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5. Die ethische Beherrschung psychischer Gewalt in der Rede

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Die sophistische Rhetorik beeinflusste mit ihrer Redepädagogik aber nicht nur die Erziehung des einzelnen Bürgers, sondern formte zunehmend auch die Beredsamkeit in den politischen und juristischen Institutionen der Stadt Athen. Die Funktion dieser Institutionen basierte auf Mehrheitsentscheidungen, welche nach der Einführung der Demokratie die alleinige Entscheidungsbefugnis einzelner mächtiger Personen – seien es Adelshäupter oder Tyrannen – abgelöst hatten und so die Handlungsmöglichkeiten der Bürgerschaft sicherten. Diese Mehrheitsentscheidungen kamen durch rhetorische Auseinandersetzungen der verschiedenen Interessengruppen und ihrer Vertreter in oft schwierigen, meist auch kontrovers beurteilten Situationen zustande, wobei die geschickte Handhabung der Redegewalt natürlich einen großen Vorteil darstellte. Zu den Nachteilen der Anwendung dieser Gewalt gehörte es aber, dass sie nicht nur ein großes Wirkungs-, sondern auch Verführungspotential hatte, welches das Volk zu unbedachten Entschlüssen verleiten konnte. Nutzen und Schaden dieser Form von Gewalt lagen also nahe beieinander. Die großen Reden in der athenischen Volksversammlung, die Entstehung, Verlauf und Ausgang des Peloponnesischen Krieges begleiteten, liefern eindrucksvolle Beispiele dafür.76 Der Einfluss, den die Redekunst auf das öffentliche Leben im 5. und 4. Jahrhundert nicht nur in Athen, sondern auch in anderen Städten Griechenlands ausübte, führte daher zu der Frage: Wie kann die persuasive Gewalt, die von der Rhetorik ausgeht, gezähmt werden?

Dieses Problem wurde vor allem von der Philosophie aufgeworfen, denn Rhetorik und Sophistik waren aufgrund der Erfahrungen, die aus den desaströsen Folgen einer verfehlten Machtpolitik resultierten, fortwährender Kritik an ihrem Handeln vor allem von Seiten der Philosophen ausgesetzt. Die Philosophie hatte dem Menschen mit der theoretischen Analyse Macht über die Dinge, d. h. über die Welt außer ihm, verschafft, wie es die Erkenntnisse der ionischen Naturphilosophen belegen. Sokrates aber setzte dem die Praxis ethischer Reflexion entgegen und zeigte seinen Dialogpartnern im philosophischen élenchos, der sich nicht um Überwältigung, sondern um die kritische Überprüfung vorgefasster Meinungen bemühte77, wie der Mensch auch Macht über sich selbst, d. h. die Herrschaft über die eigenen Antriebe und Interessen, erringen könne. Die dialogische Rechenschaftslegung, das lógon didónai, bildete das Grundprinzip, das Sokrates für die Ethik entdeckt, mit seinen Verfahren der Induktion bzw. der Maieutik im Gespräch angewandt und an Platon weitergegeben hatte.78 Die Kritik der Philosophie am Bestreben der Rhetorik, Macht über andere Menschen zu gewinnen, äußert sich besonders in dessen Dialog »Gorgias«. Platon entwirft dort das Bild des nach seiner Auffassung wahren Redners. Dieser ist ein »rechtschaffener Mann (agathós anér), der um des Besten willen sagt, was er sagt […]«. Der »rechte und kunstmäßige Redner« wird darauf sehen, dass »Gerechtigkeit in die Seele seiner Mitbürger kommen möge, Ungerechtigkeit aber weiche und Besonnenheit […] und so jede andere Tugend hineinkomme […]«. Ohne Ordnung und Anstand bzw. Recht und Gesetz nimmt die Seele des Menschen Schaden.79 Gut sind die besonnene Seele und der besonnene Mann. »Wer also ein richtiger Redner werden will, muss notwendig gerecht und des Rechtes kundig sein […].«80 Das Gute, das er mit seiner Rede erstrebt, besteht nicht nur im Nutzen für ihn selbst, wie es die Sophisten proklamierten, sondern orientiert sich an der Idee des Guten als Prinzip der Moral, das auch nach dem Guten des Nützlichen fragt.81

