Читать книгу 0 oder 1 - Franziska Thiele - Страница 13

-Ich-

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Ich verbringe viel Zeit damit, mich zu erinnern. Bereits meine Eltern, die ein hohes, aber natürliches Alter erreicht haben, fingen mit fortgeschrittenen Jahren mehr und mehr an, aus ihrem Leben zu erzählen. Jedes Jahr, das man erlebt, fühlt sich, je älter ein Mensch ist, kürzer an als das vorherige. Das hängt mit den Relationen zusammen: Für ein vierjähriges Kind besteht die Hälfte seiner Lebenszeit aus zwei Jahren, für einen achtzig Jährigen aus vierzig Jahren. Dabei ist ein Jahr für den Vierjährigen schon ein Viertel des Lebens, während für den achtzig Jährigen ein Jahr nur ein Achtzigstel ausmacht. Da uns nach und nach Einzelheiten aus unserem eigenen Leben abhanden kommen, erzählen viele daraus, um sich selbst und andere davon zu vergewissern, dass es wirklich sie waren, die das erlebt haben. Manche Momente erscheinen noch glasklar und können, besonders bei Tagträumen noch in ihrer Intensität empfunden werden, andere verschwimmen zu einer Mischung aus Zeitgeschichte, Erlebten und Erfahrung. Die Distanz, die sich zwischen dem jetzigen nachsinnenden alten Menschen und der agil handelnden Person, die er einmal war, geschoben hat, lässt zwischen dem wirklich erlebten und der Vorstellung über die eigene Person eine Diskrepanz entstehen, sodass die Nacherzählung durch die Zeit zwangsläufig verändert wird, um diese wieder in einen Einklang mit der jetzigen, anders denkenden Person zu führen. Erzählt jemand eine Geschichte, direkt nachdem er sie erlebt hat, wird sie anders klingen als fünfzig Jahre später, wo sie durch ihre Resultaten nicht selten zuerst bewertet wurde.

Warum ich mir so viele Gedanken darüber mache?

Ehrlich gesagt empfinde ich die steigende Angst, meine Erinnerungen zu verlieren und gleichzeitig durch sie erstickt zu werden. Dass das nicht gerade logisch klingen mag, ist mir durchaus bewusst, aber man muss meine Lage bedenken: Ich und die meisten Menschen um mich herum sind nun wesentlich älter als jeder eines natürlichen Todes gestorbene Mensch – das heißt natürlich auch, dass jeder von uns so viele Erinnerungen in sich trägt, dass sie wieder verschwimmen. Es ist wie mit der Suppe, einem früher beliebten Nahrungsmittel, in die man Kartoffeln, Fleisch, Brühe, Bohnen, Erbsen und noch viel mehr hinein rühren konnte. Wenn man nun alles nimmt, was einem einfällt und es dann lange köcheln lässt, so kann man später beim Essen das Fleisch noch an der Konsistenz erkennen, weniger am Geschmack. Erbsen oder Bohnen, Möhren oder Kartoffel, wir können es kaum noch herausschmecken, fast nur erahnen. Nun, ich dachte immer, ich hätte ein gutes Gedächtnis, aber es scheint doch wie mit der Suppe zu sein: Köchelt man zu lange zu viel zusammen, so bleibt ein Brei aus Allerlei kaum definierbaren Klumpen, eine etwas zähflüssige Brühe übrig. Nun, manchmal, ich gebe es zu, wenn ich mich mit alten Bekannten unterhalte und sie über die gemeinsamen Erlebnisse erzählen, bei denen auch ich dabei war, dann wühle ich in meinem Erinnerungsbrei, teste das eine oder andere, aber finde doch nicht das passend schmeckende Stück, ich kann mich nicht mehr in meinen Erinnerungen zurecht finden, es sind so viele, sie sind so alt. Ich gebe zu, das mir solch ein Verlust widerfährt, ist keine Seltenheit. Die Gesichter der Menschen sind freilich nicht mehr die gleichen, denn natürliche Haut hätte sich nicht so lange regenerieren können und so wurden auch die Gesichter mit künstlicher Haut überzogen, was dazu führte, dass jeder anders aussah als zuvor und dass sich die Menschen mehr und mehr anglichen. Und das ist manchmal auch mein Glück, denn wenn ich mich wieder einmal nicht an ein Gesicht erinnere, dann versuche ich dies auf ein verändertes Aussehen zu schieben.

