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Der Zoologe

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Der Fahrkartenkontrolleur erschrak fast zu Tode, als er in den 1.-Klasse-Waggon trat und direkt auf dem Sitzplatz an der Tür einen Gorilla sitzen sah, der offenbar genussvoll eine Wurst verspeiste.

„Wem....wem gehört dieses Vieh?" schrie er laut. „Das muss sofort in einen Käfig gebracht werden, die Sicherheit der Reisenden ist gefährdet! Und wieso verspeist dieses - dieser Affe hier eine Bratwurst?"

Der Gorilla drehte seinen Kopf ein wenig und sah den Bahnmitarbeiter freundlich an. „Currywurst" sagte er. „Wie bitte?" flüsterte der erschrockene Bahnschaffner und trat drei Schritte zurück. „Es handelt sich um eine Currywurst" sagte der Gorilla, „und sie ist gar nicht so schlecht, wie immer behauptet wird. Und ein Affe - ich bitte Sie! Mein Name ist Prof. Dr. Weissmüller, und ich bin Direktor des Zoos in Wanne-Eickel. Momentan bin ich als Berater der Bundeskanzlerin unterwegs - wir untersuchen gerade die Frage, wie das neu zu schaffende Gehege für die äusserst seltene Okapi-Ameisenbär-Kreuzung beschaffen sein muss, deren Züchtung uns in Wanne-Eickel gelungen ist. Wollen Sie mein Ticket sehen?" Nahezu erschlagen von der Situation nahm der Kontrolleur mit zitternden Händen das Ticket und veredelte es mit seinem unverzichtbaren Knipser. Mittlerweile waren einige andere Personen aufgestanden und ringten sich um das exotische Paar Gorilla/Bahnschaffner. „Hier bitte" sagte der Gorilla, „ich zeige Ihnen gern ein paar Fotos!

Schauen Sie" - und er holte eine kleine Ledertasche aus seinem Mantel, den er an den Aufhänger am Fenster gehängt hatte - „hier bin ich neben der Kanzlerin!" Die Umstehenden sahen auf dem Foto den Gorilla im dunklen Anzug, mit Krawatte, direkt neben der Bundeskanzlerin stehend und ihr offensichtlich etwas erklärend. Etliche fein angezogene bleiche Personen - sicherlich Staatssekretäre oder ähnlich überflüssige, aber hochbezahlte Menschen - standen hinter Gorilla und Kanzlerin und bildeten so die notwendige Personenstaffage, denn ein Foto nur mit Kanzlerin und Gorilla wäre komisch. „Und hier" - er zog ein weiteres Foto aus dem Etui - „hier zeige ich der Frau Bundeskanzlerin unseren ganzen Stolz - Heiner, unser neugeborenes Okapi-Ameisenbär-Baby! Schauen Sie nur, so etwas sehen Sie nicht alle Tage!" Die Umherstehenden samt Schaffner geizten nicht mit „Ahs" und „Ohs", als sie das hässliche kleine Wesen mit überdimensionalem Rüssel und gestreiften Beinchen sahen, das wirkte, als habe man ihm viel zu grosse Ringelsocken angezogen. „Ein zoologisches Wunder, wirklich eine Sensation" sagte der Gorilla, „die Zoowelt beneidet uns um diesen Erfolg! Nun müssen wir einfach schauen, dass die Aufzucht gelingt - nicht ganz einfach, wenn man allein an das Futter denkt: Eine ausgewogene Ernährung aus Früchten, Gras und Ameisen muss täglich frisch zubereitet werden, und die Ameisen dürfen nicht älter als vier Wochen sein, sonst schmecken sie zäh und verkleben den Darm unseres Kleinen!" Er packte das Foto wieder zurück, wobei ein anderes aus dem Etui zu Boden fiel. „Und das" fragte eine Frau, „was war das denn? Zeigen Sie doch mal das Foto, das eben heruntergefallen ist!“

Der Gorilla nahm das Foto in die Hand und schaute darauf. Sein Gesichtsausdruck wurde etwas betrübt, und er zeigte das Foto herum. Auf ihm war ein älterer, weißhaariger Mann zu sehen, in einem weissen Kittel, die Hände umklammerten fest ein paar Gitterstäbe und er schien laut zu schreien. „Dies habe ich der Frau Bundeskanzlerin nicht gezeigt“ sagte der Gorilla nachdenklich. „Eine traurige Geschichte - das ist Hugo, unser Gorillamännchen. Er war auf einmal der festen Überzeugung, ein Mensch zu sein; wir mussten ihn leider einschläfern!“

Mitschkipedia - MENSCHENAFFE: Nicht eindeutig einer Spezies zuzuordnendes Lebewesen, meist sehr behaart, mit deutlichem Machogehabe und sehr bestimmendem Wesen. Kommt in Wäldern und in Häusern vor, häufig auch in Büros.

Die Bahn und ich

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