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06. Dienstag, 24.12.2013 |

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06. Dienstag, 24.12.2013 |

„Die Freundschaft unter Matrosen ist böse.“ Sein Unterkiefer zittert, die Augen irren umher, der Mann steht unter Anspannung. Sie haben das Radieschen verlassen. Schleyer greift nach dem rechten Ärmel seines Mantels, schiebt ihn den Ellenbogen hoch, knöpft den Hemdsärmel auf, zerrt am Stoff, bis der Oberarm frei liegt. Sie ist nicht überrascht, die Tätowierung zu sehen. Sie ist überrascht, dass er sie ihr zeigt. Und dass sie keine Angst spürt. „Wer hat das gemacht?“

„Tut nichts zur Sache.“

„Einer, der nichts davon versteht, würde ich meinen.“ Die Ränder des Tattoos sind ungenau. Die Farben gehen ineinander über, die Geometrie des Kreises ist schlampig.

„Wir hatten unsere eigene Schutztruppe. Es war Sailors Idee.“

„Sein Tattoo ist genauso schlampig.“

„Böse Freundschaft und böse Rituale, und wer einmal dabei ist, der kommt schwer davon los.“

„Was für Rituale?“

„Das will niemand wissen.“

„Und wenn doch?“

„Dann werde ich es ihm nicht erzählen.“ Corinnas Blick fordert mehr. Er schüttelt den Kopf. „Dinge, die man ungeschehen machen will.“

„Wenn man ein anständiger Mensch ist“, ergänzt Corinna, „sind Sie ein anständiger Mensch?“

„Ich würde es gern ungeschehen machen.“ Schleyer starrt auf das Tattoo. „Es war Sailors Idee, und die von Peter, aber der war anders.“ Er stiehlt sich davon, aus seiner Verantwortung, aber wenn ich ihm genug zusetze, dann packt er aus, egal, wessen Idee es gewesen ist, und seine Verantwortung, die wird er nicht loswerden, ja ich knall ihn ab, und dann kann er mal sehen, wie das ist. Sie sagt: „Es ist nicht verwerflich, jemanden zu beschützen.“

„Wer Schutz braucht, wird angegriffen“, sagt Schleyer, „da geht es schon mal los.“

„Angriff und anschließender Schutz. Ausgehend von denselben Personen, ist es das?“

„Es war Sailors Idee.“

„Und die von Peter?“

„Und die von Peter.“ Corinna zieht seinen Arm in das Licht der Straßenbeleuchtung. Bär, Zunge, weinroter Kreis, schlecht gemacht, das war's. Sie deutet auf die rechte Hand. „Sailor hat die gleiche Narbe.“

„Eine defekte Ankerwinde, das Stahlseil ist beim Ablassen von der Winde gesprungen und hat sich ins Fleisch geschnitten. Erst hat es ihn und dann hat es mich erwischt.“

„Da lässt sich ein Mann von überraschen und dann noch einer?“

„Es gibt Situationen, da muss der Anker auf Grund, selbst wenn es zwanzig Matrosen ihre Hand kostet.“

„Jetzt hab ich Sie wohl bei Ihrer Ehre“, stellt Corinna fest, „bei Ihrer Matrosenehre.“ Sie kickt eine Bierdose auf die Straße. „Sie haben sich gekannt, bevor Sie Matrosen waren?“

„Wo haben Sie das her?“ Schleyer deutet auf die Dose.

