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Cry for me Argentina

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Vor mir im Zug sitzt ein Paar aus Argentinien, schon älteren Datums. Wie sich herausstellt, nur wenig jünger als ich. Den beiden - auf Europareise - haben böse Buben in Paris die Zugtickets gestohlen, und die Deutsche Bahn hat ihnen in nahezu grenzenlosem Wohlwollen ein Kulanzticket bis Basel ausgestellt.

Wie sich das für Argentinier gehört, sprechen sie nur das, was man in Argentinien für Spanisch hält - und zufällig sind gerade heute keine der sicher zahllosen Bahnmitarbeiter/innen unterwegs, die dieser Sprache mächtig sind. Bahn und Argentinien stehen sich quasi unfähig zur Kommunikation gegenüber.

Auch ich spreche leider nicht Spanisch, aber etwas Italienisch - was aufgrund mancher gemeinsamer Sprachwurzeln helfen könnte. Ebenso grossmütig wie grössenwahnsinnig biete ich meine Hilfe an.

Drei Stunden später sitzen wir in einem Abteil eines Ersatzzuges und die beiden sind begeistert, dass sich jemand ihrer angenommen hat. Dieser Begeisterung geben sie relativ lautstark Ausdruck, indem er (ich kenne nicht den Namen, wir sagen einfach nur du) laut singt und pfeift. Von Natur aus ist er mit einem Stimmvolumen gesegnet, das gute Laune als Grundstimmung ahnen lässt.

In Baden-Baden allerdings passiert das Unglück: in den völlig überfüllten Zug - die Menschen sitzen in den Gängen auf ihren Koffern und entsprechend mässig sind die individuellen Launen - kommt ein Ehepaar, das ausgerechnet im Epizentrum der Fröhlichkeit - also in meinem Abteil - Platz findet. Er ein dicker Mensch mit sandfarbenem Haar, sandfarbenem Schnurrbart, sandfarbenem Gesicht und einer Miene, die klar besagt, wie sehr er die Welt hasst. Der Schnurrbart ist korrekt je einen halben Zentimeter von den Mundwinkeln entfernt abrasiert, was ihm eine Aura verleiht, die eigentlich kein normaler Mensch anstrebt, es sei denn, er hätte eine starke Affinität zu österreichischen Gefreiten. Seine Frau ist eine kleine unscheinbare Blondine, deren Ausstrahlung zumindest um Grade freundlicher ist als die ihres sandigen Gatten.

Der Argentinier ist nach wie vor guter Dinge und lautet vor sich hin. Für westeuropäische Gemütsregungen ungewohnt, verleiht er seiner Freude durch lauten Spontangesang sowie durch frohes Pfeifen Ausdruck, was in dem kleinen Bahnabteil zugegebenermaßen etwas fremdartig wirkt.

Der dicke Sandmann krümmt sich in seinem kurzärmligen, weiss-rot-karierten Hemd über sein Buch wie eine Schnecke über einen Blütenstengel und flüstert gut vernehmbar kurze Satzfragmente wie „Was denken die sich eigentlich?“ und „Baaah, dieser Kerl!“ oder „Unerträglich!“ Die Argentinier verstehen es Gott sei Dank nicht und lassen sich ihre lateinamerikanische Ausgelassenheit nicht verderben, was den Geräuschpegel im Abteil konstant relativ hoch hält. Ich habe seit Stunden kein deutsches Wort mehr gesprochen.

An der nächsten Station wuchtet Sandmann seinen Koffer von der Ablage und sich selbst durch das Abteil, wiederum laut brummend „Ich könnte ja jetzt auf Wiedersehen sagen, aber das will ich auf keinen Fall!“ Ich sage freundlich „Machen Sie sich keine Gedanken, von uns will Sie ganz gewiss auch keiner jemals wiedersehen!“

Schön zu sehen, wie Sandmann zum Bleichmann mutiert und wortlos keuchend unter der Last des Koffers und der Erkenntnis dem Abteil entflieht.

Mitschkipedia - VERSTÄNDIGUNGSPROBLEME: Meist bei Personen auftretend, die durch Verwendung der gleichen Sprache vereint sind. Bei Unterhaltungen von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten eher selten zu beobachten, da jeder sich Mühe gibt, die anderen zu verstehen und selbst verstanden zu werden.

Die Bahn und ich

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