Читать книгу Die Wächter von Jerusalem - Franziska Wulf - Страница 12
Annes Welt
ОглавлениеAnne Niemeyer spürte das Ruckeln des Zuges und hörte das Rattern der Räder auf den Schienen. Draußen rauschte die Landschaft an ihr vorbei, und mit jeder Sekunde, die verstrich, ließ sie Florenz weiter hinter sich. Florenz und alles, was sie dort erlebt hatte–oder wenigstens glaubte erlebt zu haben. Florenz. War sie überhaupt dort gewesen? Im Augenblick kam ihr alles so unwirklich vor: Das mittelalterliche Kostümfest, ihre Begegnung mit ihrem Gastgeber Cosimo Mecidea, das geheimnisvolle Elixier der Ewigkeit, das der Dreh- und Angelpunkt ihrer Erlebnisse zu sein schien. Selbst ihre Reise nach Florenz und der Auftrag, für das Frauenmagazin, für das sie arbeitete, über das dortige Calcio in Costume zu berichten, kam ihr vor wie eine Begebenheit aus einem Film. Es schien alles so weit weg zu sein. Einfach irreal.
»Frau Niemeyer!«
Die Stimme der Arzthelferin riss Anne aus ihren Gedanken, und plötzlich wurde sie sich wieder ihrer Umgebung bewusst. Sie sah den taubenblauen Filzteppich zu ihren Füßen, die mit schwarzem Kunstleder bezogenen Chromstühle, den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem sich Zeitschriften und Prospekte stapelten, den Wasserspender, die Garderobenhaken. Dies war nicht mehr das Abteil erster Klasse im Zug von Florenz nach Hamburg. Dies war das Wartezimmer ihrer Frauenärztin. Und was sich vor dem Fenster ständig bewegt hatte, waren nur die Blätter des Baumes vor dem Haus, mit denen Wind und Sonne ihr Spiel trieben. Sie erinnerte sich daran, dass sie nach ihrer Ankunft in Hamburg direkt hierher gefahren war. Doch selbst diese Erinnerung war dunkel und nebulös, so als wäre gar nicht sie es gewesen, die am Bahnhof in ein Taxi gestiegen war und dem Fahrer die Adresse ihrer Frauenärztin genannt hatte.
»Frau Niemeyer, kommen Sie bitte mit.«
Schwerfällig und mit bleiernen Gliedern erhob sich Anne und folgte der Arzthelferin durch den kurzen Flur. Rechts und links befanden sich Türen. Hinter einer war das gleichmäßige Fauchen eines Wehenschreibers zu hören. Eine andere Tür stand offen. Auf einem Stuhl saß eine junge Frau, der gerade Blut abgenommen wurde. Sie lachte über einen Scherz der Arzthelferin und streichelte dabei ihren ausladenden Bauch.
Diese Frauen sind schwanger, dachte Anne. Sie sind alle schwanger und wissen es. Man kann es sehen. Sie können es fühlen. Aber was ist mit mir?
Sie biss sich auf die Lippe und war froh, als die Arzthelferin die Tür des Sprechzimmers hinter ihr schloss. So brauchte sie wenigstens nichts mehr zu hören und zu sehen.
Anne ließ sich langsam auf den Stuhl vor dem Schreibtisch niedersinken und sah aus dem Fenster. Die heruntergelassenen Jalousien verhinderten den Blick nach draußen. Doch in ihrer Fantasie sah sie statt in den Garten einer Hamburger Jugendstilvilla aus einem Fenster eines florentinischen Palazzo. Sie blickte auf Straßen, die von Pferdekutschen befahren wurden. Geistesabwesend streichelte sie ihren Bauch. Er war flacher als noch vor kurzer Zeit. Es war natürlich ausgeschlossen, dass man innerhalb eines Wochenendes schwanger werden und ein gesundes Kind gebären konnte. Und doch hatte sich alles so echt angefühlt, viel realer als das, was sie jetzt erlebte. In diesem Traum- oder Rauschzustand, in den sie das Elixier versetzt hatte, hatte sie Giuliano de Medici geliebt. Sie hatte ein Kind von ihm erwartet. Und dieses Kind hatte man ihr geraubt. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie daran dachte. Als die Tür endlich aufging, erschrak sie und war gleichzeitig erleichtert. Bald würde sie es wissen, bald würde sie Gewissheit haben.
»Guten Tag, Frau Niemeyer«, sagte die Ärztin, reichte ihr die Hand und nahm dann hinter ihrem Schreibtisch Platz. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe starke Blutungen«, sagte Anne.
Die Ärztin sah sie an. Keinesfalls neugierig oder gar abschätzend, nur ganz sachlich.
»Seit wann haben Sie diese Blutungen?«
Anne überlegte. Heute war Montag. Es war kaum vorstellbar, dass sie gestern noch in Florenz gewesen war. Es kam ihr vor, als wären mittlerweile Jahre vergangen. Und doch waren es nicht einmal vierundzwanzig Stunden.
»Seit gestern«, antwortete sie. »Sie setzten gleich am Morgen nach dem Aufstehen ein. Außerdem fühle ich mich nicht besonders gut.«
Die Ärztin blätterte mit gerunzelter Stirn in Annes Karteikarte.
»Bisher haben Sie mir nichts von starken Blutungen berichtet. Ist es das erste Mal?«
Anne nickte. Sie presste die Lippen aufeinander. In ihren Augen brannten Tränen, die mit aller Macht hervorbrechen wollten.