„Vom Schulhof, von den Schulhofjungs.“

„Sie machen einen auf Jungs“, stellt Schleyer fest, und dann: „Wir sind hier aufgewachsen.“ Sie sind am Heinrichplatz, Kreuzberg 36. Bis auf die Menschen, die rauchend vor den Kneipen stehen, in denen das Rauchen untersagt ist, sind die Straßen leer. Die Luft ist feuchtkalt. Sie sind beide in Mäntel gehüllt. „Hier?“ Corinna deutet auf ein Tätowierstudio auf der anderen Straßenseite. „Da zum Beispiel?“

„Hier in Berlin.“ Schleyer klopft zwei Zigaretten aus einer Schachtel. „Schöneberg.“ Er hält ihr eine hin und zündet sie an. „Was lief verkehrt mit Sailor?“

„Pimpern, Zigarette, Haustür.“ Corinna stößt den Rauch aus ihren Lungen. „Männer denken mit dem Schwanz.“ Sie wirft die Zigarette in den Rinnstein. „Und das gefällt mir nicht.“

„Ich sage Ihnen jetzt etwas, und auch das wird Ihnen nicht gefallen.“ Corinna wartet auf mehr. „Sailor schert sich einen Dreck, um die Welt und so weiter, und ihr Stolz ist da als Beispiel zu nennen, und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Mir gefällt das auch nicht.“ Er erschrickt, doch dann fühlt es sich gut an. Er ist seinem Freund in den Rücken gefallen, und es ist ihm egal.

„Sie machen auf Frauenversteher?“ Sie muss vorsichtig sein. Der Mann ist einer von ihnen. Auch, wenn sie sich nicht an ihn erinnern kann. Auch, wenn sein Verhalten nicht darauf schließen lässt. Auch, wenn sie keine Angst vor ihm hat. Ihr Blick deutet auf seinen Oberarm. „Sie gehören dazu, Schleyer.“ Schleyer antwortet nicht. Sie sieht ihn an, ohne dass ihr Blick etwas hergibt. Vielleicht ist es, weil ich getötet habe, dass ich die Angst nicht spüre, vielleicht ist es das, was das erste Mal aus einem macht. Man verliert die Angst, und der Rest des Lebens ist ein Trauerspiel. „Mögen Sie Kirchen, Schleyer?“

„Ich mag Friedhöfe, aber am liebsten mag ich das Meer.“

„Egal jetzt, weiter.“ Sie geht über den Heinrichplatz Richtung Michaelskirche. Ihre rechte Hand steckt in der Handtasche und umschließt den Revolver. Schleyer folgt ihr, und sie achtet drauf, dass er sich links von ihr hält. Sie wendet ihr Gesicht ab, wenn sie anderen Passanten begegnen. „Flüsse?“

„Wenn sie mich an das Meer erinnern würden, dann würde ich sie wohl mögen, aber das hat noch keiner geschafft.“ Er zieht den Ärmel nach unten. „Mississippi, der könnte es schaffen.“

Sie umklammert den Revolvergriff, spürt die Riefen in der Handinnenfläche. „Wir gehen zum Friedhof.“

„Auch gut“, sagt Schleyer, und als sie vor der Michaelskirche stehen: „Diese Kirche hat keinen Friedhof.“

„Ja wo ist er denn hin?“

„Zu kompakt.“ Schleyer gräbt mit einer Drehbewegung der Verse den Stiefelabsatz in den Boden. Er bückt sich, zerreibt die lose Erde zwischen Daumen und Zeigefinger und führt sie an die Nase. „Mangelnde Durchlüftung verlängert den Verwesungsprozess.“ Corinna steht hinter ihm. „Und das führt zur Verunreinigung des Grundwassers, wussten Sie das?“ Sie will den Revolver ziehen. Die Situation ist günstig. Etwas hält sie zurück. „Die meisten wissen es nicht, und ich wette, dass es so mancher Friedhofsgärtner nicht weiß.“ Erst die anderen, und dann der Mann, der dich zu den anderen führt. Sie sagt: „Ich muss telefonieren.“ Sie entfernt sich, bis sie außer Hörweite ist und tippt die Nummer ein. „Mutter, ich habe den Koch. Er macht scharfe Senfsoßen und mag Friedhöfe, aber am meisten mag er das Meer.“

