Читать книгу 0 oder 1 - Franziska Thiele - Страница 11
-Erzähler-
ОглавлениеDie Frage ob Erleben nur durch aktives Leben im Sinne von Teilhabe möglich ist, ist durchaus berechtigt und wird noch genauer erörtert. Man stelle sich aber zunächst vor, was schleichend eintraf: Die Entwicklung, die bereits im Internet begann und die durch einige soweit genutzt wurde, dass die Zeit, die sie in diesem Medium verbrachten, von längerer Dauer war als die außerhalb.
Ein Aspekt, der in Bezug auf virtuelle Welten einige Beachtung fand, ist der der Gewalt. Körperliche Gewalt ist schon immer ein Problem gewesen, dass oftmals sehr einseitig beschrieben wurde. Zeitungsartikel rügten mindestens jeden Montag die Gewalttaten Jugendlicher und Betrunkener, die vor der Diskothek oder auf den Bahnsteigen stattfanden. Skandale wurden ausgerufen, als Messer mit im Spiel waren. Natürlich wurden auch Kriege benannt, wobei dabei meist nur noch die Anzahl der Toten genannt wurde.
Gewalttätigkeit als Intimität? Die häufigste Gewalt, das immerhin konnte ausgesprochen werden, war die häusliche – es wurde auch in den jährlich erscheinenden Statistiken angesprochen, das schon – viele fühlten sich doch peinlich berührt, alle gaben sich schockiert, niemand sprach aus, dass auch er bzw. sie - ich benutze einfach immer er, nicht weil ich Frauen nicht genauso achte oder als ebenso gleichwertig betrachte, sondern der Form halber, ich finde es schrecklich dieses Querstrich in, durch das der Lesefluss komplett angehalten wird - in die Statistik gehörte. Daher die Intimität – niemanden gingen kleine Ausrutscher etwas an. Das sahen auch die Familienmitglieder so – ist die Schwelle überstiegen, dann gibt es nun mal kein Zurück mehr. Was folgt nach einem ersten, nach einem zweiten Schlag, einer kleinen Überschreitung? Der Versuch, es ungeschehen zu machen, beinhaltet selbstverständlich auch die Vertuschung, denn je weniger davon wissen, desto mehr können alle Beteiligte selbst daran glauben, dass der kleine Ausrutscher wieder nur ein Versehen war. Warum? Der Mann, manchmal freilich auch die Frau, dem Menschen tut es danach Leid, er ist fassungslos über den eigenen Kontrollverlust – so fassungslos, dass die Beteiligten Mitleid für die Person, die eben noch in unaufhaltsamer Rage und durch Worte nicht mehr aufzuhalten war, empfinden. Das Mitleid, das Mitgefühl für diese Fassungslosigkeit, sie ist es, die die Intimität hervorruft.
Was passiert nun also mit der Gewalt? Virtuelle Spiele besaßen meist viele Gewaltkomponenten und wurden auch für Attentate verantwortlich gemacht – sie gerieten in der Öffentlichkeit, vor allem unter Lehrern, Sozialpädagogen und andere, die immerzu Erklärungen für das widerspenstige Verhalten einer Jugendlicher suchten, Erklärungen, welche nicht das System in Frage stellten und auf die man leichter mit dem Finger zeigen konnte, sehr in Verruf – dabei wurde vergessen, dass alle Bilder, die die Gewalt zeigten, was in erster Linie im Fernsehen, das Massenmedium, in welchem der berichtende Journalismus zu einer Ausstoßung aneinandergereihter Sensationsbilder verstümmelt wurde, der Fall war, aber unter dem Begriff der News und Nachrichten dann wiederum erlaubt, da es als Wahrheit propagiert wurde. Das Fernsehen zeigte oft erst, was möglich war und machte es vor, die Videospiele machten daran meist nur einen Bruchteil aus. Die Frage des Gewalt Erlebens und der eigentlichen Ausführung muss in den Mittelpunkt gesetzt werden. Das Darstellen von Gewaltszenen mit Kämpfen, wie sie auch Kinder beim Spielen simulieren, führen nicht zwangsläufig zu realer Gewaltausführung, sondern stehen oft symbolisch für die Darstellung des Kräftemessens. Auch Schattenkämpfe und Kriegstänze hatten lange Traditionen in der Menschheitsgeschichte und führten nicht zu ständigen Gewaltausbrüchen bzw. für Gewaltexzesse verantwortlich gemacht. Persönliche Aggression, die aus Wut entspringt, ist also Voraussetzung für Gewalt.
