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Treffen auf dem Golfplatz

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Anne ließ sich schwerfällig auf dem Fahrersitz ihres Wagens nieder. Es ging ihr schon viel besser–wenigstens körperlich gesehen. Sie fühlte sich zwar immer noch matt, aber es war nicht mehr so schlimm wie noch vor zwei Tagen. Und das, obwohl sie in der vergangenen Nacht vor Aufregung kaum geschlafen hatte.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Sie war erst um zehn Uhr mit Cosimo Mecidea verabredet. Und bis zu dem Golfplatz, auf dem sie sich treffen wollten, war es nicht weit. Sie hatte also mehr als genug Zeit, um dorthin zu fahren und nochmals ihre Liste mit den Fragen durchzugehen. Die Liste war zwei Seiten lang und eng beschrieben. Auf jede einzelne dieser Fragen wollte sie heute eine Antwort haben. Anne war es gewohnt, sich vor einem Interview Notizen zu machen, obwohl sie diese Spickzettel nur selten brauchte. Doch heute war sie noch nervöser als vor ihrem allerersten Interview. Und da war es gut zu wissen, dass sie auf einen Zettel zurückgreifen konnte, auf dem alles schwarz auf weiß geschrieben stand.

Anne startete den Wagen und fuhr aus der Tiefgarage ihres Wohnhauses. Als sie die Ausfahrt hinauffuhr, kreuzte ein Radfahrer ihren Weg. Es war ein alter Mann mit einem schwarzen Hut. Dass Anne darauf wartete, endlich auf die Straße zu fahren, schien ihn nicht weiter zu stören. Gemächlich trat er in die Pedale, wobei das gelbe Klapprad bedrohlich nach rechts und links schwankte und erbärmlich quietschte.

Anne legte beide Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Betont vorsichtig und aufmerksam fuhr sie weiter. Sie wollte unter gar keinen Umständen riskieren, in einen Unfall verwickelt zu werden und dadurch ihre Verabredung mit Mecidea zu versäumen. Trotzdem brauchte sie keine zehn Minuten, um den Golfplatz zu erreichen. Warum um alles in der Welt wollte Mecidea sie auf einem Golfplatz treffen? Ebenso gut hätte sie ihn in seinem Hotelzimmer aufsuchen können. Sie wäre sogar bereit gewesen, Mecidea in ihren eigenen vier Wänden zu empfangen. Selbst wenn er einen neutralen Ort bevorzugte, so gab es in Hamburg doch genügend ruhige Restaurants und Cafés, in denen man sich bei einer Tasse Kaffee ungestört hätte unterhalten können. Warum also ausgerechnet ein Golfplatz? Dies war die erste Frage auf ihrer Liste. Sozusagen zum Aufwärmen für beide Seiten. Obwohl sie ein harmloses Einstiegsgeplauder heute bestimmt nötiger haben würde als Mecidea.

Sie holte nochmals tief Luft. Ihre Hände hinterließen feuchte Spuren auf dem Lenkrad. Mit einem Blick in ihren Taschenspiegel kontrollierte sie ihre Frisur und ihr Make-up. Zum wohl hundertsten Mal in der vergangenen Stunde. Dann stieg sie endlich aus. Der Weg bis zum Clubhaus, in dem sie sich laut der ihr gegebenen Anweisungen nach Cosimo Mecidea erkundigen sollte, war nicht weit. Die junge Frau am Empfang lächelte freundlich.

»Ja, Frau Niemeyer, Herr Mecidea erwartet Sie bereits. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie auf der Range erwartet. Kennen Sie den Weg?«

Anne schüttelte den Kopf.

»Sie gehen den Gang hinunter durch die Glastür und den Sandweg geradeaus weiter. Dann müssten Sie Herrn Mecidea bereits am Abschlagsplatz sehen können.«

»Danke.«

»Gutes Spiel!«

Anne nickte, sagte aber nichts. Wie sollte sie der freundlichen Frau auch erklären, dass sie nicht hier war, um Golf zu spielen, sondern um zu reden? Der Gang bestand aus Glas, sodass sie einen guten Überblick über den Golfplatz hatte. Da draußen war kein Mensch zu sehen. Lediglich ein Gärtner fuhr mit einem Düngewagen über den Rasen. Das war kein Wunder, es war schließlich Mittwochmorgen. Die meisten Menschen mussten um diese Zeit arbeiten, da bildeten Golfspieler bestimmt keine Ausnahme. Außerdem setzte gerade ein leichter Nieselregen ein, der bestimmt so manchen Golfer davon abhalten würde, sich an diesem Tag die Mühe zu machen und zum Platz zu fahren.

