Читать книгу Ferienhaus für eine Leiche - Franziska Steinhauer - Страница 6
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Gunnar Hilmarström parkte seinen schwarzen Volvo auf der Graszufahrt zu seinem Ferienhaus, das er in den Sommermonaten an Touristen vermietete, um seine Rente aufzubessern, seufzte schicksalsergeben und stieg aus. Jedes Jahr dasselbe, dachte er mürrisch.
Damit meinte er das Großreine- und Winterfestmachen am Ende der Feriensaison. Lustlos stapfte er um das Auto herum, öffnete brabbelnd den Kofferraum und entnahm ihm einen leistungsstarken Staubsauger, mehrere Schwämme, Putztücher und eine Flasche mit scharfem Reinigungsmittel. Er beugte sich weit hinein, um in den Tiefen des Stauraums nach seinen Gummihandschuhen und dem großen Müllsack zu kramen, wobei sein beachtlicher Leibesumfang und die dadurch im Laufe der Jahre zu kurz gewordenen Arme ihn deutlich behinderten.
Bei dem ungeschickten Versuch, alles mit einem Mal ins Haus zu bringen fielen erst die Schwämme, dann der Müllsack zu Boden. Gunnar fluchte. Missmutig ließ er die Utensilien auf dem Rasen liegen. Er würde sie eben später holen.
Vor der klapprigen Holztür stellte er den Staubsauger ab und bückte sich schwerfällig nach dem Fußabtreter, unter den der letzte Mieter hoffentlich den Schlüssel gelegt hatte. Einmal hatte einer ihn aus Versehen im Gepäck mit nach Deutschland genommen und er musste Tage warten, bis der Schlüsselservice ihm einen neuen angefertigt hatte.
Aber das war Jahre her.
Seither hatte Gunnar immer einen Reserveschlüssel im Handschuhfach, denn er empfand es als furchtbar entwürdigend, vor der verschlossenen Tür des eigenen Häuschens zu stehen und sich dann durch irgendein ausgehebeltes oder eingedrücktes Kellerfenster zu quetschen wie ein Einbrecher, oder gar Hilfe holen zu müssen.
Der Schlüssel lag zu seiner Erleichterung tatsächlich unter der Fußmatte.
Stöhnend hob Gunnar ihn auf.
»Puh! Vielleicht wäre es doch besser ein bisschen abzunehmen? Doch wenn ich nicht einmal mehr essen darf, was mir schmeckt, wo bleibt dann der Spaß am Leben?«, philosophierte er leise brummelnd. Umständlich schloss er die verzogene Tür auf.
Der typische Ferienhausgeruch schlug ihm entgegen.
Gunnar konnte es sich nicht erklären, aber es stimmte, er hatte es bei vielen Urlaubsfahrten festgestellt: alle Ferienhäuser – ob in Schweden oder Dänemark – alle rochen sie gleich; es war wohl eine Mischung aus Schweiß, schmutziger Wäsche, altem Fett. Nicht einmal die Fliegen mochten den Mief, kaum eine verirrte sich in so ein Sommerhaus.
Zuerst riss er alle Fenster auf, um die letzte warme Luft dieses Bilderbuchsommers ins Haus zu lassen. Seine Gäste hatten in diesem Jahr allesamt Glück mit dem Wetter gehabt. Es hatte kaum geregnet, wochenlang hatte die Sonne für märchenhafte Temperaturen um 25°C gesorgt.
Da hier in Schweden dazu eigentlich immer ein angenehmer Wind wehte, wurde es nie so unerträglich schwül, dass man nur noch matt in der Ecke sitzen konnte. Vielleicht würde ein Teil seiner Familien nach dieser traumhaften Urlaubserfahrung im nächsten Sommer wiederkommen. Wäre nur gut für die gesamte Tourismusindustrie, wenn möglichst viele vom schönen Wetter in Skandinavien erführen, und sich das alte Vorurteil vom kalten Norden endlich ausmerzen ließe!
Immer noch maulig öffnete er die Türen der eingebauten Wandschränke in der Küche und begann das Geschirr zu überprüfen. Jemand hatte das bunt zusammengewürfelte Gläsersortiment um eine weitere Modellreihe erweitert. Na schön, dachte Gunnar, wenigstens hatten sie für Ersatz gesorgt. Bei jeder Endkontrolle gab es Verluste zu beklagen, aber das war bei Familien mit Kindern auch fast zu erwarten.
Das mochte der Grund dafür sein, dachte Gunnar, dass einige seiner Bekannten lieber an ältere Ehepaare oder erwachsene Allergiker vermieteten, ohne Kinder und ohne Haustiere.