Die Forderung nach ethischer Beherrschung der Redegewalt blieb in der Folgezeit ein wichtiges Thema in Philosophie und Rhetorik. Sokrates, Platon und später die Stoiker banden die Rhetorik an Tugendhaftigkeit und die Erkenntnis des Wahren durch den Gebrauch der Dialektik.82 Aristoteles band sie an die Überzeugungskraft des Wahren,83 Cicero – wie die Interpretation von »De inventione« gezeigt hat – an die philosophische Weisheit. Auch das auf Cato d. Ä. zurückgehende Ideal des vir bonus dicendi peritus84 propagierte die ethische Beherrschung der Redegewalt, wie sich besonders an Quintilian zeigt. Leitbild seiner Erziehungslehre, der »Institutio rhetorica«, ist der »vollkommene Redner (orator perfectus)« in dem Sinne, dass nur »ein wirklich guter Mann (vir bonus) ein Redner sein kann«, woraus folgt, dass er nicht nur eine »hervorragende Redegabe, sondern [auch] alle Mannestugenden« besitzt.85 Quintilian will den »Versuch wagen«, dem Redner »den Halt sittlicher Lebensführung« zu geben und »ihm seine festen Pflichten« zuzuweisen.86 Er setzt sich damit von denen ab, »die die Redegabe trennen von der Leistung einer untadeligen Lebensführung«87, die sie also wie viele der alten Sophisten und der Forumsredner seiner Zeit als bloße Überredungskunst im Dienste des Nützlichen verstanden wissen wollen. Um dieses Ideal zu erreichen, muss der angehende Redner seine Anlagen durch ausgiebige Studien des ganzen »Gebiet[es] des Gerechten und Guten« zur Sittlichkeit ausbilden.88 Quintilian entwirft damit sein Rednerideal als Synthese aus ciceronischem summus orator, der perfekt die rhetorischen Wirkungspflichten des Belehrens, der Unterhaltung und der leidenschaftlichen Erregung seiner Zuhörer beherrscht89, sowie stoischem vir sapiens, der nach der Tugendlehre Zenons und seiner Schülerschaft lebt.90 Dennoch ist er sich bewusst, dass die Rhetorik auch mit dem Einsatz von psychischer Gewalt arbeitet, und zwar als Strategie zur Überwältigung der Zuhörer, was nach seiner Meinung manchmal nötig ist. Er vergleicht die Rhetorik mit einer »Ausrüstung«, die der Redner »als Waffen zur Hand haben, mit ihrer Kenntnis gegürtet« sein muss, »wozu dann geläufige Fülle in Worten und Figuren, die Auffindungslehre, die Übung in der Gliederung, die Kraft des Gedächtnisses und der Reiz des Vortrages hinzukommt«.91 Der Redner braucht »die Überlegenheit des Geistes, die keine Furcht brechen, kein Zuruf schrecken« kann.92 Er ähnelt für Quintilian darin einem Feldherrn, der in den Krieg zieht und seine Truppen aufstellt. Bald wird er »frontal, bald in Keilform, bald mit Hilfstruppen, bald mit dem römischen Aufgebot den Kampf führen, manchmal wird es sich bewähren, sogar kehrtzumachen und Flucht vorzutäuschen«.93