»Hatten Sie Fieber, Schmerzen oder einen Unfall?«
Anne schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. Das Wort kam ihr leicht über die Lippen, so leicht. Eigentlich hasste sie Lügen. Aber sie wusste ja selbst nicht, was die Wahrheit war. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Waren ihre Erlebnisse mit Giuliano de Medici, mit Lorenzo und der Familie Pazzi nur Teile eines wirren Traumes? Sie wusste es nicht. »Ich war am Wochenende in Florenz. Beruflich. Ich arbeite an einem Artikel über das Calcio in Costume.«
»Ach ja, Sie sind Journalistin, nicht wahr?« Die Ärztin lächelte, ohne dass das Lächeln ihre Augen erreichte. Sie war ohne Zweifel besorgt. Vielleicht dachte sie sogar an ein Verbrechen. »War diese Reise sehr anstrengend für Sie?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Anne. »Wenigstens nicht mehr, als bei solchen Aufträgen üblich. Natürlich hatten wir viele Termine, und bei der Hinreise hatte die Bahn erhebliche Verspätung wegen eines Streiks der Gleisarbeiter. Trotzdem lief alles reibungslos, und ich hatte sogar die Zeit und die Gelegenheit, alte Freunde zu treffen. Ich habe vor ein paar Jahren in Florenz gelebt, wissen Sie.«
Die Ärztin nickte. »Ich glaube, Sie haben es schon mal erwähnt.« Sie lächelte verständnisvoll. »Es kann passieren, dass körperlicher oder auch seelischer Stress bei empfindsamen Frauen zu einer besonders starken Blutung führt.«
Wenn Anne sich nicht so jämmerlich gefühlt hätte, hätte sie bestimmt laut gelacht. Sie und empfindsam! Sie war Journalistin. Sie war ehrgeizig. Kollegen sagten ihr nach, dass sie das Durchsetzungsvermögen und die Konstitution einer Dampfwalze hatte, dass sie immer genau wusste, was sie wollte und wann sie es wollte–und dass sie es auch prompt bekam. Volontäre zitterten sogar zuweilen vor ihr, weil sie weder Fehler noch Schlamperei duldete. Man konnte vieles über sie erzählen, aber als empfindsam hatte sie bestimmt noch niemand bezeichnet. Und trotzdem hatte diese Geschichte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie gestern noch nicht einmal in der Lage gewesen war, das Calcio zu sehen. Thorsten, der Fotograf, hatte für sie einspringen und sich Notizen für ihren Artikel machen müssen.
»Ich werde Sie zuerst untersuchen und einen Abstrich machen. Manchmal können Blutungen auch durch Infektionen ausgelöst werden. Gehen Sie bitte in das Nebenzimmer.«
Anne zog sich hinter einem Vorhang aus und kletterte mühsam auf den Untersuchungsstuhl. Sie fühlte sich müde und wund, so als hätte sie die Strecke von Florenz nach Hamburg zu Fuß zurückgelegt.
Gewöhnlich unterhielt sich die Ärztin mit ihr, wenn sie auf dem Untersuchungsstuhl lag. Doch heute sprach sie während der Untersuchung kein einziges Wort, und Anne wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl und wagte nicht, Fragen zu stellen. Um sich ein wenig zu beruhigen und abzulenken, zählte sie ihre Herzschläge, aber es half nicht. Und als sie hörte, wie die Ärztin ihre Instrumente in eine Schale mit Desinfektionsmittel warf, war ihr vor Angst übel.
»Ziehen Sie sich bitte wieder an«, sagte die Ärztin und wusch sich im Waschbecken die Hände. Als Anne hinter dem Vorhang hervorkam, saß die Ärztin wieder auf ihrem Drehstuhl und deutete auf eine Liege. »Bitte, setzen Sie sich, Frau Niemeyer.« Sie holte tief Luft, schüttelte den Kopf und sah Anne mit gerunzelter Stirn an. Anne begann zu zittern. Was war los? »Es tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht sagen, weshalb Sie die starken Blutungen haben«, meinte die Ärztin. »Der Befund ist mir rätselhaft. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass Sie bis gestern mindestens im achten Monat schwanger gewesen sind. Aber ...«
»Schwanger?«, fragte Anne, und für einen Augenblick meinte sie, dass ihr Herz gleich stehen bleiben würde. »Wieso glauben Sie, dass ich schwanger bin ... oder war?«
»Tja, ihre Gebärmutter ist stark vergrößert und sehr weich, so als wäre sie über lange Zeit stark gedehnt worden–eben wie während der Schwangerschaft. Der Geburtskanal ist erweitert, als hätte sich ein kindlicher Kopf hindurchgeschoben, und Sie haben einen Dammriss. Es ist nur ein kleiner Riss, man muss ihn nicht einmal nähen, er wird von selbst heilen, aber er ist da. Auch die starken Blutungen würden hervorragend ins Bild passen. Doch alle Spekulationen helfen nicht, denn als ich Sie das letzte Mal vor vier Wochen untersucht habe, waren Sie bestimmt nicht schwanger. Und schon gar nicht im siebten Monat.« Die Ärztin schüttelte wieder den Kopf und strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht. »Ich kann es mir wirklich nicht erklären. So etwas ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht untergekommen.«
Anne sagte nichts. Es gab zu viel, worüber sie jetzt nachdenken musste.
»Wenn Sie es gestatten, Frau Niemeyer, werde ich mich mit einer Kollegin beraten, die an der Universitätsklinik in Essen arbeitet. Vielleicht hat sie eine Idee.« Anne nickte. »Gut. Außerdem werde ich Sie bis zum Ende der nächsten Woche krankschreiben. Sie sollten sich unbedingt schonen und sich beobachten. Wenn Sie Schmerzen oder Fieber bekommen, zögern Sie nicht, in das nächste Krankenhaus zu fahren. Und wenn Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei. Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald ich mehr weiß.«
Anne erhob sich. »Danke«, sagte sie und reichte der Ärztin die Hand. Sie tat es mechanisch, wie einstudiert, während die Gedanken in ihrem Kopf Kettenkarussell fuhren.
»Sollen wir Ihnen ein Taxi rufen, Frau Niemeyer?«
»Nein ... ich ...«, Anne brach ab. »Vielen Dank, aber ich habe es nicht weit. Ein kurzer Spaziergang wird mir gut tun.«
Als Anne eine Viertelstunde später in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa saß, konnte sie sich kaum daran erinnern, wie sie den Weg von der Praxis bis zu ihrer Wohnung zurückgelegt hatte. Zu sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen. Und dennoch hatte sie es geschafft, an der Anmeldung der Ärztin ihre Krankschreibung abzuholen, zwei Straßen zu überqueren und ihre Wohnungstür aufzuschließen. Sie hatte auf dem Weg sogar Nachbarn getroffen, die sie erkannt und gegrüßt hatte. Nur schemenhaft sah sie ihre Gesichter vor sich, während ihre Gedanken immer wieder um dieselbe Frage kreisten. Wenn ihre Ärztin Recht hatte, war sie wirklich schwanger gewesen? Aber wenn ihre Ärztin Recht hatte, hatte sie wirklich alles erlebt? Ihre Beziehung zu Giuliano de Medici, die Enthüllung von Botticellis Geburt der Venus im Landhaus der Medici. Der rätselhafte Tod von Giovanna de Pazzi. Giacomo. Der Mord an Giuliano. Das geheimnisvolle Elixier der Ewigkeit, von dem Giacomo ihr erzählt hatte. Und natürlich Cosimo. Cosimo de Medici, der genauso aussah wie jener Cosimo Mecidea, der sie in Florenz zu seinem Kostümfest eingeladen und sie mehr oder weniger gezwungen hatte, eine blutrote Flüssigkeit zu trinken.
