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KaWi

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Der Bahnhof Kassel Wilhelmshöhe ist trotz seines kaiserlichen Namens eine elende Schmuddelecke, unattraktiv, es gibt weder schöne Geschäfte noch ein vernünftiges kulinarisches Angebot - sieht man von der lebensrettenden Currywurst ab, die gut schmeckt, bei der man nur über die Fingernägel der Verkäuferin den barmherzigen Mantel des Schweigens decken sollte.

Man flaniert einfach nur durch den Bahnhof, ohne irgendetwas zu berühren, und die Sehnsucht nach einer ausgiebigen Dusche wird übermächtig. Mentale Schwingungen von Schmutz sorgen für den Graueffekt, der diesem Bahnhof anlastet.

Vorgestern hatte ich das Vergnügen, diesen Höhepunkt deutsch-bahnlicher Servicequalität in aller Ausgiebigkeit zu geniessen. Irgendein Zug hatte irgendwo eine Oberleitung unsanft berührt, und in ganz Deutschland stand der Bahnverkehr still. In KaWi waren alle Gleise jeweils mit zwei Zügen besetzt, die sich - ähnlich flügellahmen Krähen - weder vor- noch rückwärts fortbewegen konnten. Entsprechend gelaunt war das Gros der Fahrgäste, mich nicht ausgenommen.

Eine Gruppe von sechs vermutlich 64jährigen Frauen, offenbar von einer gemeinsamen Tour zurückkehrend, stand auf dem Bahnsteig und verkündete lauthals, unter allen Umständen nach Brilon-Wald zu müssen. „Selbst schuld“ dröhnte der Bass eines schwergewichtigen Mannes, „wer wohnt auch schon in

Brilon-Wald!“ Beleidigt drehen ihm die Damen ihre hintere Seite zu und fassen den Entschluss, erst mal „eine zu rauchen“. Nachdem sie ihre Zigaretten halb aufgeraucht haben, hustet die eine „Oi - schaut nur, da steht „rauchfreier Bahnhof!" „Na und“ sagt die grösste, eine Frau von 1,80 m mit Pferdegesicht - „was glaubt Ihr, wieso hier überall tausend Kippen auf dem Bahnsteig liegen?"

„Weil alle so doof sind wie Ihr, Ihr Hühner, und einfach das Schild ignorieren" höre ich mich sagen. Sonst hört es keiner.

Ich gehe vom Bahnsteig hoch auf die Verkaufsebene. Die wenigen gastronomischen Angebote, die heute das Geschäft ihres Lebens machen könnten, sind gerade dabei zu schließen. Die gigantische Menschentraube, die laut schimpfend und gestikulierend vor einem Stand steht und an Bananenverkäufe in der früheren DDR erinnert, versucht keineswegs, ihren Ärger durch den Verzehr von Südfrüchten zu stillen, sondern steht vor dem Infoschalter der DB. Hinter dem Glas des Infoschalters sehe ich zwei graue menschliche Gesichter mit der Panik der Hilflosigkeit, doch nichts dafür zu können, aber dennoch Wutventil sein zu müssen.

Ich versuche, dem Gedränge zu entkommen und einen halbwegs stillen Platz zu finden. Es gelingt mir schräg hinter dem kleinen Kiosk, der Süssigkeiten und Schnaps anbietet. Nach beidem steht mir nicht der Sinn.

Ich sehe einen grauen angeschmuddelten Mann im Jeansanzug, der mit einem grossen Notizblock auf Menschen zugeht und sie anspricht. Die meisten schütteln den Kopf, ehe er auch nur den Mund aufmachen kann. Er kommt auf mich zu und fragt, ob er mir eine Frage stellen könne. Ich verzichte darauf, ihn zu belehren, dass er genau dies gerade getan habe, und ermutige ihn mit einem „Fragen Sie!“

Im Auftrag der Deutschen Bahn sei er unterwegs, erklärt er, und er solle eine Befragung dazu durchführen, wie die Reisenden den Bahnhof Kassel Wilhelmshöhe fänden.

Mitschkipedia - KUNDENBEFRAGUNG: Massnahme von Firmen, die glauben, zu wenig Geld zu haben, in Form von in Auftrag gegebener Nötigung harmloser anderer Menschen mit dem Ziel, zu erfahren, wie diese Firmen ihre finanzielle Lage deutlich verbessern können. Da dies allerdings meist damit einhergeht, dass zwar das Kapital der beauftragenden Firmen wächst, dasjenige der befragten Personen aber gleichzeitig schrumpft, reduziert sich die Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Befragungen deutlich.

Die Bahn und ich

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