Neben den unterschiedlichen Gläsern fanden sich auch Teller und Schüsseln mit den verschiedensten Dekoren. Er zählte oberflächlich die Teller, Tassen und Gläser, sowie Gabeln, Messer, Teelöffel und Suppenlöffel. Schließlich wurde sein Haus für sechs Personen vermietet. Da musste natürlich auch für jeden ausreichend Geschirr und Besteck vorhanden sein!
Dann holte er den Müllsack und die Schwämme von draußen und klaubte angewidert die vielen Nahrungsmittelreste aus den Vorratsfächern. Angefangene Mehl- und Zuckertüten, klebrige Keksreste, feuchte, pampige Cornflakes, diverse Fertiggerichte in Dosen und Tüten mit italienischer, deutscher und dänischer Aufschrift.
»Dass die immer irgend etwas für die Nachmieter zurücklassen müssen!«, schimpfte er. »Das Zeug wird von den Neuen sowieso nie angerührt, und schließlich bleibt die Entsorgung immer an mir hängen!« In anderen Familien machten so was in der Regel die Ehefrauen, aber seine Inga hatte sich von Anfang an geweigert, ihm bei der Betreuung des Sommerhäuschens zu helfen. Es sei schließlich seine Idee gewesen, das kleine Haus seiner Eltern nach deren Tod auszubauen und an Fremde zu vermieten. Da solle er auch die Konsequenzen allein ›genießen‹ dürfen! Gunnar legte die Stirn in Falten, wenn er daran dachte, wie seine Freunde ihn wegen Ingas Putzweigerung regelmäßig aufzogen. Für die anderen sah es immer so aus, als könne Gunnar seiner Rolle als Familienoberhaupt nicht gerecht werden, und manchmal musste er sich tatsächlich eingestehen, dass er bei Inga ganz schön unter dem Pantoffel stand. Aber diese Sache mit dem Ferienhaus war ein echter Zankapfel zwischen ihnen geworden und sorgte in regelmäßigen Abständen für Missstimmung, nicht nur der Hänseleien wegen.
›Fremde‹ – Inga mochte Menschen aus anderen Ländern einfach nicht. Zunächst hatte er ja noch geglaubt, das werde sich mit der Zeit legen. Doch das Älterwerden hatte ihre unbestimmten Befürchtungen und Vorurteile zu fest gefügten Überzeugungen verbacken. Gegen die zusätzlichen Einnahmen hatte sie natürlich nichts. Das Geld der Fremden war ihr immer willkommen gewesen! Keine Rede davon, dass Gunnar es etwa für sich behalten und nach seinem eigenen Gutdünken damit verfahren durfte! Zweierlei Maß, wohin man schaut! Gunnar knurrte ärgerlich.
Er war in der Küche fertig, ging ins Bad und sammelte dort halb leere Shampooflaschen ein, vergessene Zahnbürsten und eine kleine gelbe Quietschbadeente. Er drückte sie ein paar Mal und grinste.
»So eine durfte auch mit mir in meiner Badewanne schwimmen, als ich noch ein Kind war!«, murmelte er.
Er versuchte sich zu erinnern – meine Güte!
»Das muss jetzt auch schon weit über 60 Jahre her sein!« Gunnar war betroffen. »Manche Dinge kommen eben nie aus der Mode, tauchen in jeder Generation wieder auf!« Er seufzte noch einmal, diesmal etwas wehmütig.
Nicht, dass er wirklich bedauerte, nicht mehr ganz jung zu sein. Nein! Aber das Älterwerden hatte so seine unübersehbaren Schattenseiten. Er wurde haarloser und litt unter einer Vielzahl von Beschwerden und Wehwehchen. Seine zunehmende Arthrose ließ die Gelenke unbeweglich werden, machte jeden Schritt zur Qual. Die Augen wurden schlechter, genauso wie das Gehör. Für viele Arbeiten, die er früher im Vorbeigehen erledigte, brauchte er heute die Hilfe seines Sohnes. Aber der hatte leider nicht immer Zeit und so musste Gunnar seine Wünsche frühzeitig anmelden, damit sein Sohn ihn in seinem Terminkalender vermerken konnte.
Darüber ärgerte er sich schon manchmal.
Andererseits war er sehr stolz darauf, einen gefragten Wissenschaftler zum Sohn zu haben: Prof. Dr. Klaus Hilmarström. Das klang gut, fand Gunnar, obwohl es natürlich noch besser gewesen wäre, wenn Klaus Medizin studiert hätte. Aber Dr. der Physik war auch ganz in Ordnung.
