Читать книгу 0 oder 1 - Franziska Thiele - Страница 4

-Erzähler-

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Sicherlich gab es noch immer viele Zweifler. Doch sind Zweifler ohne Möglichkeiten, eine Veränderung einzuführen oder überhaupt ihre Zweifel darzustellen, vor allem für sich selbst eine Last. Obgleich es vielen nur noch als Bestätigung Ihrer Selbst blieb – der Zweifel als Erkennungsmerkmal des Menschlichen. Der Zweifel bestätigte das menschliche Gehirn, mehr noch: das Bewusstsein. Die meisten lebten längst fast ausschließlich in der, wie man noch früher sagte, virtuellen Welt, heute gibt es mehrere Namen dafür, doch erübrigt sich dies, wenn sich alle ohnehin darin befinden. Das Zentrale Nervensystem, man brauchte es noch, Übel und Segen zugleich, Schnittstelle des Menschlichen Bewusstseins. Das Gehirn blieb also erhalten, ebenso das Rückenmark und damit oft auch die Wirbelsäule und weitere Nervenstränge, die des Darms, ohne dass der Darm weiterhin der Verdauung diente. Je nach Bedarf konnten die übrigen Teile ersetzt werden und wurden es auch. Aber dies geschah langsam und allmählich, begann bei Tabletten, die den Schmerz milderten, führte weiter zu Operationen, in denen man Teile von Organen herausnehmen konnte, wie es bei der früheren Volkskrankheit, die durch die sich verbreitende bösartige Krebszelle entstand, der Fall später. Später konnte man nicht nur Organe, sondern auch Blut tauschen, spenden und jemandem wieder geben. Schließlich konnten unterstützende, nicht physiologische Systeme wie Herzschrittmacher eingesetzt werden, später natürlich Hände und Arme, Beine und alles weitere. Es war ein Vorgang mit zunehmender Geschwindigkeit, sowie die Netzwicklungen sich beschleunigten. Sogenannte Behinderte, die es gab, Menschen mit körperlichen Fehlfunktionen oder fehlenden Gliedern, bei ihnen wurden zuerst fehlende Körperteile rekonstruiert und wieder eingesetzt – die Nervenbahnen wurden wieder verbunden und der Behinderte konnte das Körperteil bewegen. Das war die öffentliche, die positive Seite dieser Entwicklung. Längst waren die Wissenschaftler soweit, alle möglichen menschlichen Körperteile, die der ständigen Zersetzung, dem Altern, ausgesetzt waren, zu erneuern. Was blieb waren Gehirn und Rückenmark mit alle den Nerven, die den Menschen noch ausmachten. Freilich kamen diese Entwicklungen nur nach und nach auf den Markt, um die Menschen langsam daran zu gewöhnen. Doch bald sahen die meisten Menschen die Vorteile, die es mit sich brachte, wenn man sich einen neuen Arm einsetzen lassen konnte, um den müde und schlaff gewordenen zu erneuern. Natürlich gab es ab und an Reklamationen, wenn die neuen Teile nicht gut passten, abfielen oder von den Nerven nicht gleich angenommen wurden, aber das waren Anfangsschwierigkeiten. Insgesamt verlief alles nach Plan. Arztpraxen wurden umfunktioniert und konnten nach einigen Jahren zum Teil komplett geschlossen werden. Das Leben wurde länger und länger, der natürliche Tod immer ungewöhnlicher. Die Entwicklung war bereits einfach voraus zu sehen, da sich das natürliche Lebensalter mit steigender Hygiene und Medizin stetig erhöhte und durch den Einsatz der künstlichen, mechanischen Körperteile in gleicher Richtung verlief. Es lag also im Sinn der Entwicklung. Nur die Antwort auf die Frage, wie lange es möglich war, zu leben, hat man nicht gleich beantwortet, das sollten die Menschen selbst herausfinden. Vor allem aber sollten die Menschen nicht die Angst vor dem Tod verlieren, sie sollten sich nicht ganz sicher fühlen. Denn wer sich sicher fühlt, muss und will nicht kontrolliert werden. Unendliches Leben ist zwar im Rahmen der Möglichkeiten, doch wenn es früher darum ging, das Leben immer weiter zu verlängern, die Menschen als Arbeiter abhängig vom Staat zu machen, so ging es jetzt darum, Wege zu finden, um den Menschen ihre Verletzlichkeit zu zeigen, während sie immer unverletzlicher wurden. Wenn sie körperlich nicht mehr verletzlich sind, dann in ihrem Sein. Denn wenn man kein realistisches Ende sieht, dann muss man sich beschäftigt wissen. Natürlich war es kein Leichtes, als die Zeit langsam gekommen war und immer mehr Menschen das Offensichtliche, dass ihre Arbeit nur Beschäftigungsmaßnahme war, erkannten. Das damalige so genannte Internet war eine Übergangsform, die viele Menschen annahmen und die schon bald nicht mehr aus dem gewöhnlichen Leben wegzudenken war. Die Menschen nahmen es an, entwarfen sich selbst ihre virtuellen Profile, trafen sich via Internet, bezogen ihre Informationen daraus und speisten immer neue ein. Wenn man den Menschen das Gefühl gab, dass sie hier ihr eigenen Herren waren, diejenigen, die längst erkannten, dass dies in der körperlichen Welt schon lange nicht mehr der Fall war, so waren auch sie leicht auf dieser virtuellen Ebene zu bekommen.

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