Читать книгу Zuhause wartet schon dein Henker - Franziska Steinhauer - Страница 11

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Ulrika hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt.

Starrte auf den Bildschirm ihres Computers und schüttelte angeekelt den Kopf.

»Geht es dir jetzt besser?«, zischte die Witwe die Absenderin der Mail an, die sich gerade geöffnet hatte. »Unfassbar, was für einen Müll ihr nach dem Verstorbenen werft! Ihr habt doch nicht einmal eine ungefähre Vorstellung von der Wirklichkeit. Wie soll ich je wieder in diesem Dorf durch die Straßen gehen, wenn ich glauben muss, dass nur solche Menschen wie du hier wohnen? Mörder und Verleumder.«

Wirst du seinen Tod feiern? Grund genug dazu hättest du allemal. Dieser Bettenspringer und Fremdschläfer! Der hat es mit allen getrieben, die sich noch auf den Rücken legen konnten! Alter egal! Als Bezahlung hat er ja keine andere Währung akzeptiert. Eigentlich dachte ich, du wirst mir leidtun – aber ganz ehrlich: Für eine Frau wie dich, die sich so ein Verhalten bieten lässt, empfinde ich nur tiefste Verachtung! Im Dorf wird gemunkelt, es könnte noch mehr Tote geben. Pass gut auf, dass du nicht eines der nächsten Opfer bist!

Verschickt ohne konkreten Absender, irgendein Fantasiename. Weiblich. Zumindest gab es diesen nicht. Diese Person musste sich also mit Rechnern immerhin so gut auskennen, dass sie das Verschleiern beherrschte. Damit fielen schon mal einige weg, die sie gern verdächtigt hätte. Ulrika hob das Glas mit zitternden Fingern an die Lippen, hörte, wie ihre Zähne gegen den Rand klapperten. Trank dann entschlossen die Hälfte des Weines in einem Zug.

Warm breitete sich der Alkohol in ihrer Mitte aus.

Die Finger erreichte das nicht, die blieben eisig, weigerten sich, über die Tastatur zu huschen, um zu erledigen, was nun anstand. Eine Mitteilung zu verfassen, eine Anzeige für die Zeitung zu entwerfen, einen Brief an Arnes Vorgeseteten zu schreiben – müde stand sie auf.

Schaltete das Licht aus.

Spätestens morgen wüssten alle, dass Arne gekreuzigt wurde.

Mit dem Glas in der Hand trat sie wieder ans Fenster.

Flackernde Lichtchen näherten sich von allen Seiten, einige standen vor dem Gartenzaun. Im ersten Moment erschrak Ulrika, dachte an die Mail, hielt es für eine neue Bedrohung aus dem Dorf – doch dann, als ihre Augen sich besser an die Schwärze gewöhnt hatten, erkannte sie eine Art Altar. Hummelgaard kam, um für den Pfarrer zu beten. Bestimmt würde sie morgen gute Wünsche lesen können, Fragen nach dem Warum und Verständnislosigkeit für den Mörder. Arne hätte es gefreut. Ulrika spülte mit einem großen Schluck die Bitterkeit hinunter, die sie beim Anblick der Gemeindemitglieder empfand. Heuchler, dachte sie, ihr widerwärtigen, kleinen Mistheuchler. Wahrscheinlich glaubt ihr, der Platz im Himmel ist schon reserviert, wenn ihr nur möglichst viele ergreifende Worte zum Tod des Pfarrers auf Karten und Zettelchen schreibt! Aber so wird es nicht sein. Arne ist nämlich keines natürlichen Todes gestorben – das ändert die Lage vollständig, ihr habt es nur noch nicht bemerkt!

Es wird nicht lange dauern, bis euch einfällt, dass ein Mörder in eurer Mitte lebt.

Dreht euch um, schaut schnell über die Schulter zurück – vielleicht pirscht er sich schon wieder an!, kreisten Ulrikas Gedanken weiter, nicht frei von Häme.