„Hast du ihn erledigt?“

„Er ist anders.“

Sie hört die Mutter schwer atmen. „Du erledigst ihn, hörst du, und tu es gründlich.“

„Er kann mich zu den anderen führen.“

„Dann mach ihm Angst, hörst du, er braucht Angst um sein Leben, und dann wird er reden.“

„Ich glaube nicht, dass er sich viel aus seinem Leben macht.“ Corinna hört, wie die Mutter ein Streichholz entflammt. „Und aus unserem Leben, was hat er daraus gemacht?“ Die Mutter inhaliert. Corinna sieht sie vor sich, in der Küche am Esstisch, den Aschenbecher in Reichweite, im Rücken Herd und Boiler, jenseits des Tisches die Balkontür, die zum Hinterhof rausgeht, in dem die Mülltonnen stehen. „Er hat einen Peter erwähnt.“

„Ich bin schlecht mit Namen, aber da war einer, vielleicht, dass er Peter hieß, und der war wirklich anders. Hat Geld gehabt, ein schönes Haus in Hamburg, und eine Nazifamilie.“

„Der Mann war ein Rechtsradikaler?“

„Das waren sie alle, es war modern, aber dieser Mann war politisch.“

„Und du?“

„Ich war ein Kind.“

„Was ist es, dass du dich nicht an die Namen erinnerst?“

„Es tut weh.“

„Wie willst du dich von etwas befreien, an das du dich nicht erinnerst?“

„Manchmal, da weiß ich sie ja.“

„Schreib sie auf.“

„Versuch ich, aber sobald ich es versuche, sind sie weg oder woanders. Ich gehe jetzt trainieren.“

„Du bist wieder am Trainieren?“

„Wir brauchen Kraft, meine Liebe, wir sind im Krieg. Ich bin seit sechs Monaten dran.“ Corinna stellt sich das schmerzverzerrte Gesicht beim Stemmen der Hanteln vor, die Entschlossenheit, wenn die Mutter das nächste Gewicht auf die Stange schiebt. „Zum Henker mit der Liebe, Mutter.“

„Red nicht so mit mir, meine süße Liebe, ich bin deine Mutter.“

„Klara, das ist deine Liebe.“ Es kommt aus ihr raus wie alles andere. Sie hat es nicht kommen sehen.

„Lass deine Schwester aus dem Spiel, hörst du?!“

„Und du, sprich du nicht von Liebe.“

„Kann jeder zu sagen, wie er will, aber lass deine Schwester aus dem Spiel, hörst du?!“

„Danke für die Patronen.“ Ein Glas fällt um, die Mutter stellt es wieder auf. „Mutter? Pass auf dich auf, und wenn du dein Phäschen hast, dann nimm die Tabletten.“ Neun Jahre, dass Klara tot ist. Neun Jahre, dass sich bei der Mutter Depression und Manie abwechseln. Neun Jahre, dass sie dazu Phäschen sagen. Corinna legt auf. Eine Manie ohne Tabletten, die ist gefährlich. Sie vergewissert sich, dass die Revolvertrommel bestückt ist. Sie sieht über die Schulter zu Schleyer hin, der mit dem Rücken zu ihr dasteht. Sie tritt mit gezogener Waffe von hinten an ihn heran. „Wissen Sie“, sagt Schleyer, ohne dass er sich zu ihr umdreht, „auf dem Boot ist es wie im Krieg.“ Sie zielt auf seinen Nacken. „Man hält zusammen, ob man will oder nicht, weil man zusammenhalten muss, und um die Sache erträglich zu machen, nennt man es Freundschaft.“

Sie steckt die Waffe weg. „Interessant.“

„Für die Humanbiologin?“ Sie antwortet nicht. „Es ist eine böse Freundschaft, Frau Humanbiologin, in einer bösen Welt, einer Welt, die zusammenschweißt, was nicht zusammengehört.“ Er dreht sich zu ihr um. „Was macht eine Frau wie Sie mit einer Waffe?“ Sie spürt das Adrenalin, das ihr in den Kopf schießt. „Sie hatten im Radieschen einen Revolver in Ihrer Handtasche. Sailor hat ihn gefunden und glaubt, dass ich es nicht mitbekommen habe.“ Corinna starrt den Mann an. „Radieschen“, sagt der Mann, „das Lokal, in dem Sie sich heute begegnet sind?“

„Er hat meine Handtasche durchsucht?!“ Du musst Zeit gewinnen, jetzt, sofort.