Als Anne die Range erreichte, begrüßte Cosimo sie schon von weitem. Er winkte ihr zu, als wäre sie eine liebe alte Freundin. Wenn man bedachte, was dieser Mann ihr angetan hatte, in welches Chaos er ihr Leben gestürzt hatte, so war diese Art der Vertraulichkeit wirklich der Gipfel der Frechheit. Anne wurde wütend. Und im gleichen Maße, wie ihr Zorn wuchs, verschwand ihre Nervosität. Sie beschleunigte ihren Schritt und stand nur wenige Sekunden später Auge in Auge dem Mann gegenüber, dessen Gesicht sie in den vergangenen Nächten bis in ihre Träume verfolgt hatte–Cosimo Mecidea.

»Es freut mich, Sie zu sehen, Anne«, sagte er in nahezu akzentfreiem Deutsch und reichte ihr mit einem Lächeln die Hand, als wären sie tatsächlich nur zum Golfspielen verabredet.

»Dass die Freude auch auf meiner Seite liegt, kann ich nicht gerade behaupten«, entgegnete Anne kühl. »Dennoch bin ich Ihnen dankbar, dass Sie sich so zügig einen Termin freimachen konnten.«

»Es ist mir ein Vergnügen.« Cosimo verneigte sich mit einem spöttischen Lächeln. Sie kannte dieses Lächeln aus ihrer Zeit in Florenz nur allzu gut. Am liebsten hätte sie es ihm aus dem Gesicht geschlagen. Diesem blassen und doch so ausdrucksstarken Gesicht mit den dunklen Augen. Er hatte etwas Diabolisches an sich, etwas, das wohl jeden Menschen mit ein bisschen Verstand Angst gemacht hätte. Und trotzdem spürte sie, wie sie wieder in seinen Bann geriet, wie er sie faszinierte. Und eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass Cosimo Mecidea lediglich ein Opfer seiner engstirnigen Mitmenschen war, der unbequeme Rebell, das missverstandene Genie. Nein, sie wollte nicht glauben, es konnte einfach nicht wahr sein, dass dieser Mann ihr jemals ein Leid zufügen wollte. Und genau wie in Florenz merkte sie, dass sie Cosimo mochte–wider besseres Wissen und gegen jede Vernunft.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen«, sagte sie, um von ihrer Verlegenheit abzulenken–nicht allein ihn, vor allem sich selbst.

»Nein, nein, Sie sind überaus pünktlich«, erwiderte er. »Wir sind bereits weit vor der Zeit hier gewesen. Anselmo und ich bevorzugen es, vor einem Spiel auf der Range noch ein paar Bälle zu schlagen. Zum Aufwärmen.« Dann runzelte er die Stirn und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Wo sind denn Ihre Schläger?«

»Ich spiele kein Golf«, antwortete Anne und spürte, wie sie rot anlief. Warum? Sie hätte es nicht sagen können. Es war doch schließlich keine Schande, nicht zu jener Gruppe von Verrückten zu gehören, die ohne diesen merkwürdigen Sport nicht mehr in der Lage waren zu existieren.

»Oh«, sagte Cosimo und wirkte so überrascht, als hätte sie ihm gerade eröffnet, sie könne leben, ohne Nahrung zu sich nehmen zu müssen. »Somit können Sie auch nicht ermessen, was Ihnen entgeht. Nicht wahr, Anselmo?« Der junge Mann in der Box neben Cosimo nickte geistesabwesend, während er seinen Schläger hin und her schwingen ließ und irgendeinen Punkt in der Ferne fixierte. »Sie erinnern sich doch noch an Anselmo?«

Anne betrachtete den Mann genauer. Die schlanke Gestalt, das dunkle Haar, das unter der Golfkappe hervorschaute, das hübsche Gesicht. Sollte das wirklich Anselmo sein, derselbe Diener, der in Florenz Cosimo auf Schritt und Tritt gefolgt war? Die Ähnlichkeit war mehr als verblüffend. Aber was um alles in der Welt machte er jetzt hier? War auch er ein Zeitreisender wie Cosimo und–sie hatte immer noch Schwierigkeiten, sich damit abzufinden, obwohl sie versucht hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen–sie selbst? Anne atmete tief ein. In der Tat, es gab an diesem Tag viele Fragen zu klären.

»Warum treffen wir uns hier?«, fragte sie, während Cosimo sorgfältig einen weißen Golfball vor sich auf den Boden legte. »Weshalb musste es dieser Golfplatz sein?«

»Er liegt in Ihrer Nähe. Und weil es keinen Ort gibt, an dem man sicherer vor unerwünschten Zuhörern ist als auf einem Golfplatz«, erklärte Cosimo und schwang seinen Schläger probeweise ein paarmal in der Luft hin und her, bevor er zum Schwung ausholte. Der Schläger durchschnitt die Luft mit dem Geräusch einer biegsamen Weidenrute. »Außerdem hilft mir das Spiel bei der Konzentration. Überall auf der Welt hat man im Laufe der Jahrhunderte Mittel und Wege zur inneren Einkehr gefunden. In Ostasien nutzt man den Schwertkampf oder das Bogenschießen für die innere Sammlung. Hier in Europa spielt man eben Golf. Und ich schätze, volle Konzentration wird nötig sein, um all die Fragen zu beantworten, die Sie–verständlicherweise–haben.«

