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2. Kultivierung durch die Rede als Überwindung physischer Gewalt

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Grundsätzlich ist zunächst festzustellen, dass die Kultivierung, d. h. der Ausgang des Menschen aus dem Naturzustand, sein Verhältnis zur Gewalt verändert. Diese Erfahrung prägt auch die rhetorische Kulturentstehungslehre44 zu Beginn von Ciceros Schrift »De inventione«. Um das zu verdeutlichen, seien zunächst die Konsequenzen des Übergangs von der natürlichen zur kulturellen Lebensform in der Sicht des Isokrates beschrieben. »[W]eil wir von Natur aus die Gabe besitzen, einander überreden und uns unsere jeweiligen Wünsche mitteilen zu können«, erklärt er in der »Rede des Nikokles«, »haben wir uns nicht nur davon entfernt, ein Leben wie Tiere zu führen, sondern wir haben uns zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gegeben, die Künste erfunden, ja bei fast allen unseren Erfindungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu sprechen geholfen.«45 Diese Worte enthalten seine Kernthese, dass es die Sprache als Medium der wechselseitigen Äußerung von Bedürfnissen war, die den Menschen aus dem natürlichen, den Tieren ähnlichen Zustand herausgeführt und zu einem Kulturwesen gemacht hat. Isokrates nennt zwar neben der Gründung von Städten, dem Erlass von Gesetzen und der Entwicklung der Künste (d. h. der Techniken zur Herstellung des Lebensnotwendigen) noch weitere Kultivierungsmerkmale wie etwa den Ackerbau.46 Doch die dem gegenseitigen Nutzen dienende Sprach- bzw. Redefähigkeit des Menschen, d. h. genauer die Fähigkeit zur »vernünftigen Rede« (lógos), die das Zusammenleben rational gestaltet47, sind für ihn die wichtigsten Kennzeichen der Kulturentstehung.

Dass er den Akzent speziell auf den wechselseitigen Gebrauch der Rede und nicht auf die Sprache im Allgemeinen legt, erhellt aus einem Vergleich mit Demokrit. Auch dieser versteht die menschliche Kultivierung als Überwindung eines den Tieren ähnlichen Lebens, wobei die Sprachgenese die entscheidende Rolle spielt. Die Menschen hätten zunächst aus undeutlichen Lauten Worte geformt, dann miteinander Bezeichnungen für jedes Ding festgesetzt und so schließlich eine Verständigung erreicht, die ein kulturelles Zusammenleben ermöglichte.48 Der Hintergrund von Demokrits Theorie ist die Spekulation über den Ursprung der Sprache als Konvention, wogegen der Aspekt des konkreten sozialen Sprachgebrauchs in der Rede für ihn nebensächlich bleibt. Dieser ist aber für die rhetorische Kulturentstehungslehre zentral. Deshalb fragt Isokrates auch nicht nach der Sprachentstehung und deren Folgen für die Kultivierung, sondern setzt gleich bei der Sprachverwendung an. Charakteristisch für Rhetorik und Sophistik ist dabei das Faktum, dass sie die Entwicklung der Kultur als einen aufstrebenden Prozess, als eine Bewegung des Fortschritts und nicht als einen Vorgang des Verfalls nach dem Untergang eines »goldenen Zeitalters« wie etwa die Stoiker verstehen.49

Die bei Isokrates angenommene, den Tieren ähnliche Lebensweise der Menschen in der Urzeit muss nach Ansicht Ciceros ein Zustand permanenter Gewaltanwendung gewesen sein. In »De inventione« heißt es vom Naturzustand: Damals gab es eine Zeit, »in der die Menschen auf den Feldern weit zerstreut nach Art der wilden Tiere umherschweiften und mit roher Nahrung ihr Leben fristeten und nichts durch geistige Tätigkeit, vielmehr das meiste durch ihre Körperkräfte besorgten«. Man beachtete noch nicht »die religiöse Scheu vor den Göttern, nicht die Pflichterfüllung gegenüber den Menschen, niemand hatte gesetzmäßige Eheschließungen gesehen, keiner seine Kinder mit Sicherheit als seine eigenen betrachtet, keiner hatte wahrgenommen, welchen Nutzen gleiches Recht bringt. So missbrauchte aus Wahn und Unwissenheit die Leidenschaft, die blinde und zügellose Herrin über die Seele, zu ihrer eigenen Befriedigung die Kräfte des Körpers […].«50 Die Anwendung von Gewalt ergibt sich also aus primitiven Lebensverhältnissen, die vor allem den Einsatz der Körperkraft erfordern, von Unwissenheit gekennzeichnet sind, den Ausbruch heftiger Leidenschaft begünstigen und noch keine das Leben zivilisierenden Institutionen wie Religion und Eheschließung oder die Kodifizierung von Moral und Recht kennen. Die Situation änderte sich nach Cicero erst, als »ein offenbar bedeutender und weiser Mann« die schlummernden Talente der Menschen erkannte. Dieser trieb sie »nach einem bestimmten Plan an einem bestimmten Ort zusammen und vereinigte sie zu einer Gemeinschaft und [leitete sie] zu jeder einzelnen nützlichen und ehrenhaften Tätigkeit [an]«. Dagegen erhoben sie zuerst, »weil sie nicht daran gewöhnt waren, lautes Geschrei […], wobei sie dann aber, weil der Mann Vernunftgründe vorbrachte und gewandt sprach, aufmerksamer zuhörten […]«. So machte er sie »aus wilden und schrecklichen zu sanften und zugänglichen Wesen«.51