„Als Sie auf der Toilette waren. Er hat die Patronen entfernt.“

„Er hat sich an meinen Sachen zu schaffen gemacht?!“

„Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie ihm so etwas nicht zugetraut hätten.“

Sie hört das Rauschen ihres Blutes, bewegt den Kopf, das Blut bewegt sich mit, das Rauschen verdichtet sich, löst sich auf, kommt wieder, dann steht da ein Satz: Dieser Mann geht davon aus, dass der Revolver nicht geladen ist, du bist den Schritt voraus.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Die Waffe ist ein Familienstück und eher was für Karnickel.“

„Sie sollten trotzdem vorsichtig sein mit so etwas.“

„Mit so etwas, ja genau.“ Das Rauschen ist weg oder woanders, die Gedanken sind wieder klar. Der Mann rät dir zur Vorsicht, und das tut keiner, der sich bedroht fühlt. Ihre Hand steckt in der Tasche und hält die Waffe. „Fühlen Sie sich bedroht?“

„Sollte ich?“

„Ach.“ Sie fällt in einen Zustand der Erschöpfung. Sie spürt den Alkohol und will mehr davon. Ihr Blick wird glasig. „Er hat mich gepimpert, und wo ist er jetzt hin?“ Erst das hier, und dann kannst du dich volllaufen lassen. „Und Sie?“ Sie überkommt das Bedürfnis, den Mann zu verletzen. „Sind wohl einer, der mit dem Kopf denkt?“

„Ich kann auch anders“, sagt Schleyer, ohne dass es bösartig klingt.

„Und die anderen?“

„Können nur anders.“ Er deutet auf die Handtasche. „Seien Sie vorsichtig. Mit der Waffe und mit Männern wie Sailor.“

„Ich studiere den Mann an sich. Und das Verhältnis der Männer untereinander.“

Sein Lächeln wirkt aufgesetzt. „Den Mann an sich.“ Er hört auf zu lächeln. „Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen das abnehme?“

„Ich wollte Ihren Freund studieren, und dann hat sich etwas anderes ergeben, ja warum denn nicht, er ist doch Ihr Freund?“ Pass auf, was du sagst, hörst du, und pass auf, wie du es sagst, genau, sag, was du willst, aber sag es so, dass er es dir abnimmt. „Vielleicht, dass Sie sich doch bedroht fühlen?“

„Ja wie hätten Sie es denn gerne?“

„Ein Mann, der sich von einer Frau bedroht fühlt.“

„Da müssen sie schon mehr auffahren.“ Er setzt sich auf die Mauer, die die Kirche umgibt. „Sie wollen uns verstehen?“ Corinna setzt sich neben ihn und hält einen Meter Abstand. „Los jetzt, erzählen Sie. Von der Schutztruppe und Dingen, die man ungeschehen machen will.“ Schleyer greift nach seiner Hand und massiert die Narbe. „Weihnachten 1973. Wir haben ein Geschäft aufgezogen und waren zu jung, um zu begreifen, wie so etwas läuft.“

„Wie jung, welches Geschäft?“

„Wir waren dreizehn und haben es neben der Schule betrieben. Das erste Mal auf dem Weihnachtsmarkt. Zwei haben Weihnachtsclown gespielt, zwei abkassiert.“ Corinnas Blick fordert mehr. „Die beiden sind Bilderbuchclowns, waren sie damals schon. Der Lange und der Dicke.“