Olaf verarbeitete die neue Situation im Kreis seiner Freunde.

»Und deine Mutter hat ihn gefunden? Echt krass!« Malte versagte fast die Stimme. »Mann! Da liegt eine echte Leiche in deinem Garten und du merkst nicht mal was davon!«, grollte er dann. »Wir hätten das gern sehen wollen! Was glaubst du – wozu gibt es Mobiltelefone? Hä?«

»Es war immerhin sein Vater, hör auf!«, tönte Hiltrud schrill. »Wenn ich mir das vorstelle!«

»Ermordet. Damit hat er wohl nicht gerechnet, was? Dass ihm einer mal alles heimzahlt?« Till zischte wie ein Dampfdrucktopf.

»Nein, sicher nicht. Wir auch nicht.« Olaf wollte diese Diskussion nicht länger ertragen. Jeder, aber wirklich jeder, meinte, der Tod des Pfarrers sei überfällig gewesen. So kam es ihm zumindest vor. Er hatte das am Anfang auch so gesehen, aber inzwischen belastete der Verlust doch ein wenig seine Seele. Das Gerede über die Notwendigkeit bekam einen schalen Beigeschmack – verlor von Minute zu Minute an Berechtigung. Zorn perlte langsam in kleinen Blasen in ihm auf. »Trotzdem: Er war mein Vater. Auch Esther meinte, wir werden ihn vermissen, obwohl er ein mieser Vater war. Und ich denke, sie hat Recht. Also! Können wir das Thema lassen?«

»Willst du nicht wissen, wer es war?«, erkundigte sich Malte neugierig. »Ich meine, das Leben ist in jedem Fall endlich – aber es wäre doch mal spannend, jemanden zu treffen, der diese Endlichkeit herbeigeführt hat. Oder?«

»Um dann auch gleich ins Gras zu beißen? Wenn du den Mörder erkennst, bist du Wissender. Das wird ihm nicht gefallen und du bist sein nächstes Opfer«, gab Wolf zu bedenken.

Olaf seufzte. »Die alte Greta denkt auch, dass noch mehr Leute sterben werden. Hat sie mir vorhin erzählt, als ich aus dem Haus geschlichen bin.«

»Na ja. Die Alte hat einen Knall, der an den Urknall ranreicht. Auf deren Geschwätz kann man nichts geben.« Hiltrud machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die ist so alt, dass man sich schon fragen muss, ob sie der Typ mit der Sense schlicht vergessen hat.«

»Du meinst, bei seinem ersten Besuch hat er sie nicht angetroffen und dann versäumt, ihren Namen auf die To-do-Liste für den nächsten Tag zu übertragen?«

»Ist doch wahr. Die ist bestimmt Hundert!«

»Meiner Mutter hat sie die Zukunft weisgesagt. Und – ganz ohne Scheiß – alles ist eingetroffen.« Stellan war offensichtlich noch immer tief beeindruckt. »Die ist mit schwarzen Mächten so eng vertraut, da können wir nur von träumen!«

In der Garage hatten sich die Engel der Finsternis einen Treffpunkt eingerichtet. Maltes Großvater brauchte sie nicht mehr, seit seiner Pensionierung besaß das Ehepaar nur noch ein Auto. Die schwarzen Gestalten hatten sich um einen Holzcouchtisch versammelt. Eine Kerze spendete unruhiges Licht, ein Gewirr aus Knochen diente als Ständer. Schafsknochen – von Menschen waren keine zu kriegen. Der örtliche Bestatter passte gut auf, seit die Engel der Finsternis sich gegründet hatten. In Glastassen dampfte schwarzer Kaffee. Leise Musik im Hintergrund – sakralen Gesängen nicht unähnlich.

»Klar, ich wüsste ganz gern, wer ihn umgebracht hat«, murmelte Olaf leise.