Am nächsten Tag saß Anne an ihrem Schreibtisch. Eigentlich hatte sie arbeiten wollen. In der Redaktion war man es gewohnt, dass sie ihre Aufgaben prompt erledigte. Dort wartete man bestimmt schon auf den Artikel, den sie über das Calcio in Costume verfassen sollte. Doch es lief nicht wie sonst. Anne seufzte.
Vor ihr stand das aufgeklappte Laptop, daneben waren ihre Unterlagen ausgebreitet–ein ganzer Stapel handschriftlicher Notizen, vier Papierservietten, die mit Thorstens schwer leserlicher Handschrift bekritzelt waren, ein paar ausgedruckte Artikel aus dem Internet, zwei Reiseführer von Florenz. Sie hatte sich nach dem Frühstück mit der Absicht an den Schreibtisch gesetzt, ihren Artikel fertig zu schreiben. Sie wollte diese Angelegenheit hinter sich haben. Sie wollte sich ausruhen, sich schonen, so wie die Ärztin es ihr empfohlen hatte. Vor allem aber wollte sie den Kopf endlich frei haben und sich auf die Fragen und Probleme konzentrieren, die durch die Ereignisse in Florenz aufgeworfen worden waren. Doch stattdessen saß sie zurückgelehnt auf ihrem Stuhl, starrte aus dem Fenster und konnte sich weder auf das eine noch auf das andere konzentrieren. Mittlerweile war es ein Uhr. Vier Stunden hatte sie bereits vergeudet. Allein der Gedanke daran hätte sie normalerweise schon halb verrückt gemacht. Aber nicht heute. Seit Florenz war alles irgendwie anders. Ihre Welt hatte sich verändert.
Florenz. Es war jetzt zwei Tage her, seit sie dort gewesen war. Zwei Tage. Doch ihr kam es so vor, als wäre sie immer noch nicht zu Hause angekommen, als wäre ein Teil von ihr in Florenz geblieben. Florenz.
Der Cursor auf dem Bildschirm blinkte ungeduldig in Erwartung ihrer Texteingabe. Anne startete einen weiteren ihrer mittlerweile zahllosen halbherzigen Versuche zu arbeiten, doch in der Mitte der Textzeile ließ sie ihre Hände sinken und sah wieder aus dem Fenster. Es war nicht einmal ein großer Artikel, der von ihr verlangt wurde–drei Doppelseiten im Magazin, das bedeutete maximal vierzig Textzeilen, da auch noch genügend Platz für die Fotos bleiben musste, die sie und Thorsten vom Markt und dem Calcio gemacht hatten. Eine Routinearbeit, die sie normalerweise innerhalb einer Stunde zwischen der Mittagspause und der Redaktionskonferenz erledigt hätte. Und doch konnte sie sich nicht zusammenreißen und endlich damit anfangen. Es war ganz und gar gegen ihre Gewohnheit. Wie so vieles in den vergangenen Tagen. Seit sie am Sonntagmorgen in dem kleinen Seitenzimmer neben dem Ballsaal im Palazzo Davanzati aufgewacht war, war sie nicht mehr sie selbst.
Dabei war noch am Samstagabend ihr Kopf voller Ideen für den Artikel gewesen. Giancarlo, ein guter Freund und Mitglied der florentinischen High Society, hatte ihr von diesem ungewöhnlichen Kostümball erzählt. Und was er über dieses Fest und seinen Gastgeber Cosimo Mecidea zu berichten wusste, hatte interessant geklungen. Mehr als interessant, es hatte etwas von einem Filmstoff. Ein geheimnisvoller steinreicher Mann, ein Fest, zu dem nur ausgewählte Gäste eingeladen wurden und dessen Veranstaltungsort ebenso geheim gehalten wurde wie alles, was dort geschah. Die Öffentlichkeit erfuhr höchstens ein paar Tage später, dass das Fest am Samstag vor dem Calcio stattgefunden hatte. Das war der Stoff, den die Leserinnen wollten. Anne hatte Giancarlo förmlich auf Knien angefleht, ihr eine Einladung zu besorgen. Und er hatte es tatsächlich geschafft. Sie hatte eine der wenigen in ganz Italien heißbegehrten persönlichen Einladungen von Cosimo Mecidea erhalten. Weshalb ausgerechnet sie, eine deutsche Journalistin, die für ein in Italien weitgehend unbekanntes Frauenmagazin arbeitete, in den Genuss dieses Privilegs gekommen war, darüber hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Vielleicht war sie dafür zu dumm gewesen–möglicherweise auch zu arrogant. Denn hätte sie nur einen Augenblick nachgedacht, wären ihr gewiss Zweifel gekommen, und sie wäre am Sonnabend so klug gewesen, im Hotel zu bleiben. Doch sie hatte nicht überlegt. Sie war voller Erwartung und Neugierde zu dem Kostümfest von Cosimo Mecidea gegangen und hatte sogar in ihrem Artikel darüber berichten wollen. Und dann ... Anne dachte an den Moment, als Giancarlo sie Cosimo Mecidea vorgestellt hatte. Er war ein ungewöhnlich attraktiver Mann mit einem Blick, der ihr noch jetzt Schauer über den Rücken jagte. Da war etwas in seinen dunklen Augen, etwas, für das sie kein anderes Wort fand als diabolisch. Sie hatte ihn niemals zuvor gesehen, aber er hatte sie gekannt, dafür hätte sie ihre Hand ins Feuer legen können. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, fragte sie sich, weshalb sie geblieben war. Weshalb sie nicht bereits zu diesem Zeitpunkt das Fest verlassen hatte. Gründe hätte sie genug finden können, aber sie war geblieben. Aus Neugierde. Vielleicht auch aus Eitelkeit. Und als sie dann schließlich doch hatte gehen wollen, als die Angst vor diesem unheimlichen Mann und seinen düsteren Absichten jede Gier nach einer interessanten Story erstickt hatte, war es zu spät gewesen. Mecidea hatte sie nicht mehr fortgelassen. Sie musste von dem seltsamen Trank probieren, den er seinen Gästen gereicht hatte, eine Flüssigkeit von rubinroter Farbe und dem köstlichen Geschmack nach Mandeln, Veilchen und Honig. Selbst jetzt glaubte sie noch diesen Geschmack auf der Zunge zu haben. Und danach?
