Читать книгу 0 oder 1 - Franziska Thiele - Страница 6

-Erzähler-

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Zu der Zeit, als er in der Krise steckte, gab es freilich noch eine wirkliche Welt neben der parallel verlaufenden virtuellen. Nur war sie nicht mehr sehr lebenswert, sie wurde nicht unwürdig für ein Menschenleben gemacht. Nach und nach schlossen die Geschäfte, denn auch die Angestellten und Arbeiter mussten zusehen, wo sie blieben und Arbeit wurde immer weniger lukrativ in der Zeit, in der nach und nach alle erkannten, dass sie Ära der notwendigen Arbeiten zu einem Ende gekommen war. Vor allem mit den Lebensmitteln war es schwierig: Anfangs schlossen die Cafés, in denen die Menschen früher gerne bei einer Zeitung verweilten, später auch die Restaurants. Diese Entwicklungen gingen gleichzeitig von statten. Während dieser Zeit wurden den Menschen nach und nach ablesbare Chips in das Gehirn gespritzt. Zuerst mussten sie noch eingebaut werden, bis schließlich auch dieses Verfahren vereinfacht wurde, bis eine einfache Spritze ausreichte. Diese Chips waren dazu imstande die Signale des Gehirns aufzunehmen und weiterzuleiten. Es galt nun erst mal für die meisten zu lernen, damit umzugehen, also die Signale aufzunehmen und zu verarbeiten. Man benötigte bewusste Konzentration für einen solchen Denkprozess. Und diese Konzentration, welche viele im Laufe des beschleunigten Lebens längst abtrainiert hatten, benötigte für einige viele Stunden. In all den vorherigen Jahren wurde alles darauf ausgelegt, dass das versierte Denken durch eine Vielzahl von Informationen und Eindrücken kaum noch benötigt wurde. Die Flut von Medien und Werbung wurde auf die Spitze getrieben, bis nun bei den ersten Versuchen, sich wieder nur auf einen Gedanken zu konzentrieren, einige Menschen Kopfschmerzen bekamen und wieder abbrechen, eine Pause einlegen mussten, um später weiter zu üben. Worauf sollten sie sich konzentrieren? Nun, das ganze Projekt, das Projekt des zukünftigen Leben war bereits wie ein Computerspiel vorbereitet worden, eine Welt, in die man sich quasi hineindenken konnte, wenn man die Konzentration aufbrachte. Gleichzeitig, denn die Menschen wurden immer älter, wurden mehr und mehr Körperteile durch künstliche ersetzt, der Tod wurde für viele nur noch zu einem schrecklichen Teil der Geschichtserzählung. Die Frage der Moral, der Ethik, wann ein Mensch noch ein Mensch war oder blieb, sie war vor allem in der Zeit davor, in der die Möglichkeiten nur erahnt aber noch nicht für jeden vorhanden waren, sehr umstritten und in aller Munde - das war der Zeit, als man nur von Wissenschaftlern über die angeblichen, noch recht mystisch klingenden Möglichkeiten erfuhr. Längst wurden Organe ersetzt und Behinderte konnten ihre künstlichen Extremitäten bewegen, doch den Menschen fehlte es schon immer an Weitsicht, sie ließen sie sich nehmen, um an das nächste Shopping zu denken. Die Grundsatzfragestellung wurde in der Zeit von Menschen, die zusahen und darüber lasen, weniger von den Wissenschaftlern, welchen längst klar war, dass, wenn es soweit war, alle Menschen dabei sein würden, gestellt. Schließlich, wenige Jahre später, als die planmäßig vorgesehene Zeit gekommen war, dass sich ein jeder nicht nur ein künstliches Hüftgelenk, sondern auch ein Arm, Bein oder was auch immer ersetzten lassen konnte, da wurde es dann doch fraglos angenommen, denn wer wollte schon lieber am lebendigen Leib sich eingehen sehen, während die anderen sich schönen Ersatzteilen erfreuten und mit ihnen weiterlebten? Man gewöhnte sich bald an den Anblick der künstlichen Körperteile, die mehr und mehr Vertrauen fanden.

