. Der Koch wird seinen Feierabend verschieben müssen. Schleyers Blick ist der Blick eines Mannes vom Fach, und dann bleibt dieser Blick an einer Schiefertafel hängen, die neben der Küchendurchreiche angebracht ist. „Ach ja.“ Der Blick wechselt von der Tafel zur Speisekarte auf dem Tresen. „Hier stehen nur die Standardgerichte drin.“ Er deutet auf die Schiefertafel. „Ich empfehle die Pute in scharfer Senfsoße.“
Corinna starrt auf die Tafel. Sie winkt dem Kellner. „Die Pute, wenn sich das noch einrichten lässt.“
„Aber ja“, sagt der Kellner, „Pute statt Kalb.“
„Noch viel los in der Küche?“, fragt Schleyer aus purer Höflichkeit.
„Zweiter Schub, jetzt kommen die, die nichts auf Weihnachten geben.“ Das Kinn des Kellners weist Richtung Küche. „Du kannst ab morgen aushelfen, bis zum Neujahrsabend. Der Koch braucht ein paar Tage Pause.“
„Werde es mir überlegen.“
„Pute in scharfer Senfsoße, wer macht denn so was?“ Corinnas Hand greift nach dem Tresen. Die tiefe Falte auf der Stirn ist eine Idee tiefer geworden. „Kennen Sie den Koch?“
„Ich habe ihn angelernt. Die Pute hat er von mir.“
„Sie sind Koch? Ja leckst du mich am Arsch.“ Der Satz kommt aus ihr raus wie jeder andere Satz.
„Im Winter“, scherzt Schleyer, „da braucht ein Garten keinen Gärtner, und jetzt scheint die kalte Jahreszeit ja mächtig Einzug zu halten.“
Corinna winkt erneut dem Kellner. „Einen Bloody Mary auf Eis.“ Sie nimmt eine Flasche und eine Pipette aus ihrer Tasche. Es ist eine etikettfreie 50-Milliliter-Flasche aus dunkelbraunem Glas. Sie schüttelt die Flasche. Die Flüssigkeit bildet Schlieren an der Innenwand. Der Kellner stellt ihr den Bloody Mary hin.
„Warum sind Sie nicht bei Ihrer Familie“, will Schleyer wissen, „da, wo Sie hingehören?“
Sie saugt mit der Pipette ein paar Tropfen von der Flüssigkeit ab und lässt die Tropfen in das Getränk fallen. „Meinen Vater kenne ich nicht, meine Schwester ist tot, meine Mutter woanders.“ Sie rührt mit dem Strohhalm um, nimmt einen Schluck und schiebt ihm das Glas hin. „Familie kann täuschen, und dann hat sie dich am Wickel.“ Sie beobachtet, wie die Flüssigkeit durch den Halm nach oben wandert. Als das Getränk seine Lippen erreicht, reißt Schleyer die Augen auf. Er stößt das Glas von sich. „Teufel auch.“
„280.000 Scoville, wissen Sie, was das heißt?“
„Teufel auch, ich bin Koch.“ Schleyers Lippen brennen, seine Zunge brennt, es brennt der ganze Rachen. Corinna steckt die Flasche weg. „Sie sind also auf scharfe Senfsoßen spezialisiert?“