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3. Redewirkung als Mittel der Vermeidung physischer Gewalt

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Aus der Darstellung, die Cicero vom Übergang der Menschen aus dem Stadium der tierischen Wildheit in den Zustand der Zivilisation liefert, lassen sich einige bemerkenswerte Aspekte des rhetorischen Verhältnisses von Kultur und Ethik herleiten. Seine detaillierte Schilderung des Persuasionsaktes geht davon aus, dass der »bedeutende und weise Mann« die zerstreut lebenden Menschen »zusammentrieb«, wogegen sie zunächst »lautes Geschrei« erhoben, dann aber »aufmerksamer zuhörten« und zuletzt aufgrund der »gewandt« gesprochenen und vernünftigen Worte »aus wilden und schrecklichen zu sanften und zugänglichen Wesen« wurden. Körperliche Gewalt verwendet dieser Weise nur zu Anfang, als er die Menschen zusammentreibt; dann aber verzichtet er darauf und macht seinen Einfluss auf sie nur noch durch den »zwanglosen Zwang«60 seiner Worte geltend. Auch die Zuhörer verzichten auf die ihnen verfügbare Form von Gewalt: Sie geben ihren Widerstand auf und wandeln sich von widerspenstigen in sanftmütige Wesen, die der Wirkung von Beredsamkeit und Vernunft zugänglich geworden sind. Nach Cicero wird Gewalt durch die zivilisierende Macht der Worte also nicht nur überwunden, sondern jetzt auch bewusst vermieden, denn sowohl Redner wie Zuhörer hätten weiterhin die Option zur Anwendung von körperlichem Zwang bzw. von physischem Widerstand gehabt. Damit kommt ein ethischer Aspekt in Ciceros Schilderung des Kultivierungsvorgangs: Das Handeln der Menschen erscheint als Resultat einer bestimmten Wahlentscheidung zwischen mehreren Alternativen.61 Indiz dafür ist seine Charakterisierung der gewaltsamen Handlung als »Leidenschaft«, die »als blinde und zügellose Herrin über die Seele« aus »Wahn und Unwissenheit« die Kräfte des Körpers« missbrauche.62 Mit dieser zugespitzten, wertenden Formulierung fällt er ein moralisches Urteil über gewaltsames Handeln, wogegen er vorher nur neutral einen Vorgang zwischen verschiedenen Akteuren und dessen Resultate beschrieb. Gewalt vor und nach der Kultivierung stellt sich nach Cicero also in verschiedener Perspektive dar: Gewaltausübung im Naturkontext, die aus einem Zustand tierischer Wildheit entsteht, erscheint als unkontrolliert ablaufender Prozess und triebhaft; Gewalt im Kulturkontext, selbst wenn sich Wildheit und Triebhaftigkeit in ihr äußern, enthält aufgrund des veränderten Umfeldes, in dem sich das menschliche Leben jetzt abspielt, immer ein Element von bewusster und zu verantwortender Entscheidung, für die der Täter sich rechtfertigen muss.63

Nun könnte man einwenden, Überwindung und Vermeidung von Gewalt seien beinahe dasselbe und würden im konkreten Handlungsakt praktisch zusammenfallen. Und doch sind sie ethisch gesehen zu unterscheiden, denn »Überwindung« bedeutet hier nur »Ersetzung« von Gewalt, wogegen »Vermeidung« die moralische Entscheidung betrifft, auf Gewalt zu verzichten. Erst mit dieser Entscheidung wird die kulturelle zugleich zur ethischen Handlung. Auch der im obigen Isokrates-Zitat verwendete Ausdruck »ein Leben führen« enthält neben dem kulturellen einen ethischen Aspekt. Strenggenommen »führen« nur die Menschen, nicht aber die Tiere ihr Leben.64 Für diese ist das Leben allein ein vitaler Vorgang. Es stellt ihnen nicht die geistige Aufgabe, den Freiheitsspielraum ihrer Existenz zu gestalten, indem sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten, ihre Handlungen begründen und Verantwortung dafür übernehmen. Das Tier kennt keine Spannung in sich zwischen Höherem und Niederem, keinen Gegensatz von Geist und Sinnlichkeit. Diesen Gegensatz vermag nur der Mensch nach der und durch die Kultivierung reflektierend in seinem Leben so oder so zu gestalten und eine ganze Skala von ethischen Realisierungen dieses Verhältnisses zu entwerfen. Voraussetzung dazu ist der Erwerb von Bildung in den verschiedenen Phasen seines Lebens, alles Möglichkeiten, die dem Tier fehlen.65 Isokrates beschreibt im »Nikokles« genauer, welche Konsequenzen Erziehung und Beredsamkeit für die menschliche Lebensführung haben: »Die Sprache (lógos, die vernünftige Rede) nämlich ist es, die Richtlinien gegeben hat für das Gerechte und Ungerechte, für das, was schändlich und ehrbar ist. Ohne diese Richtlinien könnten wir nicht miteinander leben. Mit unserer Sprache […] weisen wir die Schlechten zurecht und rühmen die Guten. Mit Hilfe der Sprache erziehen wir die Unvernünftigen und zeigen den Verständigen unsere Anerkennung. Denn reden zu können, wie es nötig ist, dies betrachten wir als größtes Zeichen für Vernunft, und ein aufrichtiges, gesetzestreues und gerechtes Wort ist Abbild einer guten und vertrauenswürdigen Seele.«66 Wieder werden kultureller und ethischer Aspekt zusammengeführt, und zwar diesmal bezogen auf die vernunftgeleitete und soziale Funktion rhetorisch geformter Sprache.

Rhetorische Ethik

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