„Und Sie waren der, der abkassiert hat?“

„Sailor und ich haben den Volksfestbesuchern die Taschen leergeräumt, bis wir an den Falschen geraten sind. Hausarrest, ein bisschen Prügel, ein Jahr später haben wir Ware verschoben. Anlagen, Fahrräder, alles. Bis wir wieder an den Falschen geraten sind.“

„Mit vierzehn?“

„Wir sind im Heim aufgewachsen. In Schöneberg.“ Es klingt nach Rechtfertigung.

„Und da darf man Sachen machen, die andere Jungs nicht machen dürfen?“

„Im Heim, da musst du dich durchsetzten, wenn du nicht vor die Hunde gehen willst.“

„Was kam danach?“

„Es hätte uns eine Lehre sein sollen.“

„War es aber nicht.“

„Sailor hatte eine neue Idee, und dann kam Peter dazu.“ Er winkt ab. „Schluss jetzt.“

„Ist es die Sache mit der Schutztruppe, ist es die?“ Bohr ein bisschen weiter, nur noch ein bisschen, gleich ist er soweit, er wird dir die Schweinerei beichten, und dann knallst du ihn ab, komm nur her du, Mama wird zufrieden sein.

„Ein Jahr später hat uns Sailor einen Job auf dem Schiff verschafft.“

„Und jetzt sind Sie wieder hier“, sagt Corinna, und dann: „Die Sache mit der Schutztruppe, Schleyer, los jetzt.“

Schleyer starrt in den Himmel. „Warum geht eine Frau wie Sie mit einem wie Sailor mit?“

„Er ist ihr Freund, und Sie reden gerade so, als wenn er es nicht wäre.“

„Sie müssen sich vor diesen Männern in Acht nehmen.“

„Und vor Ihnen?“

„Früher, da hätten Sie sich vor mir auch in Acht nehmen müssen. Heute bin ich Gärtner.“

„Die Gärtnerei ist ein brutaler Beruf.“

Ihn fröstelt. Er zieht den Mantel enger an seinen Körper. Er spürt die Narbe an der Hand. Er steckt die Hand in die Manteltasche. „Wenn ich in einem Baum stehe und seine Äste schneide, dann weiß ich, dass es das Beste für den Baum ist.“ Er sieht zu einem Baum hoch, der selbst die Kirche überragt. Über seiner Krone reißt die Wolkendecke auf. Die Zweige und Blätter, die der Herbst dem Baum gelassen hat, sind im nächtlichen Licht gut zu erkennen. Schleyer erhebt sich und tut einen Schritt zur Seite, um sich besser zu positionieren. Ein Windstoß fährt durch die Krone. „Erle“, sagt Schleyer, „ist gut zu besteigen, und bei Südwind hört sie sich nach einer Unzahl von Streichern an.“ Er sieht ihren zweifelnden Blick. „Südwind ist hier selten, und entsprechend hat der Baum sein Blattwerk ausgerichtet.“ Corinna starrt in die Baumkrone und versucht vergeblich, Nuancen in dem Geräusch auszumachen. „Es dauert, bis man es hört“, erklärt Schleyer, „und hier unten kommt man nicht weit.“