Als er durch den Wohnraum kam, schaltete er das Radio so laut ein, dass er die Musik in allen Zimmern hören konnte und es nicht mehr so unheimlich still im Haus war. Keine direkten Nachbarn zu haben, hatte eben auch seine Vorteile. Immerhin lag das nächste Haus fast einen Kilometer weit entfernt.
Diese Einsamkeit war es, die seine Feriengäste besonders schätzten. Schwedenurlaub war Natur pur. Wenn man es nicht direkt darauf anlegte, konnte man hier wochenlang wohnen, ohne überhaupt jemanden zu treffen.
Ein Hausfrauensender dudelte ein Wunschkonzert mit ›Hits from yesterday‹ und dazwischengeschalteten Kochrezepten.
»Genau das Richtige für mich. Die Texte kenn’ ich noch von früher«, murmelte Gunnar und machte sich etwas beschwingter wieder an die Arbeit.
In den Schlafräumen inspizierte er das Bettzeug, legte es dann ordentlich zusammen und verstaute die Einziehdecken und Kissen in den geräumigen Einbauschränken. Zufrieden sah er sich um. Die letzte Familie hatte die vertraglich vereinbarte Endreinigung offenbar sehr sorgfältig durchgeführt. Nichts deutete mehr auf die ehemaligen Bewohner hin. Selbst unter den Betten war alles sauber! Er grunzte anerkennend.
Mit einem reinigungsmittelgetränkten Tuch wischte er alle Türen und Oberflächen ab, rieb die Klinken, bis sie glänzten, trug japsend den Fernseher in sein Auto – man konnte ja nie wissen, und sicher ist sicher – und wischte dann die Böden gründlich feucht auf.
Dabei hörte er zu, wie eine junge Dame die Zubereitung ihres Lieblingsgerichtes erklärte: Janssons Frestelse*. Gunnar lief das Wasser im Mund zusammen. Inga kochte lieber leichte Kost, angeblich, weil Gunnar auf sein Cholesterin und seinen Blutdruck achten musste. Aber, war er fest überzeugt, in Wahrheit versuchte sie nur, Arbeit zu sparen. Ein grüner Salat und ein bisschen Pute dazu – nicht zu vergleichen mit Janssons Verführung! Nein, wirklich nicht!
Das Bad und die Küche mussten immer besonders intensiv gereinigt werden, damit es im Frühjahr, wenn er alles für die neuen Feriengäste vorbereitete, nicht aus den Abflüssen und der Toilette stank. Gunnar schraubte die Siebe auf, entfernte Haare und Seifenreste und goss zum Schluss einen ordentlichen Schuss Chlorreiniger in Waschbecken, Toilette und Spüle. Befriedigt hörte er die Flüssigkeit in der Tiefe der Rohre gurgeln und zischen.
Fast geschafft, dachte er, als er die Teppiche abgesaugt und die benutzten Tischdecken auf dem Küchentisch gestapelt hatte. Die Schmutzwäsche würde er beim Rausgehen zum Waschen mitnehmen. Auf der einen war ein unschöner roter Fleck, bestimmt Kirschsaft. Inga würde wahrscheinlich wieder ein Riesengezeter veranstalten. Aber wenigstens war sie bereit, die Wäsche aus dem Häuschen zu waschen, nachdem Gunnar einmal alle Bettbezüge mit einer übersehenen roten Socke rosa verfärbt hatte und sie mehrere neue Garnituren kaufen mussten.
Bei dem Gedanken an die zu erwartende Tirade zog er automatisch abwehrend die Schultern hoch.
Tja, erinnerte sich Gunnar versonnen lächelnd, natürlich war auch seine Inga einmal eine schöne, liebevolle Frau gewesen. Als sie vor gut vierzig Jahren geheiratet hatten, war sie fröhlich und lebenslustig gewesen. Doch mit den Jahren war ihr unbeschwertes Lachen vertrocknet und dann langsam ganz gestorben – geblieben waren ihre schreckliche Neugier, ihr energisches Gehabe und ihr unermüdliches Gerede.
Er seufzte melancholisch.
Ein Blick in den Kühlschrank – sauber ausgewischt.
Dann stieg er, eine Radiomelodie mitsummend, die enge finstere Wendeltreppe in den Keller hinunter und stellte Strom und Wasser ab.