Zum ersten Mal fragte Anne sich, weshalb Cosimo sofort bereit gewesen war, sich mit ihr zu treffen. Er musste doch damit rechnen, dass sie wütend auf ihn war, ihn vielleicht sogar verklagen wollte. Und trotzdem hatte er keinen Moment gezögert, als sie ihn um eine Unterredung gebeten hatte. Im Gegenteil, er war es gewesen, der ihr das Treffen bereits für heute früh vorgeschlagen hatte. Er musste praktisch mitten in der Nacht nach Hamburg geflogen sein.

Und wenn es nun eine Falle war? Cosimo hatte selbst gesagt, dass man auf einem Golfplatz ungestört war. Wenn sie hinter dem nächsten Hügel oder Wäldchen verschwanden, sodass man sie nicht einmal mehr vom Clubhaus aus sehen konnte, dann würde es ein Leichtes sein, sie unschädlich zu machen, sie für immer zum Schweigen zu bringen, damit sie sein sorgfältig gehütetes Geheimnis um das Elixier der Ewigkeit nicht ausplaudern konnte. Die beiden brauchten noch nicht einmal Waffen in ihren großen Taschen zu transportieren–obwohl sogar ein Gewehr darin nicht aufgefallen wäre. Einem gut platzierten Hieb mit einem der Golfschläger würde ihr Schädel niemals standhalten können.

Anne wurde abwechselnd heiß und kalt. Warum war sie nicht schlauer gewesen? Weshalb hatte nicht sie die Bedingungen diktiert und sich mit Mecidea irgendwo in der Stadt getroffen, dort, wo es genügend Menschen gab, die sie im Zweifelsfall um Hilfe rufen konnte?

»Was ist, Anne?«, erkundigte sich Cosimo und legte sich einen weiteren Ball zurecht. »Ist Ihnen nicht wohl? Sie sehen plötzlich so blass aus.«

»Nichts, es ist ...«

»Ich weiß, Sie sind ein wenig überanstrengt. Alles, was Ihnen widerfahren ist, muss Sie sehr aufgeregt haben. Glauben Sie mir, ich kann es sehr gut verstehen. Auch mir ging es damals kaum anders, und dabei wusste ich, was ich tat. Oder nahm zumindest an, es zu wissen. Aber ich kann Ihnen versichern ...« Er holte Schwung und sah dem kleinen weißen Ball nach, der in einem schönen Bogen auf die Fahne zuflog. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich alle Ihre Fragen beantworten werde, sofern es in meiner Macht steht.«

»Herr Mecidea, ich ...«

»Nennen Sie mich ruhig Cosimo, Anne«, unterbrach er sie mit einem Lächeln. »Schließlich hätten Sie beinahe meinen Vetter Giuliano geheiratet. Sie sind die Mutter seines Sohnes und gehören somit zur Familie. Wenigstens in meinen Augen.«

Anne schnappte nach Luft, und für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus. Dabei hatte sie es doch bereits gewusst. Seit ihrem Gespräch mit Beatrice hatte sie von ihrer Zeitreise gewusst. Trotzdem trafen seine Worte sie wie ein Keulenschlag. Und jetzt, da er davon sprach, wollte sie es gar nicht mehr glauben.

»Was haben Sie gerade gesagt?«

Cosimo schob seinen Schläger in die Golftasche zurück und schulterte sie.

»Ja, Sie haben richtig gehört. Giuliano de Medici ist–oder besser gesagt war–mein Vetter.«

Anne betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. So wie er jetzt vor ihr stand, sah er genauso aus wie jener Cosimo Mecidea, den sie im Palazzo Davanzati auf dem Kostümfest begrüßt hatte. Und er sah auch fast genauso aus wie Cosimo de Medici, den Giuliano ihr im Jahre 1477 als seinen Vetter vorgestellt hatte. Er schien seitdem kaum gealtert zu sein. Aber wie war das nur möglich? Reiste er durch die Zeitalter wie andere durch Europa? War er ein Magier, ein Hexenmeister?

»Wer sind Sie wirklich, Cosimo?«

»Sie vergeuden wahrlich keine Zeit, Anne«, sagte Cosimo leise. »Mir fallen nur noch zwei weitere Fragen ein, die den Kern dieser Angelegenheit so genau treffen würden. Ich glaube, es ist besser, wenn ich Ihnen diese Frage auf dem Platz beantworte. Lassen Sie uns zum ersten Loch gehen. Anselmo, bist du fertig?«

Anselmo nickte. Und dann gingen sie über den weichen Rasen zum ersten Abschlagplatz. Der Regen war mittlerweile stärker geworden, und selbst der Gärtner mit seinem Düngewagen war nicht mehr zu sehen. Sie waren nun wirklich allein. Allein unter dem trüben grauen Hamburger Augusthimmel. Lediglich eine Amsel saß in einem der alten Apfelbäume und pfiff unverdrossen ein Regenlied.

»Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, ist Mecidea nicht mein richtiger Name. Ich hab ihn mir vor einiger Zeit zugelegt. Meine wahre Identität würde vermutlich zu mancherlei Komplikationen führen.« Er steckte einen kleinen Holzpflock in die Erde und legte einen Golfball darauf. Dann stellte er sich zum Schlag auf. »Ich bin Cosimo Francesco Alessandro de Medici und wurde am 10. Februar im Jahre des Herrn 1447 in Florenz geboren.«

Der Ball flog durch die Luft und landete irgendwo in kaum mehr sichtbarer Entfernung im Gras. Anne war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Je mehr sie erfuhr, umso mehr wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht geirrt hatte, dass sie weder an Halluzinationen noch an einer schwerwiegenden Psychose litt. Sie hatte tatsächlich eine Zeitreise unternommen. Sie war Giuliano de Medici begegnet, sie hatte einen Sohn zur Welt gebracht. Trotzdem sträubte sich immer noch alles, was sie an Verstand und Vernunft besaß, gegen diese Erkenntnis. Besonders hier, am helllichten Tag und unter freiem Himmel.

»Nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich Ihnen das glauben soll«, sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. Zeig niemals deine Nervosität, deine Angst oder deine Unwissenheit. Dieser Satz galt nicht nur für Raubtierdompteure, der galt ebenso für Journalisten.

»Ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Gründen nennen«, erwiderte Cosimo ruhig.

»Da bin ich jetzt aber wirklich gespannt«, entgegnete Anne spöttisch, während sie zusah, wie Anselmo nun seinen Schlag ausführte.

»Ihre Erlebnisse in Florenz im Jahre 1477 und 1478 zum Beispiel. Das Elixier der Ewigkeit, von dem Sie auf meinem Kostümball gekostet haben. Die Wahrheit über den Tod von Giovanna de Pazzi und Ihrem Verlobten, meinem Vetter Giuliano. Und außerdem werden Sie doch bestimmt wissen wollen, was aus Ihrem Sohn geworden ist.«

Anne erstarrte. Der Regen lief ihr über das Gesicht und tropfte in den Kragen ihrer Jacke, aber sie spürte es kaum.

»Erzählen Sie, Cosimo.«

Und Cosimo begann. Während sie langsam den Golfbällen hinterher über den Platz von einem Loch zum nächsten gingen, erzählte ihr Cosimo alles, was sie in ihrem »Traum« in Florenz erlebt hatte. Dabei beschrieb er Details, die nur jemand wissen konnte, der ebenfalls da gewesen war. Er erzählte, wie sie sich zum ersten Mal in der Dachkammer seines Vetters Giuliano de Medici begegnet waren. Er berichtete von dem Fest im Landhaus der Familie, das zu Ehren der Enthüllung der Geburt der Venus von Botticelli abgehalten worden war. Er wusste von Giovanna de Pazzis Tod am folgenden Tag, dem Anschlag auf Annes Leben, der nur um ein Haar missglückt war, und dem gelungenen Attentat auf Giuliano. Gut, Letzteres war keine Kunst. Vermutlich kannte jedes florentinische Kind im schulpflichtigen Alter die Geschichte der Pazzi, die sich mit den Feinden der Medici verschworen hatten, um sie aus der Stadt zu vertreiben, auswendig. Und doch besaß Cosimo ein Detailwissen, das nur ein Augenzeuge haben konnte.

»Es ist keine Einbildung, Anne. Es ist die Wahrheit. Das alles ist wirklich geschehen, und Sie waren dabei. Wir beide waren dabei.«

»Aber ... aber ...«, stotterte Anne und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Haar war mittlerweile feucht. »Aber wie ist das möglich?«

Cosimo holte sachte aus. Gemächlich rollte der Ball über den sorgfältig gestutzten Rasen und verschwand in dem kaum zwei Meter entfernten Loch.

»Das Elixier«, sagte er, bückte sich und fischte den Ball aus der Vertiefung. »Das Elixier der Ewigkeit, das ich Ihnen auf meinem Kostümfest am Samstagabend zu trinken gegeben habe. Dieses Elixier ist für alles verantwortlich. Für alles.«

»Ist es eine Droge, die Halluzinationen verursacht?«

»Nein«, antwortete Cosimo und seufzte, als würde die Last der Welt auf seinen Schultern ruhen. »Ich wünschte, es wäre so, aber das ist es leider nicht. Im Gegenteil. Das Elixier der Ewigkeit verleiht demjenigen, der davon trinkt, die Fähigkeit, in die Vergangenheit zu reisen. Leibhaftig, wie Sie ohne Zweifel an sich selbst feststellen konnten.«

Instinktiv berührte Anne ihren Brustkorb dort, wo sie plötzlich diese deutlich sichtbare Narbe trug, die sie sich nicht erklären konnte.