Die Verlagerung des Mittelpunkts des Lebens in die virtuelle Welt und die schleichende Vernachlässigung der realen Welt konnte erst in einer Gesellschaft, deren sozialen Systeme wie Familien genug brüchig waren, genug brüchig gemacht wurden, entstehen – die meisten hatten bereits jeglichen Halt durch Bindungen verloren und vertieften sich mehr und mehr in andere Welten. Was hat das mit Gewalt zu tun? Ob es Kriegsspiele waren, die im Übrigen nach und nach an Beliebtheit verloren oder andere Aktivitäten, die erste, die wirkliche Welt, sie war für viele die grausamsten, verlor zunehmend das Interessenpotential und wurde nur nach und nach noch für die nötige Energielieferung wichtig, um sich ihr dann wieder zu entziehen. Als die Einführung von PR2 schließlich die Möglichkeit schuf, sich hier unkörperlich frei zu entfalten, und mit anderen Menschen zu interagieren, wurde die Gewalt in dieser Welt von jedem zur Genüge getestet. Das Gefühl des Erleben gab es noch immer – die Nerven ließen die Menschen sogar Gewaltangriffe spüren, konnten aber keinen realen Schaden hervorrufen. Das Schmerzgefühl brach unmittelbar nach dem Angriff wieder herunter. Der Körper, so, wie er ursprünglich genutzt wurde, spielte nur noch eine untergeordnete Rolle.
Eine entscheidende und unbeabsichtigte Folge der Ersetzung einzelner Körperteile durch nicht natürliche Teile war, dass jeder Körper mit ähnlichen Grundlagen ausgestattet wurde, die unabhängig von individuellen Einflussnahmen, die zuvor durch Krafttraining, körperliche Fitness und durch die Nahrungsaufnahme, veränderlich wurden. Ein direkter Kampf, der körperliche Vorzüge zeigen sollte, wurde also sinnlos. Gewalt in der realen Welt fand freilich noch statt, doch war sie rückläufig, wie auch der Aufenthalt in der realen Welt rückläufig war: Es gab nicht mehr die Zeit für diese Gewaltakte und auch sich selber konnte man nicht mehr durch Gewalt in eine bessere Stellung bringen – mit anderen Worten: es fehlten die Gründe und nach und nach gab es auch keine Gelegenheiten mehr, denn warum sich hier herumschlagen, wenn alle anderen Schritt für Schritt sogar das Fliegen in der anderen Welt erlernen konnten. Die Familien, wenn sie sich mochten, sie trafen sich freilich auch in der nicht realen Welt. Aggression oder das Potential dazu, es sank für eine lange Zeit auf ein minimales – natürlich wurden spektakuläre Kämpfe praktiziert, um das gelernte auszutesten, doch waren sie nicht von Aggression angeregt. Erst nach und nach, als die Langeweile sich irgendwann einschlich, als die Grenzen der Welt und das Bewusstsein, dass es auch hier Machtstrukturen gab, wuchs, kehrte die Wut zurück in die Gemüter – die Versuche, sich durch Gewalt zu helfen, die schon immer auch aus der Wut, sich aus einer verzweifelten Situation zu befreien, vor sich selbst zu entfliehen, waren freilich ohne Erfolg.
Gewalt als Macht, die gab es noch – sie wurde erst nach und nach erkannt, nach Jahrzehnten oft, doch Zeit spielte ohnehin keine Rolle mehr. Erst als die Sensibilität des Gehirns so fortgeschritten war, dass die Menschen ihre Möglichkeiten abzuschätzen lernten, erkannten sie auch, dass es Grenzen gab, die in diesem System unnatürlich waren. Doch das System war trügerisch und freilich mit viel Raffinesse entwickelt: So dachten die meisten an Fehler in der eigenen Übertragung des Systems oder zweifelten gar an ihren eigenen Fähigkeiten, als sie zum Beispiel Gebäude wahrnahmen, die sie nicht betreten konnten. Da dies nur sehr wenigen, die mit feinsten verästelten Nerven ausgestattet waren, passieren konnte, wurden sie von den anderen meistens als krank oder gestört angesehen und nicht für wahr genommen. Oft glaubten die Getäuschten schließlich selbst daran, unter eigenen Störungen zu leiden. Natürlich war den normalen Menschen nicht alles möglich – das System, es bestand nicht nur aus der einen wahrnehmbaren Schicht – es gab noch weitere Schichten, doch der Zugang wurde durch einen Code gesperrt. Die Sensibelsten hätten ohne dieses Programms all die Dinge, die Institute und Häuser, wahrnehmen können, wenn auch nicht scharf erkennen. Die Form der Machtausübung durch die Unwissenheit der „Niederen“, sie blieb vorhanden, war sogar stärker, als je zuvor.