Bei seiner Rückkehr war die Musik verstummt und Gunnar wieder ganz allein in seinem für den Winterschlaf vorbereiteten Sommerhaus. Schon seltsam, wie unheimlich Ruhe und Stille sein können, überlegte er, schalt sich albern und etwas senil und beschloss im selben Augenblick, in Zukunft sein batteriebetriebenes Radio von zu Hause mitzubringen, wenn er hier putzte.
Schon im Gehen begriffen, fiel ihm plötzlich siedend heiß der Dachboden ein!
Die meisten Familien hatten Kinder mitgebracht. Man konnte ja nie wissen, wo die überall nach Abenteuern gestöbert hatten. Gunnar erinnerte sich noch gut daran, dass eines der Kinder vor ein paar Jahren heimlich eine Katze als Haustier auf dem Dachboden versteckt und bei der Abreise vergessen hatte. Die Eltern riefen von einer Autobahnraststätte aus an und informierten ihn darüber, nachdem das kleine Mädchen ihnen unter Tränen alles gebeichtet hatte. Natürlich war er sofort losgefahren und hatte das inzwischen völlig verstörte, schreiende und fauchende Tier befreit.
Seither kontrollierte er noch gründlicher!
Der Stab mit Haken, mit dem er normalerweise die in die Decke eingelassene Klappe öffnete, war unauffindbar. Den würde er also auch noch suchen müssen! Zum Glück waren die Decken in den Sommerhäuschen niedrig und wenn man sich streckte, konnte man die Öse auch so erreichen. Also reckte er sich so hoch er konnte, schob schnaufend seinen kurzen, dicken Zeigefinger in die Öse und zog sie leicht zurück. Befriedigt hörte er das laute Schnappen des Mechanismus. Mit beiden Händen stützte er die Klappe, die ihm beim letzten Mal noch viel leichter vorgekommen war.
Als sie herunter schwang nahm Gunnar den Mief wieder stärker wahr.
Vielleicht müsste man doch die alten Matratzen entsorgen. Er würde das im Frühjahr in Angriff nehmen, nahm er sich fest vor, wenn er das Haus wieder für die Saison herrichtete.
Mit lautem Rumpeln glitten die Schienen übereinander und der Vermieter setzte die Stiege beinahe zärtlich im Flur auf. Dann kletterte er langsam hinauf, um sich hier oben umzusehen und bei der Gelegenheit die Matratzen zu zählen, die seit Jahren auf dem Dachboden lagerten.
»Was hier noch alles rumsteht. Wir werden den großen Anhänger zum Abtransport nehmen müssen«, murmelte er und ging gebückt zwischen den ausrangierten Möbelstücken umher. Staub wirbelte bei jedem Schritt um seine Füße und überzog seine Schuhe und die Hose mit einem flockigen, grauen Film. Flirrende Wolken tanzten im Sonnenlicht, das spärlich durch die beiden gegenüberliegenden Giebelfensterchen fiel, die das ganze Jahr über leicht geöffnet blieben, um das Dach gut zu lüften und der Entstehung von Feuchtigkeit vorzubeugen.
Der Schimmel würde sich sonst in den alten Matratzen und Decken ausbreiten.
Immer wieder wehten kleinere Windböen durch den niedrigen Raum und ließen neue Wollmäuse durch den Dachboden huschen. Spinnen hatten sich an den Dachsparren niedergelassen und weit gespannte Netze gebaut, die im Licht funkelten.
Kunstwerke besonderer Art, filigran und vergänglich.
In der Ecke, neben einem der Giebelfensterchen, stand ein alter Lehnstuhl, dessen Bezug verschlissen und von Mäusen angenagt worden war. Früher war es der Sessel seines Großvaters gewesen, entsann sich Gunnar, und niemand sonst durfte ihn benutzen. Gunnar konnte sich nicht daran erinnern, dass etwa ein Kind oder Enkel es gewagt hätte, sich heimlich in diesen Sessel zu setzen. Nach Opas Tod ließ seine Großmutter den Stuhl auf den Dachboden bringen, damit niemand ihn je wieder ›besitzen‹ konnte.
Als Gunnars Augen sich an das diffuse Licht gewöhnt hatten, trat er geduckt zu der Holztruhe, in der schon seine Urgroßmutter ihre Aussteuer aufbewahrt hatte.
Auch hier roch es deutlich nach Verfall und Verrottung.
»Vielleicht hat es im Winter reingeregnet. Da kommt es schon mal vor, dass die Feuchtigkeit sich irgendwo in dem Ding festsetzt und die Decken schimmeln«, sagte er zu sich selbst, während er das Dach nachdenklich betrachtete und nach einem Loch fahndete. »Dann sollte ich das Zeug besser gleich mitnehmen, bevor sich der Schimmel ausbreiten kann«, überlegte er laut.