Ciceros Spekulation über die Kulturgenese will nicht nur erklären, wie es angeblich gewesen ist, sondern sie hat darüber hinaus auch eine apologetische Tendenz. Denn jede frühe Kulturtheorie ist eine Erzählung, die von einem Paradox gekennzeichnet ist: Der »Ursprung« ist die Rekonstruktion eines Zustands, der diesem Konstrukt nicht real vorausliegt, sondern immer erst nachträglich fingiert wurde. »Über den Ursprung reden heißt, ihm schon entsprungen sein.« (Hegener)52 Deshalb ist ein Ursprungsmythos kein Tatsachenbericht, sondern eine mit bestimmten Deutungen versehene Geschichte, deren Tendenz und Gehalt man interpretativ herausarbeiten muss. Das gilt auch von der rhetorischen Kulturentstehungslehre Ciceros. Er will, wie die gesamte Einleitung von »De inventione« zeigt, die von ihm so hochgeschätzte Beredsamkeit (eloquentia) gegen Kritik und Diffamierung verteidigen, indem er sie mit der Weisheit (sapientia) in Verbindung bringt.53 Cicero fragt daher nicht nach der Herkunft des weisen Mannes, den er unvermittelt als Kulturstifter auftreten lässt54, sondern beschreibt allein die segensreichen kulturellen Folgen der von diesem praktizierten Beredsamkeit. Offenbar soll der weise Mann nur als Beispiel dafür dienen, wie man mithilfe von Weisheit und Beredsamkeit auf körperliche Gewalt als Mittel des Umgangs verzichten und zu gemeinschaftlichem anstelle von egoistischem Handeln finden kann. Cicero will damit den Wert der Redekunst für das menschliche Zusammenleben hervorheben. Wichtig ist in seiner Beschreibung der Kulturgenese die Rolle, die die aus der Weisheit hervorgehende Vernunft dabei von Anfang an spielt, denn sie ist wie schon in Isokrates’ lógos-Begriff mit der Sprachlichkeit der Rede untrennbar verbunden. In »De officiis« beantwortet Cicero später die Frage nach den natürlichen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft mit dem Hinweis, deren »Band [sei] das Denk- und Redevermögen [ratio et oratio], das durch Lehren und Lernen, durch das Gespräch miteinander und gegeneinander und durch Urteilen die Menschen untereinander versöhnt und verbindet […]«.55

Der Gebrauch der Sprache als Rede hat also im Kulturzustand die soziale Kooperation hervorgebracht und so körperliche Gewaltsamkeit ersetzt, die während der wilden und tierischen Anfänge der Menschheitsgeschichte herrschte. Cicero betrachtet diesen Prozess vom Aspekt des einzelnen, des großen Redners her, während Isokrates die Kultivierung als kollektives Ereignis deutet56. Der Gebrauch der vernünftigen Rede ist aber nicht nur ein Mittel, um die Menschen als Gattungswesen zu kultivieren, sondern sie erfordert, wie beide Autoren später an anderer Stelle ausführen, auch die Selbstkultivierung des sprechenden Individuums, die Bildung von dessen eigener Natur zum Redner. Während nach rhetorischem Verständnis bei der gattungsmäßigen Kultivierung die Natur als überwundene Größe verschwindet, bleibt sie im individuellen Bildungsprozess erhalten: als natürliche Anlage des Schülers. Sie stellt das Talent zur Rede mit den körperlichen Voraussetzungen zum Vortrag wie Stimme oder Statur bereit und wird ihrerseits im Vorgang der Bildung verändert: eben kultiviert. Isokrates sieht in einer geeigneten Physis die wichtigste Bedingung für den werdenden Redner57; Cicero fordert sogar die herausragende Bildung der eigenen Naturanlagen, um in dem »Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben, die Menschen selbst zu übertreffen«.58 In diesen Passagen aus den einleitenden Paragraphen von »De oratore« skizziert er schon sein Ideal des orator perfectus: Die Beherrschung der Redekunst ist jetzt nicht mehr nur ein Mittel, um die Mitmenschen zu kultivieren, sondern auch, um selbst kultiviert zu werden. Individuelle Kultur ist unter dem Einfluss des agonalen, auf die Griechen zurückgehenden Bildungsideals sogar zum Unterscheidungsmerkmal des Einzelnen gegenüber den anderen geworden. Doch das führt nicht zur Isolierung von der Gemeinschaft, im Gegenteil: Die rhetorische Kultiviertheit des Individuums zeigt sich gerade beim geselligen Umgang mit anderen Menschen, und zwar in der passenden Ausdrucksweise und im zivilisierten Verhalten, also in all dem, was »Urbanität« heißt.59

Rhetorische Ethik

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