„Jeder, wie er will“, sagt Corinna, und dann versucht sie es erneut: „Was ist passiert, bevor Sie angeheuert haben? Was ist hier in Berlin passiert?“ Schleyer starrt Richtung Osten. „Es wird Winter.“ Sie sieht ihm hinterher und denkt sich, dass das Matrosendasein vielleicht eine schöne Sache wäre, wenn da nicht die anderen Matrosen wären. „Der Winter kommt aus dem Osten und wird nicht haltmachen, bevor er das offene Meer erreicht.“ Er dreht sich zu ihr hin. „Sie sollten sich jetzt einen Ort suchen, der nach Weihnachten aussieht, und morgen Abend, wenn Sie uns dann immer noch verstehen wollen, dann kommen Sie ins Radieschen.“ Corinna wendet sich ab. „Zum Henker mit der Jahreszeit, Hauptsache, das Wetter passt.“ Sie geht. Seine Antwort kriegt sie nicht mehr mit. Am Heinrichplatz stehen die Raucher wie vorher auf der Straße. Die meisten rauchen schweigend. Und frieren. Schlagen mit den Armen um sich und stoßen Rauch aus ihren Lungen. Sie wechselt die Straßenseite und betrachtet die Auslage des Tätowierstudios. Eine Fotoserie zeigt dem Betrachter, wie das Tätowieren funktioniert. Das elektrische Schwinggerät macht 3000 Stiche pro Minute. Die Farbe wird mit einem Farbblock von sieben Nadeln in die zweite Hautschicht injiziert. Es wird davor gewarnt, selber Hand anzulegen. Sie betrachtet die Motive. Es gibt Old School, Asiatisch, Schriften, Fantasy, Blüten, Keltisch, Christlich, Tribals. Den Berliner Bären gibt es nicht. Sie geht weiter, tritt nach einer Zigarettenschachtel. Wer Schutz braucht, wird angegriffen, da geht es schon mal los. Sie wählt Julias Nummer und legt auf, bevor die Freundin abhebt. Das Telefon klingelt.

„Du hast mich angerufen.“

„Es ist nichts.“

„Wieso hast du mich angerufen?“

„Lass gut sein.“ Corinna bleibt vor einem Schaufenster stehen, in dem ein Weihnachtsmann den Kindern einen Sack voll Holzbausteine vor die Füße schüttet. Die Kinder machen große Augen.

„Du rufst an, und dann ist da nichts und ich soll es gut sein lassen?“

„Ich wollte deine Stimme hören.“

„Schön, da ist sie, sie ist ein bisschen erkältet.“

„Wer Schutz braucht, wird angegriffen, da geht es schon mal los.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Wirklich, ich wollte nur deine Stimme hören.“

„Das sagst du, damit ich es gut sein lasse.“

Vor dem Schaufenster steht ein Stuhl. Corinna setzt sich, spürt augenblicklich die Kälte, die durch den Stoff ihrer Kleidung dringt und hat augenblicklich Angst um ihre Blase. Sie legt auf und geht weiter. Erreicht die Oranienstraße. Das Telefon klingelt erneut. Es ist ihre Mutter. „Und?“

„Ich werde sie morgen in dem Restaurant treffen.“

„Was ist mit dem Koch?“

„Er liebt das Rauschen der Bäume.“

„Bäume interessieren mich nicht. Du hast ihn erledigt?“

„Ich komme über ihn an die anderen ran. Und dann spiele ich sie gegeneinander aus, ja genau.“

„Du bist ein Kind.“

„Die können so etwas am besten.“

„Kinder?“ Sie hört die Mutter lachen. „Kinder?!“ Das Lachen entfernt sich, kommt wieder. „Mutter?“ Corinna sieht auf das Display. „Mama?“ Es ist 21 Uhr 30. „Mama?!“ Sie fährt herum. Ein Zeitungsverkäufer parkt sein Moped am Eingang zur U-Bahn und trägt die Zeitung von morgen in das Untergeschoss. Er macht sich nicht die Mühe, den Motor abzustellen. Die Abgase lassen die Luft kondensieren. Eine Frau stochert mit einem Stock im Mülleimer. „Mutter?“

„Kinder“, meldet sich die Mutter zurück, „tun das, was sie tun sollen, hörst du, das, was man ihnen sagt, dass sie tun sollen.“ Sie macht eine Pause. Betonungspause, denkt Corinna, je länger sie dauert, desto weniger darf ich's verbocken. „Ich will, dass du sie erledigst, hörst du, und ich will, dass du es gründlich tust.“