Es geht nicht nur mir so, wie ich in vorsichtigen Gesprächen herausgefunden habe, denn freilich sprechen die meisten Menschen nicht gerne über ihren Gedächtnisverlust, der meiner Meinung nach nicht recht ein Verlust, sondern mehr ein Zusammenkochen ist, weil irgendwann die Nerven ausgelastet sind. Manche sprechen davon, dass es nur zum Guten ist, denn was wäre, wenn man sich an alle Einzelheiten erinnern könnte? Ich aber empfinde Angst, wenn mir jemand anderes aus meinem Leben erzählt und ich nicht einmal mehr beurteilen kann, ob es war ist oder nicht. Es macht mich traurig, wenn ich selbst schöne Momente nicht mehr nachfühlen kann.

Nun, es gäbe da Möglichkeiten, sich einem Teil seines Breis zu entledigen, um wieder mehr Platz für die übrigen Erinnerungen zu haben. Das Prinzip ist das gleiche, das man bei mit Daten vollgestopften Computern anwendet: Man speichert einige Daten auf eine externe Festplatte und kann sie dann vom Computer löschen, um wieder Platz zu haben. Neulich habe ich mich mit einem Mann unterhalten, der dies gemacht hat: Er freute sich, einige Geschehnisse, die ihm zuvor abhanden gekommen waren, wieder klar vor sich zu sehen. Ich stelle es mir so vor, als ob man von der Suppe nun einen guten Teil der dicken Brühe herauslässt und die Brocken, die sich noch nicht aufgelöst haben, behält, sodass man später also die Brocken wieder erkennt und schmecken kann, ob es sich um Fleisch oder Kartoffel handelt. Er erzählte es ganz ähnlich und meinte schließlich, dass ihm der Zwischenraum, also der Brei, zwischen zwei Erinnerungen, diesen Raum, den man nur angedeutet, zusammengeschoben und unklar erkennt, oft verloren gegangen sei. Das ist meine Befürchtung. Natürlich muss etwas fehlen, wenn man neuen Platz schafft. Die Forschung konnte bereits im 21 Jahrhundert Gedanken auf Festplatten übertragen, nur wussten das Anfang des Jahrhunderts nur die Wenigsten. In Laboren wird dies zunächst mit Tieren, dann mit Menschen getestet – später wurde die Trennung einzelner Erinnerungen immer genauer. Mittlerweile ist es kein großer Eingriff mehr und einige, viele heimlich wie es früher mit den Schönheitsoperationen war, da ihr der Erinnerungsbrei in ihrem Kopf peinlich ist, lassen sich Teile ihrer Erinnerungen auf eine Festplatte übertragen. Hat man einmal den Zugang erhalten und sich mit der Funktionsweise auseinander gesetzt, ist es durchaus möglich, selbst die Verbindung herzustellen und somit auf die Informationen auf der Festplatte zurück zu greifen. Wahrscheinlich wird es früher oder später unumgänglich, wenn man wenigstens einige Erinnerungen klar behalten möchte und all die Überlegungen und Sorgen, die ich mir mache, sind umsonst, denn ein langes langes Leben muss wahrscheinlich wieder und wieder auf Festplatten gespeichert werden. Meine Sorgen? Wer bin ich noch, wenn nicht meine Erinnerungen? Wer bin ich noch, da mein halbes Leben irgendwann wohl als Datenpaket nicht mehr in mir gespeichert ist. Und vor allem, und vielleicht wird auch das noch zu Normalität gehören: Wie ist es mit den Festplatten, die jetzt angeblich und ich kann nicht so recht daran glauben, noch desjenigen sind, deren Gedanken darauf gespeichert sind – werden sie nicht irgendwann genauso benutzt, manipuliert, sind sie nicht bereits jetzt zentral gespeichert? Wenn ich mir vorstellen, was man alles damit machen kann, einfachste Übertragung sämtlicher Erinnerungen – es liegt freilich eine große Spannung darin, aber auch dir große Angst, irgendwann gar nicht mehr zu wissen, wer ich bin. Schon jetzt fällt es mir schwer.

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