Aber das Dach über ihm ließ kein Licht durchscheinen.
Gunnar drehte sich wieder um und fuhr mit der flachen Hand kosend über die Intarsienarbeit im Deckel der Truhe. Aus vielen unterschiedlichen Holztönen gelegt, zeigte sie das Bild eines Pärchens auf einer Bank. Auch nach vielen Jahren auf dem Dachboden waren keine Sprünge oder rauen Fugen zu spüren.
»Das ist noch echte Handwerksqualität!«, grummelte er anerkennend. »So was findet man heut’ ja gar nicht mehr. Aber die Leute kaufen ja nur noch Möbel von der Stange. Oder bei Ikea.«
Er bückte sich, um den Bügel am Schloss anzuheben und die Truhe zu öffnen.
»Puh! Wie das stinkt!«, stellte er fest und begann besorgt zwischen den Decken zu wühlen, um herauszufinden, woher der Gestank kam.
Als er die Quelle schließlich gefunden hatte, sträubten sich seine Nackenhaare und sein gesamter Körper verkrampfte sich.
Für einen Moment war er wie erstarrt und konnte seine Augen von dem grauenhaften Anblick nicht lösen. Seine Hand umkrallte die Wolldecke mit dem blau-weißen Streifenmuster, die er zuletzt angehoben hatte. Die Knie zitterten, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Zusammen mit einem Schrei stieg eine Woge von Übelkeit in ihm hoch.
Fassungslos starrte er auf eine unbekleidete, von Verwesung entstellte Frauenleiche!
Er wollte nicht länger hinsehen, konnte den Blick dennoch nicht losreißen und wusste mit Sicherheit, dass das Bild des teilweise mumifizierten und aufgelösten Frauenkörpers, der nachlässig zwischen den Decken verborgen worden war, ihn bis an sein Lebensende verfolgen würde. Die Haare, lang und grau, waren zu einem dünnen Zopf geflochten und die knochigen Hände lagen mit nach oben zeigenden Handflächen neben den Oberschenkeln.
Panik erfasste ihn.
Für einen irrwitzigen Moment glaubte er, die Frau habe ihre klauenartigen Hände bewegt und raubvogelgleich versucht, ihn zu packen!
Das Herz schlug ihm bis zum Hals und endlich gelang es ihm, den Deckel wieder zuzuwerfen und sich umzudrehen. Dann schrie er laut und seltsam heiser auf, rannte zur Dachbodenklappe. Als er endlich keuchend vor dem Haus stand, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie es ihm gelungen war, die steile Stiege hinunter zu klettern und den Ausgang zu finden.
Er erbrach sich.
In heftigen Wellen rollte die Übelkeit heran und überspülte ihn, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Der Schweiß brach ihm aus. Hilflos stützte er sich mit beiden Händen an der Hauswand ab, während er sich immer heftiger übergeben musste.
Nach einer kleinen Ewigkeit spürte er, wie die Übelkeit langsam nachließ, und er wankte zu seinem Auto.
Jetzt lassen sie sogar ihre Leichen in meinem Ferienhaus zurück!
Unglaublich, einfach nicht zu fassen!, ging es ihm durch den Kopf.
Der Motor lief schon, als ihm sein Handy einfiel. Handy! Alle möglichen Leute hatten eins und telefonierten nun ständig beim Einkaufen, beim Spazierengehen, beim Sex. Unerträglich. Sein Sohn hatte ihm zum Geburtstag solch ein Wunderding geschenkt, damit er auch auf der einsamsten Straße Schwedens bei einem Notfall, einem Unfall oder einer Panne Hilfe holen konnte. Und da die Wege, also auch die Rettungswege, weit waren, hielt er es für sehr vernünftig, seinen Vater mit einem persönlichen ›Notrufmelder‹ auszustatten. Gunnar hatte diese Segnung des Kommunikationszeitalters bisher selten benutzt.
Doch nun fühlte er sich einsamer, als er je bei einer Panne auf den unendlichen schwedischen Straßen durch menschenlose Waldgebiete hätte sein können und fand, das sei genau der richtige Moment, das Ding zu testen.
Er griff ins Handschuhfach und wählte mit zitternden Fingern die Notrufnummer.