Ja, was war dann geschehen? Hatte sie sich alles nur eingebildet, oder war sie wirklich im Jahr 1477 wieder aufgewacht? Hatte sie nur geträumt, dass sie sich in Giuliano de Medici verliebt und dass sie sein Kind erwartet hatte? War es nur das Resultat eines Drogenrausches, dass sie versucht hatte, die Pazzi-Verschwörung zu verhindern, in deren Verlauf Giuliano ermordet worden war? Und war es nur eine Halluzination, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, einen Jungen, der gleich nach der Geburt entführt worden war?
Anne drehte sich langsam auf ihrem Stuhl hin und her. Hier in ihrer Wohnung mitten zwischen all den vertrauten Gegenständen und Bildern, im Angesicht der Errungenschaften der modernen Technik klang das alles nach den Hirngespinsten einer Geisteskranken. Es war verrückt, an die Existenz eines Elixiers zu glauben, das Reisen in die Vergangenheit ermöglichte. Es gab keine Magie. Und folglich gab es auch keine Zaubertränke. So etwas passte nicht in die Welt, wie sie sie kannte. Und die Zeiten, als Alchemisten geglaubt hatten, sie könnten Gold herstellen oder den Stein der Weisen finden, waren gottlob vorbei. Es wurden auch schon seit Jahrhunderten keine Hexen mehr verbrannt–weil man begriffen hatte, dass Hexen und Zauberer nichts weiter als Spuk- und Märchengestalten waren. Wenn also jetzt etwas nicht mit ihr stimmte, so musste es eine ganz natürliche Erklärung dafür geben–ein unbekannter chemischer Cocktail mit stark halluzinogener Wirkung zum Beispiel.
Annes Verstand krallte sich an dieser Theorie fest. Es war eine Droge. Vielleicht eine unbekannte, deren Wirkung noch nicht erforscht wurde, aber nur eine Droge. Nichts weiter. Es musste einfach so sein.
Aber wie kam sie dann zu der Narbe, die seit dem Wochenende auf ihrem linken Brustkorb prangte? In ihrem »Traum« war diese Narbe das Resultat eines Dolchstoßes, der nur knapp ihr Herz verfehlt hatte. Doch woher kam die Narbe wirklich? War es möglich, dass man sich verletzte und die Haut innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden heilte? Und was war mit ihrem Gewicht geschehen? Von Samstag auf Sonntag hatte sie zehn Pfund zugenommen. Ihre Hosen und Röcke passten ihr kaum noch. Wie war das möglich? Ihre Gynäkologin, eine Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand und der sie nichts von dem Elixier und ihren Halluzinationen erzählt hatte, konnte sich nicht erklären, weshalb ihre Gebärmutter vergrößert war. Sie hatte sogar von Schwangerschaft gesprochen. Zwischen dem Zeitpunkt, als Mecidea sie am Abend des Festes in ein kleines Seitenzimmer gebracht hatte, damit sie sich von einem Migräneanfall erholen konnte, und ihrem Erwachen in demselben Zimmer am anderen Morgen war irgendetwas mit ihr geschehen. Aber was? Und da war noch Cosimo Mecidea. Er hatte sie gekannt. Woher? In ihrem Traum hatte sie ihn getroffen–er war ihr als Cousin von Giuliano und Lorenzo de Medici vorgestellt worden. Aber hatte er tatsächlich seit 1477 darauf gewartet, ihr zu begegnen? Das würde bedeuten, dass Mecidea etwa fünfhundertfünfzig Jahre alt sein musste. Und das war doch wohl unmöglich. Oder? ...
Die Fragen schwirrten nur so durch Annes Kopf. Jedes Mal, wenn sie glaubte eine Antwort gefunden zu haben, eine Antwort, die sich mit ihrem Schulwissen über Chemie, Biologie, Physik und Mathematik deckte, tauchten neue Fragen auf, und sie stand wieder am Anfang. Wurde sie vielleicht verrückt? War sie psychisch krank?
Anne erhob sich und ging unruhig auf und ab. Es bestand kein Zweifel mehr, sie brauchte Hilfe. Doch es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. Im Internet, normalerweise ein unerschöpflicher Quell des Wissens, stand nichts, das ihr weiterzuhelfen vermochte, weder über ein »Elixier der Ewigkeit«, wie Mecidea diesen Trank genannt hatte, noch über Zeitreisen. Auch Mecideas Nummer oder Adresse war unauffindbar. Sollte sie noch mal Giancarlo anrufen? Vielleicht wusste er mehr. Sie hatte erst gestern mit ihm telefoniert und zu ihrer Freude erfahren, dass sie sich wenigstens das Kostümfest nicht eingebildet hatte. Dabei hatte er auch von der beschwingten Stimmung gesprochen, die Mecideas Trank verursacht hatte. Von seltsamen Auswirkungen wie starken Halluzinationen hatte er nichts gesagt. Sollte sie ihn jetzt fragen, ob er nach dem Genuss dieses Trankes schon mal eine Zeitreise gemacht habe? Er würde sie bestimmt auslachen. Oder ihr den Besuch bei einem Psychiater empfehlen. Und Cosimo Mecideas Telefonnummer kannte er ebenso wenig wie sie selbst, das hatte er ihr schon gestern gesagt. Also verwarf sie den Gedanken wieder.
Anne setzte sich erneut, beugte sich über den Schreibtisch und schob die zerknitterten Zettel hin und her. Sie stanken geradezu widerlich nach Nikotin.
Noch ein Hinweis, dachte sie und rümpfte angeekelt die Nase. Seit Sonntag früh rauchte sie nicht mehr. Ganz plötzlich, von jetzt auf gleich hatte sie damit aufgehört, ohne dass sie es sich jemals vorgenommen hätte. Dabei rauchte sie bereits seit ihrem sechzehnten Lebensjahr. Seltsam.
Während sie versuchte die Notizen zu ordnen, ging Anne in Gedanken alle Männer und Frauen in ihrer näheren Umgebung durch. Wer von ihnen konnte ihr helfen? Wen konnte sie fragen? Wem konnte sie die ganze seltsame Geschichte erzählen, ohne dabei zu riskieren, ausgelacht zu werden oder eine Empfehlung zur Einweisung in die Psychiatrie zu bekommen?