Die moralischen Probleme, die dem vir bonus aus der Anwendung der persuasiven Redegewalt entstehen, erörtert Quintilian an vielen Stellen seines Buches, und zwar im Horizont der Spannung von Ehrenhaftem (honestum) und Nützlichem (utile), wie Cicero sie in seiner auf den Stoiker Panaitios zurückgehenden Schrift »De officiis« behandelt.94 Nutzen und Ehrenhaftes gehören für Quintilian zwar prinzipiell zusammen, sind aber in der Praxis oft nur mit Kompromissen zu vereinigen. Das erläutert er anlässlich seiner Erfahrungen mit dem Publikum im Kapitel über die Beratungsrede95, denn nach der aristotelischen Definition der Redegattungen ist das Ziel der Beratung die Information der Zuhörer über Nutzen und Schaden eines Sachverhalts.96 Quintilian plädiert dafür, die entsprechenden Themen vor dem Publikum nach dessen Fassungskraft zu behandeln, denn meist besteht es aus ungebildetem Volk. Ihm ist klar, dass der Redner, um seine Zwecke zu erreichen, dabei manchmal dem »Laster« frönt, also eigentlich unehrenhaft handelt bzw. Mittel psychischer Gewalt wie Schönfärbung, Abschwächung, Verfälschung, Insinuation oder Verschweigen der Wahrheit bzw. Aussage des Gegenteils97 anwendet. Bedingung solch einer Handlungsweise muss aber sein, dass er die Lüge nur für den Sieg der Wahrheit einsetzt, den Unterschied zwischen beiden genau kennt und sich nicht selbst in seinem Lügengewebe verfängt. Außerdem begründet Quintilian den persuasiven Gebrauch von Lüge und Täuschung mit der psychischen Disposition des Publikums: »[…] gäbe man mir Philosophen als Richter, beständen die Volksversammlungen und alle Sitzungen aus Philosophen, hätte der Neid, hätte der Einfluss keine Macht, auch die vorgefasste Meinung nicht und die falsche Zeugenaussage, so wäre der Raum für die Rhetorik recht schmal […]. Wenn aber die Zuhörer so schwankenden Sinnes sind und auch die Wahrheit so vieler Bosheit ausgesetzt ist – so heißt es, mit Kunstgriffen zu kämpfen und einzusetzen, was nützen kann.«98 Dies ist für ihn auch in einer Gerichtsverhandlung keine Schande, wenn der Fall selbst nicht unehrenhaft ist99 oder wenn die Übernahme »aus gutem Grunde geschieht […]. Denn auch sich einer Lüge zu bedienen ist selbst dem Weisen zuweilen gestattet, die Leidenschaften wird der Redner notwendigerweise erregen müssen, wenn der Richter auf andere Weise nicht zur Billigkeit gebracht werden kann; denn es sind ja unerfahrene Schöffen, die zu Gericht sitzen, und häufig muss man sie deshalb täuschen, damit sie nicht irrtümlich richten.«100

Doch nicht nur die Lüge, auch die Verteidigung eines Verbrechers mit allen rhetorischen Finessen kann nach Quintilian moralisch gerechtfertigt sein. »Angenommen, ein guter Feldherr, ein Mann, ohne den der Staat den Feind nicht besiegen könne«, heißt es im 12. Buch seiner »Institutio oratoria«, also ein geschickter Militärstratege, »stehe wegen ganz klarer Schuld vor Gericht, wird ihm dann nicht das Gemeinwohl den Redner zum Anwalt bestellen?«101 Die Güterabwägung, die das Handeln des Redners hier bestimmen soll, ist klar: die offenbare Schuld des Feldherrn gebietet eine Verurteilung, Gemeinwohl bzw. Staatsinteresse erfordern aber einen Freispruch. Der Freispruch aus Staatsräson muss in dieser schwierigen Situation nach Quintilian das Ziel des Redners sein, und darauf soll er hinarbeiten. Die staatsethisch motivierte Entscheidung, die Straffreiheit des Übeltäters als höheres Gut über Recht und Gesetz zu stellen, verbindet sich für den Redner jetzt mit dem Persuasionsproblem: Wie kann er als Anwalt so plädieren, dass die von ihm anvisierte Straffreiheit plausibel wird, damit der Richter den Feldherrn nicht schuldig spricht und so zur Sühne für das Unrecht verurteilt? Der Redner hat damit eine zweite Entscheidung zu fällen: Er muss nicht nur die Deckung des Unrechts für sich akzeptieren, sondern er muss danach ebenfalls sein rhetorisches Vorgehen einrichten. Das heißt: Auch seine redetechnischen Entschlüsse bezüglich der Wahl der Mittel zur Anwendung psychischer Gewalt bekommen eine ethische Qualität. Wie bei einem so problematischen Fall wahrscheinlich, wird der Redner nicht mit einer simplen Darlegung des Sachverhalts wie z. B. des Staatsnotstands durchkommen, sondern er muss auch versuchen, die Wahrheit zu verbiegen bzw. zu verschweigen, also zu den bekannten rhetorischen »Tricks« von Täuschung und Lüge greifen. Dazu kommt die Erregung der Leidenschaften beim Richter bzw. bei den Schöffen. Denn die Redekunst wird dort unwiderstehlich, »wo es […] gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun und den Geist selbst von dem Blick auf die Wahrheit abzubringen […]«, wie Quintilian ausführt. »[…] Beweise bringen es ja freilich zustande, dass die Richter unsere Sache für die bessere halten, die Gefühlswirkungen leisten es, dass sie das auch wollen […] Denn wenn sie Zorn, Vorliebe, Hass und Mitleid zu spüren begonnen haben, sehen sie die Dinge schon so, als ginge es um ihre eigene Sache, und wie Liebende über die Schönheit kein Urteil zu fällen vermögen, weil ihr Herz ihnen vorschreibt, was die Augen sehen sollen, so verliert der Richter allen Sinn für die Ermittlung der Wahrheit, wenn er von Gefühlen eingenommen ist.«102 Ein rednerisches Vorgehen wie dieses ist für Quintilian mit seiner Vorstellung von Ehrenhaftigkeit durchaus vereinbar, damit die Richter nicht – wie er sagt – »irrtümlich« richten, sondern dem Gemeinwohl und damit der Staatsräson dienen.103