»Ich erinnere mich, dass Sie und auch Giacomo de Pazzi es erwähnt haben und ich versucht habe mehr darüber herauszufinden–allerdings ohne Erfolg. Niemand außer Ihnen und Giacomo schien davon zu wissen. Erzählen Sie mir mehr von diesem Elixier.«

»Wir–mein Freund Giacomo de Pazzi und ich–sind durch Zufall daraufgestoßen. Obgleich ich im Laufe meines Lebens gelernt habe, dass es keine wirklichen Zufälle gibt. Eigentlich wollten wir an diesem Tag zum Markt, um uns von der ›Hexe‹ einen Liebeszauber geben zu lassen. Wir waren jung, wir beide, gerade siebzehn Jahre alt. Doch statt eines Liebeszaubers gab uns die Hexe eine rätselhafte, uralte Schrift.« Er seufzte tief. »Natürlich witterten wir Abenteuer und Geheimnisse, insbesondere, weil die Hexe uns erzählte, dass es eine Handschrift des Magiers Myrridhin Emrhys sei, der Allgemeinheit besser bekannt unter dem Namen Merlin. Es war angeblich ein Teil aus seinem Werk, in dem er sein Wissen ...«

»Warte, Cosimo«, unterbrach ihn Anselmo leise, legte warnend einen Finger auf die Lippen und deutete auf eine Gruppe von Bäumen und Sträuchern direkt vor ihnen. »Sieh nur, dort ist jemand.«

Tatsächlich stand auf dem Rasen fast unsichtbar vor dem dichten, vom Regen glänzenden Laub eine dunkle Golftasche. Und als sie genauer hinsah, erkannte Anne auch eine Gestalt, die durch das Gebüsch streifte. Es war ein Mann, der mit einem Golfschläger Zweige zur Seite bog, als ob er etwas suchen würde.

»Guten Tag«, sagte Cosimo freundlich, als sie nahe genug herangekommen waren.

»Oh, guten Tag«, erwiderte der Mann, während er mit seinem Schläger in einem alten Laubhaufen herumstocherte. Schließlich zuckte er resigniert mit den Schultern. »Ich fürchte, dieser Ball ist auch weg.« Er bahnte sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp und blieb mit seiner Regenjacke an einem der Zweige hängen. »Verdammter Mist!«, schimpfte er, als er sich mühsam von den Ranken befreite. Dann trat er mit einem verlegenen Lächeln zu ihnen auf den Rasen. »Das ist schon der siebte, den ich heute verloren habe. Wenn das so weitergeht, kann ich die Runde nicht mehr zu Ende spielen. Warten Sie nicht auf mich, gehen Sie gern vorbei.«

Er hatte eine angenehme Stimme mit einem englisch klingenden Akzent.

»Wollen Sie uns nicht für den Rest der Runde begleiten?«, bot Cosimo an. Anne schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Der Unbekannte sah gut aus und hatte ein sehr sympathisches Lächeln. Normalerweise hätte sie gegen seine Begleitung bestimmt nichts einzuwenden gehabt. Im Gegenteil. Aber das musste nun wirklich nicht ausgerechnet heute sein, nicht an dem Tag, an dem sie etwas Wichtiges mit Cosimo zu besprechen hatte. Doch sie hatte Glück, ihr Gebet wurde erhört.

»Vielen Dank für das Angebot«, erwiderte der Mann und schüttelte den Kopf. »Aber heute bin ich bestimmt kein angenehmer Flightpartner. Ich brauche mehr Zeit zum Suchen der Bälle als zum Schlagen. Mich selbst zu treffen ist das Einzige, was mir abgesehen von einem guten Schlag heute noch nicht gelungen ist.«

Cosimo lächelte freundlich, doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, der Anne nicht gefiel. Er war wachsam, auf der Hut. Vor wem oder was? Glaubte er etwa, dass dieser Engländer gefährlich war?

»Wenn wir Ihnen irgendwie helfen können ...«

»Nein, danke. Es hat einfach keinen Sinn zu spielen, wenn der Kopf nicht frei ist und sich mit anderen Dingen beschäftigt. Und heute ...« Er zuckte wieder mit den Schultern. »Mein Großvater würde sich alle Barthaare ausreißen, wenn er mich hier sehen könnte. Außerdem möchte ich nicht meine letzten beiden Bälle in dem Wasserhindernis beim nächsten Loch versenken. Nein, ich denke, ich gebe mich geschlagen und mache Schluss.« Er trat zu seiner Golftasche und schob den Schläger hinein. Dann schulterte er die Tasche, grüßte noch einmal, indem er an den Schirm seiner Golfkappe tippte, und ging über den Platz davon in Richtung Clubhaus.

Anselmo und Cosimo sahen ihm nach.