»Du wirst ja seinen Tod nicht rächen wollen? Das wäre ja nun wirklich ziemlich scheinheilig.«

»Quatsch!«, wehrte Olaf ab. »Ich wüsste nur gern, wer sich so viel Mühe gemacht hat, ihn ›standesgemäß‹ um die Ecke zu bringen. Kopfüber am Kreuz – wie einen Verräter angebunden.«

»Irgendwie verstehe ich das alles nicht.« Till rieb sich mit Hand kräftig an der Nasenspitze. »Wieso kopfüber und tot? Hab ich da was verpeilt?«

»War er da schon tot?« Hiltrud wirkte ebenfalls verunsichert. »Echt, ich verstehe das alles auch nicht. Kopfüber?«

»Die Polizei wartet die Obduktion ab. Gewehrt hat er sich wohl nicht. Wie auch?«

»Wir werden ihn später mal in der Hölle treffen. Oder?« Zweifel waren in Hiltruds Stimme zu hören. »Oder kommen tote Pfarrer etwa automatisch in den Himmel?«

Greta saß in der Küche und starrte auf das Schmalzbrot.

Zählte die Krümel, die neben der Stulle auf dem Brettchen lagen.

25. Auch beim zwanzigsten Nachzählen.

»Soll ich – oder besser nicht?«, murmelte sie. »Es geht mich im Grunde nichts an. Ist ja nicht meine Angelegenheit.«

»Kraaah«, antwortete die zahme Dohle wenig erhellend.

»Auf der anderen Seite wird er nur auf sich aufpassen, wenn ich ihm sage, dass er es tun muss, oder?« Sie schob den Haarreifen neu in ihr weißes, schütteres Haar. Betrachtete dann ihre arthrotischen Finger. Seufzte.

Die Dohle legte den Kopf schief und musterte die alte Frau interessiert. Danach nahm sie das Brot ins Visier.

»Nein. Das ist nichts für dich. Zu fett. Reicht ja, wenn einer von uns zu dick ist.« Der zierliche Vogel hüpfte einen Schritt zur Seite. Die blauen Augen behielten die Hände und den Teller im Blick. »Er ahnt ja den Zusammenhang gar nicht. Außer mir weiß keiner Bescheid, fürchte ich. Und habe ich da nicht eine besondere Verantwortung?«

»Kraaah«, machte Gustav schlecht gelaunt.

Greta polkte ihm ein Stück Rinde von ihrem Abendessen und er stürzte sich hungrig darauf.

»Wird er mir überhaupt glauben?« Sie schob den Teller von sich weg. »Oder kommt es darauf gar nicht an? Wenn er eine Information bekommt, ist es nicht mehr meine Sache, was er damit beginnt. Schließlich ist er ein erwachsener Mann.«

Sie stand auf, räumte vorsichtshalber ihr Abendbrot in den Küchenschrank und schlurfte ins Schlafzimmer.

Gustav folgte. Sie hörte seine Krallen über den Holzboden kratzen. Er war nie begeistert, wenn er allein zurückbleiben musste. Aber mitkommen konnte er diesmal nicht.

»Gustav, das ist nichts für dich. Schau mal, ich weiß ja gar nicht, wie er es aufnehmen wird, wenn ich ihn besuche. Ich denke, ich war noch nie bei seinem Haus. Ben, du weißt schon, dein Tierarzt, hat erzählt, das gesamte Grundstück sei gesichert wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Jürg habe ihm das berichtet, als er mit einem verletzten Eichhörnchen in seiner Praxis war. Es ist ziemlich weit von hier – besser, ich nehme das Fahrrad.«

Greta schlüpfte in einen warmen Pulli und zog eine wollene Jacke darüber. Überlegte dann kurz und suchte aus einer Kiste im Schrank ihren Schal heraus. »Handschuhe brauche ich wohl noch nicht. Aber jetzt, nach dem schrecklichen Unwetter, ist es ganz sicher ziemlich kalt. Wo habe ich denn meine Stirnlampe? Es ist so duster draußen, da reicht die olle Radfunzel nicht.«

Gustav hupfte in die Kiste und begann, an einer Mütze zu knabbern. Die alte Frau lachte, hob ihn heraus. »Gustav, das geht nicht. Nun sei nicht so verärgert, ich bin ja bald zurück. Weißt du was, ich lasse dir den Fernseher an, wir suchen einen Tierfilm. Die magst du doch.«

Als alles geregelt war, schwang Greta sich in den Sattel und trat kräftig in die Pedale.