Bald darauf gab es unterschiedliche Möglichkeiten zur Energiegewinnung des Körpers, manche aßen noch und benötigten gleichzeitig Energie im Form von Strom, es war eine Mischung, die jeder auf seine Bedürfnisse, dessen, was künstlich und nicht künstlich war, anpassen musste. Allein Gehirn und Rückenmark blieben meistens wie sie waren. Später sorgten Akkus, die zwei bis drei tage hielten, für die nötige Energie. Nahrung im herkömmlichen Sinn wurde nicht mehr benötigt - daher das Absterben der Restaurants. Auch die Lebensmittelläden kamen wenig später hinzu, sodass es immer schwieriger wurde, einen ursprünglich erhaltenen Körper auf die normale Art zu versorgen. Viele Geschäfte achteten nicht mehr auf die Haltbarkeit ihrer Produkte, manche warteten, bis alles verkauft wurde und bestellten keine neue Ware, bis sie das Geschäft vollkommen schlossen. Viele ließen sich zu dieser Zeit auch einige ihrer gesunden Körperteile ersetzen, da die künstlichen wesentlich leichter zu versorgen waren. Es gab noch so etwas wie Schmerzen, denn natürlich wurden die Körperteile an das zentrale Nervensystem geschlossen, damit sie auf die Impulse reagieren konnten. Nur waren sie mehr ein Gefühl davon, dass etwas nicht heile sei, mehr ein eindringlicher, vorgeschobener Gedanke, der nach Reparatur verlangte. Dadurch, dass er sich immer wieder vor die anderen Gedanken schob, so, wie es auch der Schmerz vermochte, war er fast genauso effektiv in dem Ziel, dass das Körperteil repariert werden musste, um dem Menschen wieder andere Gedanken zuzulassen. Es war eine wirkliche Umbruchszeit, in der jeder zusehen musste, mitzukommen – das Denken konnte erst später folgen. Nun, die Entwicklung hatte schon wieder etwas komisches, lustiges: Vor der Zeit des Umbruchs geschah fast Nichts, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, aber diese sprach bereits von dem Umbruch, diskutierte über das, was es noch nicht gab. Als schließlich der Umbruch kam, so trug vor allem wieder das Ego, die Angst, nicht mit den anderen mithalten zu können - die Angst, als klägliches Häuflein verrottender Zellen übrig zu bleiben, dazu bei, dass die Menschen diese Diskussionen nicht mehr auf sich selbst bezogen, wenn sie nun mal gerade Schmerzen hatten oder der letzte Supermarkt im Viertel geschlossen hatte und es die Möglichkeit gab, ihre kaputten und nach Nahrung verlangenden Glieder durch ein künstliches Gelenk ersetzen zu lassen und nicht daran zu sterben, wer und warum sollte in dieser Situation nein sagen? Sagen können? Mit der sogenannten virtuellen, besser parallelen Welt sah es zwar zuerst anders anders aus, es war aber letztendlich das gleiche: Wie auch mit den künstlichen Körperteilen wurde dafür gesorgt, dass die Nervenimplantate für alle erschwinglich waren, denn es war nicht nur irgendein Plan für die Zukunft, sondern bald die einzige Möglichkeit zu leben. Bald wurde es den Menschen, deren Mangel an konzentrierten Denken größer war als angenommen durch ein Zusatzprogramm der Zugang in die virtuelle Welt um ein Vielfaches erleichtert. Die Menschen, welchen die Fähigkeit zur Konzentration durch zu viel sinnlosen vorherigen Masseninput abhanden gekommen war, den konnte das weitere Programm zur Hilfe umsonst gestellt werden, eines, wo man sich nur in das ein- und ausschalten hineindenken musste, um in die Welt zu kommen. Freilich wurde es bald zu einem Standard, ein Anreiz, der zu einem späteren Muss verhalf – kein neues Prinzip.

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