Da tauchte irgendwo aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins ein Name auf–Beatrice. Und augenblicklich wusste Anne, dass sie die richtige Person war. Beatrice war ihre Cousine, sie war Ärztin, und sie las mit Begeisterung Fantasy-romane. Also stand sie ungewöhnlichen Ideen nicht ganz und gar skeptisch gegenüber. Anne erhob sich von ihrem Stuhl. Langsam. Irgendwie tat ihr immer noch alles weh, als wäre sie verprügelt worden. Sie ging zum Telefon und suchte die Nummer im Telefonregister. Sie und Beatrice hatten nicht besonders oft Kontakt miteinander. Natürlich trafen sie sich zu den üblichen Gelegenheiten–runde Geburtstage in der Familie, Hochzeiten, Beerdigungen ... Zu ihrer Schande musste Anne sich sogar eingestehen, dass sie meistens vergaß, Beatrice zum Geburtstag zu gratulieren. Deshalb war sie auch nicht beleidigt, als sie deutlich die Überraschung in der Stimme ihrer Cousine hörte, nachdem sie sich gemeldet hatte.
»Anne, hallo, wie geht es dir?«
»Nun, darüber würde ich gern mit dir sprechen, Bea. Bist du zu Hause? Könnte ich vorbeikommen?«
»Ja, klar. Wann denn?«
»Jetzt gleich.« Anne merkte, dass Beatrice zögerte. Natürlich. Sie hatte nicht damit rechnen können, dass Beatrice ausgerechnet heute unter Langeweile leiden würde und nichts Besseres zu tun hatte, als sich mit ihr zu treffen. »Wenn du aber etwas vorhast, dann ...«
»Nein, ich bin zu Hause. Thomas und Michelle sind im Kino. Wenn du möchtest, kannst du also gern vorbeikommen. Allerdings fürchte ich, dass ich dir abgesehen von ein paar Keksen und Tee nichts anbieten kann.«
»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Anne rasch und schickte ein Dankgebet zum Himmel. »Ich bin dann gleich bei dir.«
Kaum eine halbe Stunde später stieg Anne vor dem Haus ihrer Cousine aus dem Taxi. Sie blieb stehen und betrachtete es einen Augenblick. Es war ein Doppelhaus aus den zwanziger Jahren mit einer hellgrün verputzten, fast neoklassizistischen Fassade und hohen weißen Sprossenfenstern. Es sah anheimelnd aus und gleichzeitig stark, so als würde es die Familie, die darin wohnte, vor allem Übel beschützen. Ein schönes Haus, dachte Anne. Es hat etwas von einem Dornröschenschloss, auch wenn keine Rosen an der Fassade emporranken.
Mühsam schleppte sie sich die Stufen zur Haustür hinauf. Es dauerte eine Weile, bis auf ihr Klingeln hin die Tür geöffnet wurde.
»Hallo, Bea«, sagte Anne und zweifelte in diesem Augenblick ernsthaft an ihrem Verstand. Was wollte sie hier? Wollte sie wirklich Beatrice von ihren Erlebnissen erzählen? Wollte sie allen Ernstes ihre Cousine fragen, ob sie es für möglich hielt, dass man innerhalb von zwei Tagen schwanger werden und einen gesunden Jungen zur Welt bringen konnte? Oder wollte sie Beatrice vielleicht zwischen Tee und Keksen fragen, was sie von Zeitreisen hielt? Aber jetzt war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. »Tut mir Leid, dass ich dich so überfalle, aber ...«
»Ach, Unsinn, komm herein.« Beatrice lächelte. »Dein Besuch ist ohnehin überfällig. Du kennst unser Haus ja noch gar nicht. Außerdem lieferst du mir einen ausgezeichneten Grund, mich nicht um die Bügelwäsche zu kümmern.«
Sie nahm Anne die Strickjacke ab, hängte sie an die Garderobe und führte sie ins Wohnzimmer. Noch bevor Anne sich genau im Raum umsehen konnte, wurde ihr Blick geradezu magisch von einem Gemälde angezogen, das über dem Sofa hing. Es war ein ungerahmtes Triptychon. Auf einem dunklen Hintergrund in Schwarz und Blau leuchtete, verteilt auf drei schmale, hohe Leinwände, ein orangefarbener Bogen, wie zwei miteinander verschlungene Bänder, die entfernt an einen Fisch erinnerten. Oder an einen breiten Strom aus Lava.
»Von wem ist das Bild?«, fragte Anne und spürte diesen kleinen schmerzhaften Stich, den sie immer dann empfand, wenn irgendjemand ein Gemälde besaß, das sie sich ausgezeichnet an ihrer eigenen Wand vorstellen konnte. Es war purer Neid. »Es ist beeindruckend.«
»Ja, das finden wir auch«, sagte Beatrice. »Es stammt von der Hamburger Künstlerin Heidi Henning.«
Anne schüttelte den Kopf. Dieser Name sagte ihr gar nichts, aber das würde sich schon bald ändern. Wozu gab es schließlich Internet.
»Hat es einen Titel?«
»Ja, es heißt Verwicklungen des Lebens.«
Wie passend, dachte Anne und stellte fest, dass sie für einen kurzen Augenblick tatsächlich vergessen hatte, weshalb sie überhaupt hier war. Doch jetzt drängten alle Fragen und Ängste wieder mit Macht in den Vordergrund. Und sie waren stärker als je zuvor. Ihr Herz begann zu rasen, ihre Hände wurden feucht. Verwicklungen des Lebens–wie überaus passend. Eigentlich sollte das Gemälde wohl eher ihr gehören.
»Setz dich doch«, forderte Beatrice sie freundlich auf. »Trinkst du auch einen Tee?«
»Ja, gern«, erwiderte Anne und nahm auf dem Sofa Platz. Sie sah zu, wie ihre Cousine Tassen aus dem Schrank holte und Kekse auf einen Teller schüttete. Sie kam ihr rundlicher und schwerfälliger vor, als sie sie in Erinnerung hatte. »Entschuldige die Frage, Bea, hast du zugenommen?«
»Ja«, antwortete Beatrice und kam dann mit einer dampfenden Teekanne aus der Küche. »Aber in der Schwangerschaft ist das durchaus normal.«
»Du bist wieder schwanger?«
»Ja, im sechsten Monat.«
»Das wusste ich nicht.«
»Woher auch, wir sprechen uns ja nicht besonders häufig.«
Die Worte klangen beiläufig, und doch war ein gewisser Vorwurf nicht zu überhören. Beatrice hatte ja Recht. Was hatte sie hier eigentlich zu suchen? Und warum musste Beatrice ausgerechnet jetzt schwanger sein? Jetzt, da sie selbst ... Anne biss sich auf die Lippe. Sie war den Tränen nahe.