Als sich die sachliche, kompetente Stimme am anderen Ende meldete, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Wirr, aber ruhig und geduldig von der fremden Stimme geleitet, berichtete er von seinem grausigen Fund. Es gelang ihm auch nach einiger Überlegung, sich auf seinen Nachnamen zu besinnen und sich an den Weg zu seinem Häuschen zu erinnern. Er möge dort bleiben und nichts berühren oder gar verändern, beschied ihm sein gesichtsloser Partner mit der angenehmen Stimme, die Polizei würde schnell eintreffen. Dann legte er auf.
Gunnar war wieder allein.
»Nichts berühren!«, zischte er sarkastisch. »Ich habe nur gerade das ganze Haus geputzt. Das wird der Polizei nicht so recht gefallen!« Er überlegte, was nun am besten zu tun sei.
Die Frau konnte doch nicht einfach von einer der Familien vergessen worden sein, wie damals die kleine Katze. Man würde doch wohl bei der Abreise bemerken, dass eine Person fehlte!
Unfall? Nein, das war doch sehr unwahrscheinlich! Alte Damen spielten nicht unbekleidet Verstecken auf Dachböden und gerieten dabei versehentlich in eine alte Truhe, um dort den Tod zu finden.
Nein, Gunnar schüttelte den Kopf, das schied mit Sicherheit aus.
Suizid vielleicht? Nein, das kam auch nicht in Frage. Er hatte schon viel über Suizidversuche in Ingas Frauenzeitschriften gelesen – aber sich in eine Truhe legen und zwischen Decken und Kissen abwarten, bis man entweder erstickte oder verdurstete? Nein. Wie hätte sie auch selbst den Riegel sichern können? Nein, das schied aus! Dann also musste wohl doch jemand die Tote mit Absicht in die alte Truhe gelegt haben! Gunnar fröstelte und rieb sich die Oberarme.
Kannte er die Frau?
Er kam immerhin alle vierzehn Tage zum Mähen vorbei. Bei der Gelegenheit konnte er sie getroffen haben! Vielleicht hatten sie sich unterhalten? Gunnar konnte gut Englisch und die Touristen meist auch. In dieser Saison war es häufig zu persönlichen Gesprächen mit den Feriengästen gekommen. Sie nutzten das schöne Wetter um sich zu sonnen oder mit den Kindern im Garten zu toben. Gut möglich, dass er mit ihr über das Wetter gesprochen hatte oder das schwedische Gesundheitssystem, über das er sich oft maßlos ärgerte. Und dabei hatten sie beide nicht geahnt, dass sie schon bald sterben würde. Gunnar versuchte diesen unangenehmen Gedanken abzuschütteln, aber manchmal erweisen sich gerade die unangenehmen als besonders klebrig. Wie eine Fliege an einem Fliegenband blieb er in seinem Kopf hängen und summte dort herum. Erschöpft lehnte er sich an die Nackenstütze und schloss die Augen.
Die Haut der Toten hatte eine eigenartig ungesunde Färbung gehabt und spannte sich pergamentartig über den Schädelknochen, kehrten seine Gedanken wieder zu seinem Fund zurück. Ihre Augen waren trübe und milchig. Vielleicht, dachte Hilmarström, waren sie früher blau, aber das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Wieder wurde ihm schlecht, er glaubte den süßlich-fauligen Gestank der Verwesung selbst hier in seinem Auto wahrnehmen zu können. Weil er fürchtete, sich wieder übergeben zu müssen, hielt er den Atem an, beugte sich weit aus dem Auto und zählte langsam bis zwanzig. Als er merkte, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte, lehnte er sich ächzend zurück. Der Mund der Leiche war geöffnet gewesen und Gunnar hatte bemerkt, dass einige Zähne fehlten. Er überlegte, ob sie wohl vor ihrem Tod noch alle Zähne gehabt hatte und die Lücken erst danach entstanden waren – oder hatte sie vielleicht eine Prothese getragen?
Durch die nach dem Tod eingetretenen Veränderungen, war es ihm nicht möglich gewesen zu erkennen, wie alt die Frau geworden war. Gunnar konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das Gesicht ausgesehen haben mochte, als es noch von Leben, Lachen, Zorn und Freude erfüllt war. Die Verwesung hatte dazu geführt, dass der gesamte Körper aufgedunsen wirkte. An einzelnen Stellen hatte sich das Gewebe von den Knochen gelöst, hing in Fetzen herunter. Eine schleimig wirkende Schicht überzog weite Bereiche des Leichnams, um die Mitte herum war er gallertartig verändert. Die Hände hatten auf ihn dagegen einen eingetrockneten Eindruck gemacht, doch jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob das wirklich stimmte. Ich hätte mir vielleicht die Hände genauer ansehen sollen, dachte Gunnar, an den Händen konnte man einen Menschen auch ganz gut erkennen. Doch er wusste, dass er keinen noch so winzigen Moment länger auf diesen entstellten Körper hätte sehen können.