»Was denkst du, Anselmo?«

»Wahrscheinlich dasselbe wie du«, erwiderte Anselmo grimmig. »Und wir werden gleich wissen, ob wir Recht haben.«

In seiner Hand hielt er plötzlich ein Portemonnaie aus dunkelbraunem Leder. Es sah schon ziemlich abgegriffen aus. Und es gehörte bestimmt nicht Anselmo.

Anne schnappte nach Luft.

»Hat er ... hat er das etwa eben ...«

Doch Cosimo zuckte gleichmütig mit den Schultern.

»Sein Name ist Sean McLaughlan«, berichtete Anselmo, während er die einzelnen Fächer des Portemonnaies durchwühlte, Kreditkarten, Kundenkarten, Fotos und andere persönliche Dinge herauszog und begutachtete, als wäre es sein gottgegebenes Recht. Anne mochte gar nicht hinsehen. »Britischer Staatsbürger, geboren 1967 in Stirling.«

»Ein Schotte also.«

»Laut Führerschein wohnt er aber jetzt hier in Hamburg. Zu seinem Beruf kann ich nichts sagen. Aber eines ist sicher, er ist kein Golfanfänger. Hier ist sein Mitgliedsausweis des ICG.« Dann drehte Anselmo die kleine Plastikkarte um und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Schau sich einer das mal an. Der Bursche hat ein Handikap von drei.«

Cosimo nickte langsam. »Ja, das dachte ich mir, als ich seine Schläger sah. Maßangefertigte Linkshänderschläger von Ben Hogan. Ich kenne nicht viele, die mit solchen Schlägern spielen. Und doch scheint er keinen Ball richtig zu treffen. Da fragt man sich doch, woran es liegen mag, welcher Art die Gedanken wohl sind, die einen exzellenten Golfer so vom Spiel ablenken können.«

»Er hat uns angelogen«, sagte Anselmo und blinzelte, während er den davongehenden Mann nicht aus den Augen ließ. »Glaubst du, er hat uns belauscht?«

Cosimo zuckte mit den Schultern. »Möglich wäre es. Es gibt schließlich Richtmikrofone.«

»Wer könnte ihn geschickt haben?«

»Da gibt es viele Möglichkeiten.« Cosimo kniff nachdenklich die Augen zusammen. »McLaughlan. Den Namen habe ich bestimmt schon mal gehört, doch ich weiß nicht, wo und in welchem Zusammenhang. Aber mir fällt dieser Antiquitätensammler aus Edinburgh ein, der das Manuskript von Merlin um jeden Preis haben wollte. Erinnerst du dich noch?«

Anselmo nickte mit einem grimmigen Ausdruck auf seinem hübschen Gesicht.

»Ja. Und ich erinnere mich auch noch genau an die beiden Kerle, die er uns auf die Fersen gehetzt hat.«

»Könntet ihr zwei mich bitte darüber aufklären, worum es hier geht?«, fragte Anne, die allmählich ungeduldig wurde. »Werden Sie etwa verfolgt, Cosimo?«

»Verzeihen Sie, Anne«, sagte Cosimo und sah für einen Augenblick so aus, als hätte sie ihn aus einem Traum geweckt. Aus einem nicht sehr erfreulichen Traum. »Im Laufe der Jahre wird man vorsichtig. Und misstrauisch. Manchmal ist es zweifellos übertrieben. Manchmal hingegen ...«

Er schüttelte sich und sah noch einmal in die Richtung, in die der Schotte verschwunden war, so als wollte er sichergehen, dass er sich nicht doch wieder an sie herangeschlichen hatte.

»Sie werden also verfolgt«, stellte Anne fest und war nicht einmal überrascht. »Von wem?«

»Die Namen sind beinahe ebenso zahlreich wie die Gründe. Außerdem möchte ich Sie nicht unnötig gefährden, Anne, sodass ich Ihnen auf keinen Fall Näheres erzählen werde. Und machen Sie sich keine Sorgen, Herr McLaughlan wird sein Portemonnaie zurückbekommen. Anselmo wird es nachher an der Rezeption abgeben.« Er wandte sich an Anselmo. »Wir waren unvorsichtig, mein Freund. Diesen Fehler müssen wir auf der Stelle korrigieren.«

Anselmo nickte. »In Ordnung. Ihr redet, und ich passe auf, dass sich nicht noch mehr ungebetene Lauscher in den Büschen verstecken.«

Cosimo winkte Anne zu sich. Während sie langsam dorthin gingen, wohin er seinen Ball geschlagen hatte, lief Anselmo voraus.