Beatrice setzte sich in den Sessel und schenkte den Tee ein. Dann nahm sie ihre Tasse, lehnte sich zurück und betrachtete Anne einen Augenblick forschend.
»Na, was ist mit dir?«, fragte sie schließlich, und Anne spürte, wie sie unter dem Blick ihrer Cousine errötete. Beatrice war Chirurgin, und sie war es gewöhnt, keine Zeit zu vertrödeln. »Ich freue mich natürlich riesig über deinen Besuch, Anne«, fuhr sie fort, »allerdings kommt er ein wenig überraschend. Und wenn ich ehrlich bin, klang es am Telefon, als ob es da einen echten Notfall gibt. Andererseits sind wir nicht die besten Freundinnen. Mit Liebeskummer würdest du dich wohl kaum ausgerechnet an mich wenden. Hast du gesundheitliche Probleme?«
Anne starrte in ihre Tasse, als könnte sie auf ihrem Grund die Antwort darauf finden, wie sie dieses Gespräch am besten beginnen sollte. Warum musste Beatrice so direkt sein? Vielleicht hätte sie es sich doch noch mal anders überlegt, einfach nur mit ihrer Cousine geplaudert–über den Beruf, ihre Tochter, ihren Mann, das ganz normale Familienleben. Aber so ... Sie holte tief Luft.
»Ich habe eine Frage–aber bitte lach mich nicht aus.« Sie räusperte sich. Ihre Stimme war seltsam heiser und drohte ganz zu versagen. »Kann man innerhalb von zwei Tagen schwanger werden und ein gesundes Kind zur Welt bringen? Ist so etwas medizinisch möglich?«
Beatrice sah sie einen Moment fassungslos an, dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein, das dauert schon seine acht bis neun Monate, das kannst du mir glauben. Eine Kurzversion lässt die Natur nicht zu. Warum fragst du?«
»Weil–ich weiß, dass du mich jetzt für übergeschnappt hältst, aber ... Nun ja, ich glaube, dass mir genau das passiert ist.«
Beatrice blinzelte, aber sie lachte nicht. Wenigstens das blieb ihr erspart.
»Aha.«
»Ich war an diesem Wochenende in Florenz, und da ist etwas passiert, das alles auf den Kopf gestellt hat. Alles, was ich bisher für möglich gehalten habe.« Und Anne erzählte von Anfang an. Sie erzählte von Mecideas Einladung, von dem Fest, dem Elixier, ihren Erlebnissen im »Traum« bis zu der Geburt ihres Kindes, seiner Entführung und ihrem Erwachen im Nebenzimmer des Ballsaales. Es wurde ein langer Bericht, immer wieder unterbrochen von ihrem Schluchzen. Sie bekam Angst. Wenn Beatrice ihr nun eröffnete, dass sie geisteskrank war? Dass sie an einer schweren Psychose litt? Oder hatte man etwa an ihr ein Verbrechen begangen? Hatte man irgendwelche geheimen medizinischen Versuche an ihr vorgenommen? Das klang zwar nach einer Story über die Entführung durch Außerirdische, aber war das nicht ebenso wahrscheinlich wie die Möglichkeit von Zeitreisen? Dabei erinnerte sie sich so gut an alles, an jede Kleinigkeit. Es war nicht wie die Erinnerung an einen Traum. Es war, als hätte sie alles wirklich erlebt.
Als sie endlich fertig war, schwieg Beatrice eine Weile und drehte nachdenklich ihre Tasse in den Händen.
»Warst du schon bei einem Gynäkologen?«, fragte sie schließlich.
Anne nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Ich bin gestern direkt vom Bahnhof zu meiner Ärztin gefahren.«
»Und was sagt sie?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Sie kann es sich nicht erklären. Die Gebärmutter ist weich und vergrößert, und ...«
»Wie nach einer Entbindung?«
»Ja. Sie sagte, wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glauben, ich sei schwanger gewesen. Mindestens im achten Monat.« Anne schluchzte wieder auf. »Ich habe dieses Kind wirklich gespürt, Bea. Ich habe seine Bewegungen in mir gefühlt. Glaubst du, dass ich verrückt bin?«
Beatrice atmete geräuschvoll aus, dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein, ich glaube nicht, dass du verrückt bist, Anne.«
Anne begann wieder zu weinen. Diesmal vor Erleichterung.
»Aber was ist dann mit mir geschehen? Wie kann es sein, dass ich ...«
»Ich denke ...«, begann Beatrice langsam und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Meiner Meinung nach ist genau das geschehen, was du mir berichtet hast. Du bist in die Vergangenheit gereist. Wirklich und wahrhaftig. Anders lässt es sich nicht erklären–deine Narbe, die Schwangerschaft. Menschen können unter Halluzinationen leiden, sich etwas einbilden, einem Ultraschallgerät ist das nicht möglich. Vielleicht hat dieser Mecidea dich mit dem Elixier betäubt. Bist du sicher, dass er dir keinen Stein gegeben hat? Einen Edelstein?«
»Ja, ganz sicher, das heißt ... Ich trug am Samstag zu dem Kleid ein Granatcollier.«
»Granat? Und da war kein Saphir dabei? Ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
Beatrice biss sich auf die Lippe. »Dann muss es also auch noch andere Möglichkeiten geben.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts, nichts Bestimmtes.« Beatrice strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Dann sieht es so aus, als ob dieses Elixier für deine Zeitreise verantwortlich wäre.«
»Aber ... das ist doch verrückt. Es gibt keine Magie, keine Zauberei. Das ist doch ...« Anne zuckte hilflos mit den Schultern. »Das ist doch wider alle Naturgesetze.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Nur gegen jene, die wir bisher kennen, Anne. Aber was weiß der Mensch schon?«
Anne sah ihre Cousine verblüfft an. Meinte Beatrice es tatsächlich ernst? Es sah danach aus. Dann musste sie lachen.
»Dann bin ich also eine Zeitreisende. Ich dachte immer, so etwas gibt es nur in Filmen und Romanen.«
»Wenn du wüsstest ...«
»Wie bitte?«
»Nichts
Sie tranken einen Schluck Tee, und jede hing ihren eigenen Gedanken nach.