Während sie von zwei wackeligen Lichtpunkten eskortiert durch die Nacht quietschte, dachte sie über den Tod des Pfarrers nach. Im Ort hatte es noch nie eine solch schändliche Tat gegeben. Prügeleien kamen schon mal vor – aber bisher musste noch niemand dabei sterben.

»Tja«, murmelte sie leise, »das ist die Sache mit der Erbsünde. Wir können sie ja nicht abstreifen, sie wird von Generation zu Generation weitergegeben, der Mensch hat also gar keine Chance, wirklich gut zu sein. Zumal nicht klar ist, wie viel Gutheit es bräuchte, um die Sünde in einem Einzelnen auszuradieren, wenn das tatsächlich möglich sein sollte, was ja längst nicht ausgemacht ist. Und was ist das überhaupt: Gut? An welcher Latte messen wir es – und welche Skala wird wohl am Tag des Jüngsten Gerichts gelten? Ist es gut, Hans zu warnen – oder wird es mir dereinst zum Verhängnis werden? Nichts Genaues weiß man nicht.« Sie keckerte in die Dunkelheit, schwankte um die nächste Ecke. Das Thema ließ sie jedoch nicht los, sie grübelte weiter. »Aber die Verantwortlichkeit bleibt natürlich auf der Strecke. Wenn es ererbt ist, dass ich sündigen muss, bin ich diesem Schicksal ausgeliefert. Hoffentlich weiß das niemand, sonst sperren wir die Bösen gar nicht mehr ein – weil wir nicht bestrafen können, wen keine Schuld trifft.« Bekümmert schüttelte sie den Kopf, entschied, diesen Punkt bestenfalls im Gespräch mit Gustav zu vertiefen.

Wenig später drückte Greta das Tor zu Hanssons Grundstück auf.

Alles still. Vielleicht, überlegte die alte Frau, ist ja nicht der Hof, sondern nur das Haus gesichert. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Sie schlich zur Tür. Kein Geräusch.

So viel also zu Jürgs Gerede! Hochsicherheitsgefängnis! Pah!

Ein Blick zum Stall – nur die Notbeleuchtung. Dort war er also auch nicht.

Vielleicht ist er mit den Hunden unterwegs, überlegte sie, die brauchen bestimmt Auslauf.

Solch große, lebenslustige Tiere wie seine nahmen es sicher übel, den ganzen Tag eingesperrt zu sein.

Sie beschloss, ihm eine Nachricht zu hinterlassen.

»Hallo Hans, sei auf der Hut. Arne war nicht das einzige, nur das erste Opfer! Ich bin sicher, du bist der Nächste, der sterben muss!«

Dann machte sie sich auf den Heimweg.

Erst als sie mit Gustav auf der Couch saß, mit der Dohle ein bisschen Gemüse und Obst teilte, fiel ihr ein, dass sie die Nachricht besser unterschrieben hätte. So klang der Text ja im Grunde wie ein Drohbrief.

»Oje, Gustav, da habe ich wohl einen Fehler gemacht. Der arme Hans wird annehmen, der Mörder sei schon bei seinem Haus gewesen und habe ihn bloß um Haaresbreite verpasst. Das werde ich gleich morgen in Ordnung bringen müssen!«

Gustav knabberte am Ohr der alten Frau, zwickte gelegentlich auch ein bisschen unsanft. Heute war es Greta egal.

Zuhause wartet schon dein Henker

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