»Es ist ein großes Opfer für ihn«, erklärte Cosimo, und in seiner Stimme lag die Wärme eines Vaters, der über seinen Sohn spricht. »Er liebt das Spiel. Beinahe noch mehr als ich. Und natürlich ist er besser.« Ein Lächeln huschte über sein schmales, blasses Gesicht. So rasch, dass Anne es beinahe übersehen hätte. Aus der Ferne winkte Anselmo. »Es ist alles in Ordnung. Wir können weiterreden. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Sie erzählten gerade von der uralten Schrift, die die Hexe Ihnen und Giacomo gegeben hat. Sie sagten, sie stamme von Merlin.« Sie machte eine kurze Pause. »Meinen Sie wirklich den Merlin aus der Artussage?«

»In der Tat, von dem spreche ich. Er hat diese Handschrift verfasst, und ich habe bis zum heutigen Tag noch keinen Grund gefunden, an der Echtheit dieses Dokuments zu zweifeln.« Cosimo blickte mit einem Ausdruck in die Ferne, als wäre es ihm möglich, direkt in die Vergangenheit zu schauen. »Die Schrift war verschlüsselt, und es dauerte eine ganze Weile, bis es mir und Giacomo gelungen war, den Code zu knacken. Wir ...«

»Sie haben die Schrift also doch gemeinsam entschlüsselt?«, fragte Anne ungläubig.

»Natürlich. Wieso?«

»Weil ...« Anne brach ab und runzelte die Stirn. Sie dachte an jenen Tag, als sie bei Giacomo de Pazzi zum Essen eingeladen war. »Ich habe eine andere Version der Geschichte gehört.«

Cosimo lachte auf, doch es war ein Lachen voller Bitterkeit.

»Ich habe es nie wirklich begreifen können, weshalb man Giacomo seine Lügen stets eher geglaubt hat als mir die Wahrheit. Natürlich klang seine Geschichte anders. Er konnte Ihnen ja wohl kaum die Wahrheit erzählen. Er hätte Sie sonst auf der Stelle töten müssen, und das hätte seinen Plänen geschadet. Er brauchte Sie, Anne. Oder besser gesagt, er brauchte Ihr Kind. Aber ich greife voraus.« Cosimo machte eine Pause, um die Fahne zu fixieren, die in etwa fünfzig Metern Entfernung zu sehen war. »Die Schrift entpuppte sich als ein Rezept–hiervon so viel, eine Hand voll davon. Es standen so exakte Angaben darin, dass es uns möglich war, das Elixier der Ewigkeit zu brauen. Wir taten es heimlich in dem geheimen Laboratorium eines Apothekers, der bei meiner Familie in der Schuld stand. Und wir kosteten davon, obwohl die Schrift nicht vollständig war und die Zeilen plötzlich abbrachen.«

Er holte aus, und der Ball flog in einer kurzen, geraden Flugbahn auf die Fahne zu, rollte noch einen halben Meter über das Grün und blieb dann dicht neben dem Loch liegen. »Die Worte der letzten Sätze auf der Seite haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben: ›... Doch hierbei ist durchaus Vorsicht geboten, denn mit der Zeit tritt eine Gewöhnung ein. Höhere Dosen zum Erreichen der erwünschten Wirkung des Elixiers werden notwendig. Daher empfehle ich, nicht von der von mir beschriebenen Zubereitung abzuweichen. Außerdem ist zu bedenken, dass ...‹ An dieser Stelle brach der Text ab. Erst viel später wurde mir klar, dass es sich dabei um eine Warnung handelte, eine Warnung, die wir beide–sowohl Giacomo als auch ich–in unserer jugendlichen Leichtfertigkeit und Abenteuerlust in den Wind geschlagen haben.«

Sie gingen auf die Fahne zu, während Anselmo auf dem Hügel über ihnen stand und nach allen Seiten Ausschau hielt wie ein Bodyguard.

Fehlt nur noch, dass er eine Maschinenpistole im Anschlag hält, dachte Anne und fragte sich, ob die Ausbuchtung in der Tasche seiner Jacke nicht vielleicht sogar eine Waffe sein könnte. Sie begann sich unbehaglich zu fühlen. Als sie heute früh aufgestanden war, hatte sie gehofft, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Mit einer Gefahr für Leib und Leben hatte sie nicht gerechnet.

»Giacomo und ich tranken noch in derselben Nacht von dem Elixier«, fuhr Cosimo fort, während er die Entfernung zum Loch abmaß. »Und es wirkte. Es war fantastisch. Wir konnten in die Vergangenheit reisen, mit Menschen reden, die schon lange vor unserer Geburt gestorben waren. Und wir nutzten dieses Elixier ausgiebig. Doch bereits nach kurzer Zeit bemerkte ich Veränderungen an Giacomo, die mir nicht gefielen. Er wurde unruhig, zappelig, nervös, unausgeglichen und aggressiv. Er nutzte das Elixier immer öfter, manchmal sogar mehrmals täglich, und er nutzte es, um sich Vorteile zu verschaffen.«

»Wie denn?«, fragte Anne und sah zu, wie der nur kurz angetippte Ball langsam in das Loch hineinrollte. »Was hat er getan?«