Ich würde zu gern wissen, was Beatrice denkt, ging es Anne durch den Kopf, und betrachtete ihre Cousine forschend. Es ist erstaunlich, wie leicht sie zu überzeugen ist. Wenn sie mir so eine haarsträubende Geschichte erzählt hätte, hätte ich sie bestimmt nicht so ohne weiteres geglaubt.
»Und was. soll ich jetzt tun?«, fragte sie schließlich. »Kannst du mir einen Rat geben? Ich kann doch nicht einfach zum Alltagsgeschehen übergehen und so tun, als wäre diese Sache eine Erfahrung wie Bungee-Jumping–etwas abgefahren, aber durchaus normal. Außerdem ...« Anne senkte den Kopf. »Ich möchte meinen Sohn sehen. Ich möchte wissen, was aus ihm geworden ist, ob es ihm gut geht.«
Beatrice lächelte. »Das kann ich sehr gut verstehen, Anne. Aber die gängigen Informationsquellen wie Internet, Archive und Lexika werden dir kaum weiterhelfen können. Ich fürchte, du wirst diesen Mecidea ausfindig machen müssen. Er wird deine Fragen mit Sicherheit beantworten können.«
Anne lächelte schief. »Natürlich kann er. Die Frage ist nur, ob er dazu auch bereit ist.«
Ja, genau das war die Frage, die Anne sich schon die ganze Zeit über gestellt hatte.
Es war schon spät am Nachmittag, als Anne endlich wieder zu Hause war. Sie hatte noch eine Weile mit Beatrice alle Möglichkeiten, über dieses geheimnisvolle Elixier etwas herauszufinden, durchgesprochen, dann waren Thomas und Michelle nach Hause gekommen, und sie hatten zusammen Tee getrunken. Für kurze Zeit hatte Anne ihre Probleme und Sorgen in einem anderen Licht gesehen. Sie waren ihr nicht mehr so düster und unüberwindlich erschienen. Erst jetzt, als sie ihre Tür öffnete und über die Schwelle ihrer Wohnung trat, schlug wieder alles über ihr zusammen. Es war, als hätte ihre Angst, ihre Verzweiflung und alle ungelösten Fragen hier auf sie gewartet. Anne schluckte und schloss die Tür hinter sich. Sie musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, was Beatrice ihr gesagt hatte. Sie war nicht verrückt. Sie hatte sich nichts eingebildet. Sie hatte eine Reise in die Vergangenheit unternommen. Und es gab nur einen Menschen, der eine Erklärung dafür hatte, einen einzigen Mann auf der Welt, der ihr alle Fragen beantworten konnte–Cosimo Mecidea.
Anne warf ihre Strickjacke achtlos im Vorbeigehen auf ihr Bett und ging ins Arbeitszimmer. Es lag eine Menge Arbeit vor ihr. Sie wusste, dass es nicht einfach sein würde, Cosimos Adresse und Telefonnummer herauszufinden, wenn nicht einmal Giancarlo sie kannte. Doch sie war Journalistin. Sie hatte Beziehungen. Und sie kannte genügend Geheimtüren in die Welt der High Society, um herauszufinden, was sie wissen wollte. Egal, wo und wie gut Cosimo Mecidea sich auch verstecken mochte, sie würde ihn schon aufspüren.
Draußen wurde es bereits dunkel, als Anne schließlich aufgab. Mittlerweile saß sie seit über vier Stunden am Computer. Ihre Glieder waren steif, ihre Finger eiskalt, sie hatte Hunger und Durst–und sie hatte nichts erreicht. Sie hatte alles versucht, doch jede Spur, die sie verfolgt hatte, hatte sie nur in die Irre geführt. Nirgendwo tauchte eine Adresse oder eine Telefonnummer auf. Cosimo Mecidea schien weder ein Büro noch eine geschäftliche Vertretung zu haben. Kein Anwalt oder Notar schien sich um seine Belange zu kümmern. Offenbar gab es nicht einmal Geschäftspartner, mit denen er verkehrte. Es war nichts zu finden. Nicht einmal ihre besten Quellen, die ihr sogar schon die private Handynummer von Hillary Clinton besorgt hatten, wussten etwas über Cosimo Mecidea. Es war, als wäre dieser Mann ein Phantom.
Anne strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie war frustriert. Wie sollte es jetzt weitergehen? Eine Nachricht stand noch aus. Die wichtigste. Also war noch nicht alles verloren. Eine Chance, ein Ass im Ärmel hatte sie noch ... Es war ein ehemaliger Studienkollege, der jetzt als Pressesprecher eines der größten europäischen Kreditinstitute arbeitete. Ihm gelang es bestimmt, Cosimos Bankverbindung ausfindig zu machen. Und mit dieser Information war es ohne weiteres möglich, seine Adresse herauszufinden. Oder doch wenigstens seine Telefonnummer.
Das ersehnte Geräusch des Eintreffens einer Mail erklang, und am oberen Bildschirmrand blinkte der Briefkasten. Es war tatsächlich die Nachricht, auf die Anne so sehnsüchtig gewartet hatte. Voller Hoffnung las sie.
»Hallo, Anne. Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist, aber mein Computer ist während der Suche nach deinem speziellen Freund dreimal abgestürzt. Leider konnte ich nichts herausfinden, was dir weiterhelfen könnte. Wenn dieser Typ über ein Bankkonto verfügt, benutzt er entweder einen falschen Namen, oder es ist auf diverse Scheinfirmen und Strohmänner verteilt. Es gibt Spuren von ihm, der Kerl existiert also wirklich. Aber jeder Hinweis, den ich verfolgt habe, löste sich plötzlich in Luft auf. Ich weiß ja nicht, weshalb du ihn suchst, aber wenn du meinen Rat hören willst–lass besser die Finger von ihm. Meiner Erfahrung nach hat jeder, der sich derart versteckt, es auch bitter nötig. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich deinem Freund nicht auch meine Computerabstürze zu verdanken habe. Tut mir Leid, dass ich dir nicht mehr sagen kann. Aber vielleicht ist das auch besser für dich.
Halt die Ohren steif und mach bitte keine Dummheiten Sebastian
PS: Lösch am besten gleich das Mail-Verzeichnis, und lass deinen PC auf unerlaubten Zugriff und Viren überprüfen. Man weiß ja nie ...«
Verdammt. Anne stützte den Kopf in die Hände. Sebastian war ihre letzte Hoffnung gewesen. An wen sollte sie sich nun wenden? An die Regierung? Den Geheimdienst? Einen Hellseher?