Es war schon zu lang gewesen!
Der Anblick der Toten würde ihn verfolgen, nächtelang in seinen Träumen heimsuchen.
Und obwohl er nur für Sekunden auf die Frau gestarrt hatte, waren erstaunlich viele Details in sein Gedächtnis eingegraben, registrierte er mit leichter Überraschung, mehr als ihm lieb sein konnte.
Ob er das Haus wohl je wieder betreten könnte?
Oder vermieten?
Was, wenn die Vermietungsagentur von der Leiche Wind bekam? Sie würden sein Haus womöglich aus ihrer Angebotsliste streichen! Wer will schon seine Ferien in einem Haus verbringen, in dem man eine Leiche entdeckt hatte?
Ihm wurde wieder schlecht.
»Nimm dich zusammen!«, schimpfte er leise.
Gunnar Hilmarström stieg aus dem Wagen und setzte sich auf die Holzbank im Garten, von der aus er den Eingang im Auge behalten konnte. Je mehr er darüber nachdachte, desto intensiver wurde die Überzeugung, er habe beim Rauslaufen Schritte hinter sich gehört – vielleicht war noch jemand im Haus, hatte in einem der alten Schränke gelauert?
Er lauschte angespannt, sah sich ein paar Mal hektisch um.
War der Mörder noch hier?
Und er, Gunnar, sein nächstes Opfer?
Energisch schüttelte er den Kopf und zwang sich zur Ruhe. Wenn eines klar war, dann doch wohl die Tatsache, dass die Frau nicht gerade eben erst ermordet worden war! Bestimmt sehe ich mir einfach zu viele Krimis im Fernsehen an, überlegte er, während er so sehnsüchtig wie nie zuvor auf das Eintreffen der Polizei wartete.
Woran mochte sie gestorben sein und welche seiner Sommerfamilien hatte ihm wohl diese unangenehme Überraschung hinterlassen? In diesem Jahr waren viele ältere Damen unter den angemeldeten Gästen.
So etwas passiert eigentlich gar nicht wirklich!
Gunnar stützte seinen Kopf in die Hände und rieb sich die Augen.
Man fand keine wildfremden Leichen in einer Truhe auf dem Dachboden!
Das war doch einfach absurd! Und im höchsten Maße unfair!
Vielleicht war sie während der Ferien einfach gestorben und die Familie hatte Angst gehabt, mit den Behörden zu verhandeln, weil sie kein Schwedisch sprechen konnte?
So könnte es gewesen sein!
Seine letzte Familie war vor vier Tagen abgereist. Konnte eine Leiche sich in so kurzer Zeit derart verändern? Gunnar rieb die Hände aneinander. Er fror trotz der Sonne. Rastlos fuhr er sich mit der immer noch zitternden rechten Hand übers Gesicht.
Am ehesten kamen wohl die Deutschen dafür in Frage, entschied er dann vorurteilstreu.
»Dabei waren die Kinder so freundlich. Wer hätte an so was gedacht? Man soll sich eben nicht von einem lächelnden Gesicht täuschen lassen!«, sagte er laut zu sich, um eine Stimme in der Einsamkeit hören zu können und hob den Kopf, um die Straße ein Stück weiter einsehen zu können. Wo blieb nur die Polizei? Wenn man zu schnell fuhr oder in einer Ausfahrt parkte, waren sie immer sofort zur Stelle. Selbst an den verlassensten Orten lauerten sie mit ihrer Laserpistole – aber wenn man sie mal wirklich brauchte, ließen sie sich Zeit.
Als er, wie es ihm schien, nach endlosem Warten endlich Motorengeräusche hörte, sprang er erleichtert auf und stand schon in der Zufahrt, als der weiß-blaue Streifenwagen einbog. Der Himmel hatte sich in den letzten zwanzig Minuten zunehmend bewölkt und eine dicke graue Wolke drohte mit Regen. Gunnar zitterte am ganzen Körper. Er war sich allerdings nicht sicher, ob die Kälte, die er so deutlich empfand, wirklich nur mit der gesunkenen Temperatur zu erklären war.