„Morgen“, sagt Corinna, „ich treffe sie im Radieschen, oder denkst du, dass es zu gefährlich ist?“

„Du bist den Schritt voraus, Liebes.“ Sie würde sich wünschen, dass die Mutter ihr zur Vorsicht rät, wenigstens das. „Er hat gesagt, dass sich die Erle bei Südwind anhört wie ein Streichorchester.“ Die Mutter zündet sich eine Zigarette an. Inhaliert. Drückt die Zigarette aus und zündet sich eine neue an. „Zum Henker mit dem Streichorchester. Ich gehe jetzt trainieren.“

„Morgen Abend, Mutter, im Radieschen.“

„Ich bin bei fünfunddreißig Kilo, meine Liebe, ich komme in Fahrt, deine Mutter ist eine Macherin.“

„Vergiss nicht die Tabletten.“ Corinna legt auf. Ihr kommt sein Zimmer in den Sinn. Sie ruft noch einmal an. „Er liegt in dem Zimmer.“ Die Mutter atmet schwer. „Du hast mich aus dem Rhythmus gebracht.“

„Er ist noch im Zimmer, Mutter, und der Koch weiß, dass ich mit ihm dort war.“

„Du hättest den Koch erledigen sollen.“ Die Mutter nimmt den Hörer in die andere Hand. „Erwartest du, dass ich da reingehe und den Kerl raushole? Ist es das, was du von mir erwartest?“ Corinna antwortet nicht. „Wer hat hier wen gemacht, meine Liebe?“

„Du hast Klara gemacht, und dann hast du mich gemacht.“

„Du sollst deine Schwester aus dem Spiel lassen.“

„Du hast mich gemacht.“

„Vergiss das nie.“ Die Mutter lässt ein Glas volllaufen. „Du tust, was ich dir sage.“

„Er kauft mir die Seminararbeit nicht ab.“

„Diese Arbeit macht die Sache hieb- und stichfest, hörst du, so, dass ihr keiner etwas anhaben kann.“

„Hokuspokus.“

„Hokuspokus“, bestätigt die Mutter, „die Welt will getäuscht werden.“

„Und wenn sie es mir nicht abnehmen?“

„Wenn sie es dir nicht abnehmen, dann deshalb, weil sie es nicht verstehen, hörst du, und das ist gut, denn wenn jemand etwas nicht versteht, dann wird er es nicht hinterfragen, er wird es so akzeptieren, wie es ist, ich kenne diese Matrosen, sie ziehen den Hut vor Dingen, die sie nicht verstehen.“

„Ist gut, Mutter.“

„Und wenn du noch einmal von den Tabletten anfängst, dann muss ich mir etwas überlegen.“

„Zweiter Stock, Mutter, dritte Tür rechts.“ Corinna legt auf. Sie geht die Adalbertstraße runter und kauft einem Dealer am Kottbusser Tor eine Tageskarte für den Innenraum ab, die um diese Uhrzeit für zwei Euro hergeht. Sie steigt in die U-Bahn, sucht sich ein leeres Abteil, setzt sich ans Fenster und beobachtet die Gebäude, die an ihr vorbeihüpfen. Sie erinnert sich an einen türkischen Imbiss im Erdgeschoss, kann ihn aber nicht ausmachen. Am Görlitzer Bahnhof steigt sie um und fährt in die entgegengesetzte Richtung zurück. Auf der dritten Fahrt sieht sie den Imbiss. Dann glaubt sie, das Fenster zu seinem Zimmer zu erkennen. Vom Zimmer selber sieht sie nichts. Sie wird es bei Tageslicht noch einmal versuchen. Sie steigt am Kottbusser Tor aus, kauft eine Flasche Rotwein, fährt mit dem Taxi nach Hause, legt sich in die Badewanne und lässt sich volllaufen.




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