Sie mailte ein kurzes »Danke für deine Mühe, werde deinen Rat beherzigen« an Sebastian zurück. Dann klickte sie die Mail an, um sie zu löschen. Dabei fiel ihr auf, dass eine andere Mail darauf wartete, gelesen zu werden. Eine Mail, die eigentlich auf ihrem Rechner gar nichts mehr zu suchen hatte, weil sie sie nämlich bereits gelöscht hatte–wenigstens hatte sie das geglaubt.
Sie klickte diese Mail wieder an, um sie zu löschen–vergeblich. War ihr Computer etwa kaputt? Aber nein, Sebastians Nachricht hatte er ganz brav gelöscht, so wie es sich gehörte.
»Du bist aber hartnäckig«, entfuhr es ihr. Ob sie die Mail erst öffnen musste, bevor sie sich entfernen ließ? Und wenn sich dahinter nun ein Wurm verbarg, der sich über ihre Daten hermachen wollte? Vielleicht hatte Sebastian mit seiner Vermutung Recht, und ihre Daten wurden gelöscht, wenn sie die Mail öffnete.
Dann muss ich morgen einen Spezialisten kommen lassen, dachte sie und öffnete die Nachricht. Sie war verblüfft über die Kürze.
»Wenn Sie weitere Informationen wünschen, wählen sie ...« Und dann folgte eine fünfzehnstellige Nummer. Fünfzehn Ziffern! Wohin sollte sie da anrufen. Timbuktu? Sie starrte die Zahlenfolge ungläubig an. Ob es wirklich Trottel gab, die aufgrund einer derartigen E-Mail so neugierig wurden, dass sie sich tatsächlich ans Telefon setzten? Vermutlich handelte es sich um eine Nummer, bei der jede Minute fünfzig Euro kostete.
Aber nicht mit mir, Freunde, dachte Anne. Also weg damit, ab in den Papierkorb. Aber ... komisch. Etwas kommt mir daran bekannt vor.
Es dauerte eine Weile, bis Anne begriff, dass es sich bei den ersten Ziffern um die Vorwahl von Italien handelte. Aber fünfzehn Zahlen? Es gab in Italien keine Stadt, die groß genug war, um so eine lange Telefonnummer zu rechtfertigen. Und wenn es sich nun um eine Geheimnummer handelte, eine Nummer, die über mehrere Apparate geschaltet wurde, bis sie schließlich am Ziel war? Zum Beispiel bei ... Cosimo Mecidea?
Es war natürlich ein abwegiger Gedanke, und trotzdem wollte sie es versuchen. Was konnte sie schon dabei verlieren? Ein paar Euro, die sie sogar noch von der Steuer absetzen konnte.
Anne griff nach ihrem Telefon und tippte die Nummer ein. Sorgfältig, langsam, Zahl für Zahl. Es dauerte, bis sie endlich das Tuten am anderen Ende der Leitung hörte. Sie zählte die Klingeltöne. Zwei, drei, vier, fünf ... Sie schloss die Augen. Ihr Herz klopfte heftig, und ihre Hände wurden feucht. Dann endlich wurde der Hörer abgenommen.
Es war zehn Uhr abends, als das Telefon im Arbeitszimmer klingelte. Für gewöhnlich hütete sich Anselmo davor, um diese Zeit noch ans Telefon zu gehen, doch an diesem Abend machte er eine Ausnahme. Natürlich, denn er wartete schließlich schon seit gestern auf den erlösenden Anruf. Die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte er sofort. Wie sollte er sie auch je vergessen.
»Einen Moment bitte, Signorina Anne«, sagte er und schickte ein Dankgebet zum Himmel. »Ich verbinde Sie gleich mit Signor Mecidea.«
Anselmo drückte die Tasten auf dem Telefon und lauschte dem gleichmäßigen Tuten in der Leitung. Zweimal, dreimal, viermal... Cosimo war in der Bibliothek, das wusste er genau. Aber weshalb ging er nicht ans Telefon? War er doch wieder so tief in dem Sumpf seiner Depression versunken, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, sich aus seinem Sessel zu erheben? Anselmo spürte, wie er zornig wurde. Dieser Trottel! Wenn er nicht gleich ans Telefon ging, würde er ihn eigenhändig an den Haaren ... Da, endlich.
»Anselmo, weshalb um alles in der Welt störst du mich?« Die Stimme seines Herrn klang ebenso verschlafen und ungehalten wie an jenem Morgen, als er ihn weit vor der Zeit geweckt hatte, um ihm mitzuteilen, dass Signorina Anne in der Bibliothek auf ihn wartete. Wie gut er sich daran noch erinnern konnte, obwohl es mehr als fünfhundert Jahre her war. »Ich habe gerade ...«
»Sie ist in der Leitung und möchte mit dir sprechen, Cosimo.«
»Sie? Wer ist sie? Von wem sprichst du?«
»Ich meine Signorina Anne Niemeyer aus Hamburg.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Und Anselmo sah förmlich, wie auch noch der letzte Rest Farbe aus Cosimos Gesicht wich und wie er sich durch das immer noch dunkle Haar fuhr, als müsste er erst langsam begreifen, was er soeben gehört hatte.
»Was sagtest du gerade?«
»Ich sagte, dass Signorina Anne Niemeyer ...«
»Und du hältst mich nicht zum Narren, Anselmo? Es ist kein Versuch, mich aufzuheitern?« Cosimos Stimme klang scharf.
»Cosimo, es gibt Grenzen. Mit gewissen Dingen treibe ich keine Scherze.«
»Dann ist es also wirklich wahr«, sagte Cosimo. Er hörte sich seltsam heiser an. »Sie ist schnell. Schneller, als ich dachte. Dabei ist mir eingefallen, dass sie nicht einmal meine Adresse oder Telefonnummer kennt und dass du gut dafür gesorgt hast, dass beide auch geheim bleiben. Sie muss wirklich sehr klug sein. Geradezu ungewöhnlich intelligent. Ich ... Stell sie durch, Anselmo. Und dann komm sofort zu mir.«
»Selbstverständlich.«
Anselmo drückte den Knopf an der Tastatur und legte den Hörer langsam auf die Gabel. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Sein kleiner Trick hatte sich gelohnt. Selbst wenn Anne Cosimo von der E-Mail erzählen würde, konnte er toben und schimpfen, so viel er wollte, ändern konnte er daran jetzt nichts mehr. Der Stein war ins Rollen gekommen. Es war so weit. Endlich.