Ungeduldig beobachtete er, wie die beiden Polizisten aus dem Wagen stiegen. Jeder in Hjortronbakken kannte die beiden, Knut und Jan. Hilmarström war erleichtert, jetzt nicht völlig fremden Menschen von seinem schockierenden Erlebnis berichten zu müssen. Bei den beiden fühlte es sich fast so an, als erzähle er es seinem Sohn.
Mit dem typischen Wiegeschritt junger Männer, die sich ihrer eigenen Bedeutung und Wichtigkeit sehr bewusst sind, kamen sie auf ihn zu.
»Hej, hej, Gunnar. Hast du wirklich eine Leiche auf deinem Dachboden gefunden, oder hat die Zentrale sich da einen Scherz mit uns erlaubt?«, fragte Knut gut gelaunt im Näherkommen. Er war groß und stark wie ein Bär, hatte ein gutmütiges Gesicht, schwarze Locken und braune, sanftmütige Augen.
Als Gunnar nickte, verdorrte das breite, nachsichtige Grinsen auf dem Gesicht des Anderen, mit dem ältere Menschen bedacht wurden, bei denen man vermutete, die Demenz mache dramatische Fortschritte.
»Wo?«, wollte er nun knapp wissen.
»Oben. Auf dem Dachboden. In Omas Aussteuerkiste. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen«, brachte Gunnar mühsam hervor. Jetzt, wo der Fund nicht mehr seine Privatangelegenheit war, erschien er in seinen Augen viel realer; es war ihm, als stünde erst jetzt wirklich fest, dass er die tote Frau gefunden hatte, ja mehr noch, als sei sie durch die Erzählung erst wirklich tot.
Die Schwäche, die er in den Knien spürte und die sich rasch über den ganzen Körper auszubreiten drohte, ließ ihn einen Moment leicht schwanken. Jan griff schnell stützend nach Hilmarströms Ellbogen und führte ihn zu der kleinen Bank im der Nähe des Eingangs zurück. Die Sonne war nun völlig hinter dunklen Wolken verschwunden.
Ein kühler Wind kam auf.
»Bleib ruhig hier. Wir sehen uns das Ganze schnell an«, sagte er noch und schon waren die beiden im Haus verschwunden.
Kurze Zeit später kam Knut wieder aus der Tür, blass, grünlich im Gesicht und ohne seine gewohnte jugendliche Forschheit. Hastig lief er zum Einsatzfahrzeug und setzte sich hinein. Durch die Windschutzscheibe konnte Gunnar sehen, dass er aufgeregt in sein Funkgerät sprach.
»Es stimmt also. Du hast tatsächlich eine Tote gefunden!«, stellte Jan fest, als er sich zu ihm auf die Bank setzte. Hilmarström glaubte fast so etwas wie Anerkennung in seinem Ton ausmachen zu können. Typisch, dachte er, die jungen Leute finden das spannend und aufregend.
»Das ist die erste Leiche, die ich je gesehen habe! Und ich hoffe inständig, dass mir so etwas nie wieder passiert! In Omas Aussteuertruhe!«, jammerte Gunnar.
Knut kam zu ihnen hinüber und meinte ein bisschen großspurig:
»Die Frau ist wohl schon älter, würde ich sagen. Der Tod muss schon vor ein paar Wochen eingetreten sein, so wie die aussieht. Bestimmt hat eine der Ferienfamilien ›vergessen‹, sie mitzunehmen. Die Zentrale schickt die Spurensicherung vorbei und informiert die Kriminalpolizei.« Dann wandte er sich an Gunnar: »Du wirst leider hier warten müssen, bis die Kollegen da sind. Bestimmt haben sie Fragen an dich.«
Mitfühlend fragte er dann: »Soll ich Inga Bescheid sagen lassen? Sie wird sich doch bestimmt Sorgen machen, wenn du nicht bald nach Hause kommst.«
»Inga!« Gunnar hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil er sie wegen der ganzen Aufregung einfach vergessen hatte. »Du lieber Himmel! Sie wartet ja mit dem Essen auf mich! Jetzt ist sie sicher schon ziemlich wütend, weil ich mich so verspätet habe! Sie weiß ja nicht …« Er nickte Knut dankbar zu, der daraufhin wieder zu seinem Wagen zurückging.
Jan, der eher zart neben Knut wirkte, wuschelte sich durch die dichten blonden Haare und strahlte den Hausbesitzer aus unglaublich blauen Augen an. Mit einer erstaunlich kräftigen Hand schlug er ihm anerkennend auf den Oberschenkel
»Da hast du ja mal wirklich einen Superfund gemacht, mein lieber Gunnar. Inga wird begeistert sein. Alle Achtung!«