Quintilian führt in seinem Buch neben moralischen Gesichtspunkten auch erkenntnistheoretische und handlungspraktische Argumente für dieses parteiliche Lavieren der Rhetorik zwischen Nutzen und Ehrenhaftigkeit an. In einer von Notwendigkeiten und Zwängen bestimmten Welt kann es nicht immer eine säuberliche, wissenschaftlich oft erst mühsam und aufwendig erreichbare Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum geben, sondern das Handeln muss sich meist am Vorläufigen und Wahrscheinlichen orientieren. »Ist es denn nicht so«, fragt Quintilian, »dass die Rhetorik gar nicht durchaus den Anspruch erhebt, immer die Wahrheit zu sagen, wohl aber immer das Wahrscheinliche?«104 Dabei kann es sogar zu unterschiedlichen, aber dennoch gleichberechtigten Sichtweisen kommen, wie er feststellt, denn bisweilen können auch »gerechte Streitfälle zwei weise Männer in Gegensatz bringen […].«105 In diesem Fall lässt sich die Rhetorik sogar für beide Seiten eines strittigen Sachverhalts in Anspruch nehmen, eine Erfahrung, welche die Subjektivität und Parteilichkeit rhetorischen Handelns spiegelt. Zur wahrscheinlichkeitsbestimmten Sicht der Welt gehört für Quintilian zudem die Veränderlichkeit der Dinge, die je nach Umständen so und auch anders gegeben und zu bewerten sind, sei es, dass man – wiederum im Gerichtsprozess – eine Tat als bloßes Faktum hinnimmt oder aber von ihren Ursachen her beleuchtet, oder sei es, dass eine an sich gute Tat dennoch für das Staatsinteresse schädlich ist, weshalb man dann nicht zu ihr raten kann.106

Wie man sieht, hat Quintilian die Problematik und Komplexität moralischer Fragestellungen in der Rhetorik gut beschrieben. Charakteristisch ist, dass er in seinen ethischen Überlegungen für eine flexible Anwendung von Normen plädiert, die sich nicht an fixen Prinzipien orientiert, sondern versucht, sich jedem einzelnen Fall anzupassen und ihm so gerecht zu werden. Daher misstraut er trotz seiner Empfehlung eines intensiven Ethikstudiums und seiner Orientierung an den Lehren der Stoiker doch der Philosophie bei der Lösung praktischer Fragen. Denn der Redner sollte für ihn nicht zum Philosophen werden, da keine andere Lebensform sich weiter von den rednerischen Aufgaben in der Bürgerschaft entfernt habe.107 Quintilian spielt hier die theoretische, weltabgewandte Form der Philosophie gegen die weltzugewandte, lebenspraktische Weisheit aus, wie sie in der nachahmenswerten Tugendhaftigkeit der römischen Vorfahren verwirklicht ist.108 Doch können wir als moderne Menschen mit seinen Lösungsvorschlägen nicht zufrieden sein, da er sich auf einen recht unbestimmten Tugendbegriff zurückzieht und für die ethische Urteilsbildung im Handeln nur einige wenige und dazu sehr allgemeine Maximen wie die schwierige Verbindung des Ehrenhaften mit dem Nützlichen benennt. Außerdem entscheidet sein ethisches Empfinden oft anders als unser modernes, das durch die strengen Moralbegriffe des 18. Jahrhunderts geprägt ist, wie sich vor allem an Quintilians Legitimierung des Freispruchs für einen Verbrecher aus Gründen der Staatsräson zeigt. Überdies gehört die primäre Beachtung des Ehrenhaften als Handlungsmaxime für uns heute wohl eher zum Moralkodex traditionaler Gesellschaften, wogegen die moralische Leitnorm einer modernen Gesellschaft in der Beachtung der Menschenwürde zu suchen ist. Doch dies gehört zur Frage der Gestalt einer zeitgemäßen rhetorischen Ethik, um deren Beantwortung es im Folgenden gehen wird.

Rhetorische Ethik

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