»Ich will es Ihnen so erklären, Anne«, sagte Cosimo und kniff die Augen zusammen. »Stellen Sie sich vor, Sie haben heute die Wahl zwischen zwei Aktien. Sie entscheiden sich für die eine, kaufen sie und stellen ein paar Tage später fest, dass ebendiese Aktie gefallen ist, während die andere einen erheblichen Gewinn verbuchen konnte. Mit Hilfe des Elixiers könnten sie dann ein paar Tage in der Zeit zurückreisen und sich selbst erzählen, was mit beiden Aktien geschehen wird. Sie würden dann vermutlich ihre Absicht ändern und doch das andere Wertpapier kaufen.«

»Natürlich. Ich wäre ja sonst ziemlich dumm«, entgegnete Anne. »Und das hat Giacomo getan? Er hat seinen Reichtum durch solche Tricks vermehrt? Ich bitte um Vergebung, aber das ist... nun ja, vielleicht nicht gerade die feine englische Art, aber doch wohl keine Todsünde.«

»Das dachte ich auch. Anfangs«, sagte Cosimo, und seine Stimme klang düster. »Ich dachte es so lange, bis er damit begann, Menschen zu manipulieren. Und sie zu töten. Bis auf zwei Ausnahmen hat er nicht selbst Hand angelegt–jedenfalls nicht mit einem Dolch oder einer anderen Waffe. Nein, seine Mittel waren viel subtiler. So hat er seinen Stiefvater zum Beispiel getötet, indem er den Arzt der Familie unter einem Vorwand aus der Stadt gelockt hatte. So wurde Giulio de Pazzi von einer Biene in den Rachen gestochen, und der einzige Mann, der ihn vor dem Ersticken hätte retten können, war ausgerechnet an jenem Tag nicht in Florenz.«

»Und Sie haben davon gewusst?«, fragte Anne empört. »Sie haben davon gewusst und nichts getan, um ihn aufzuhalten?«

Cosimo holte tief Luft. »Glauben Sie mir, wenn es in meiner Macht gestanden hätte, hätte ich es getan. In all den Jahren, die seither verstrichen sind, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als die Zeit einfach zurückzudrehen und ihn daran zu hindern, das Elixier zu trinken. Mehr noch, am liebsten hätte ich uns beide davon abgehalten, überhaupt zu der Hexe zu gehen. Aber ich konnte nicht.«

»Moment mal, das verstehe ich jetzt nicht«, sagte Anne und strich sich das regenfeuchte Haar aus dem Gesicht. »Sie haben doch dieses Elixier. Weshalb sind Sie nicht schon längst einfach in der Zeit zurückgereist, wie Giacomo es auch getan hat? Es wäre Ihnen doch ein Leichtes gewesen, sich selbst eine Warnung vor der Hexe und diesem Manuskript zu schicken.«

Cosimo schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht gewagt, Anne, das Risiko war zu groß. Denn wer in die Vergangenheit zurückkehrt, um sich selbst zu begegnen, wird wahnsinnig. Außerdem ist es gefährlich, den Lauf der Zeit zu verändern. Es hätte schwerwiegende Folgen nicht nur für mich selbst und Giacomo, sondern auch für die Familie Medici, für die Stadt Florenz, vielleicht sogar für die ganze Menschheit. Folgen, die selbst ein klügerer, weiserer Mensch als ich wohl kaum überblicken könnte.«

Anne lachte, aber nicht, weil sie komisch fand, was Cosimo ihr erzählte. Sie lachte aus Zorn.

»So, Sie bringen also nicht den Mut auf, das Elixier der Ewigkeit selbst zu trinken, und flößen es deshalb arglosen, unwissenden Gästen ein, die sich nur auf eine schöne Party freuen. Sie selbst fürchten sich davor, wahnsinnig zu werden, aber um den Geisteszustand anderer, die Sie nach Gutdünken in die Vergangenheit schicken, machen Sie sich keine Sorgen. Oder ist Ihnen im Laufe der vielen Jahrhunderte einfach alles egal geworden?« Cosimo schüttelte mit einem traurigen, wehmütigen Lächeln den Kopf. »Dann haben Sie doch bitte die Güte, mir zu erklären, aus welchem Grund Sie mich durch die Zeit geschickt haben.«

»Können Sie es sich nicht denken?«, fragte Cosimo. »Dabei ist es doch ganz einfach. Ich bin Ihnen im Jahr 1477 in Florenz zum ersten Mal begegnet. Sie haben mir ihre Einladung zu meinem Kostümfest gezeigt. Ich musste Ihnen also das Elixier zu trinken geben, sobald ich Sie traf, andernfalls hätte ich den Lauf der Zeit manipuliert. Hätte ich Sie nicht ins Jahr 1477 geschickt, hätte sich vieles in der Geschichte geändert. Und Ihr Sohn, Anne, wäre nie geboren worden.«

Anne schwieg. Ihr Sohn. Das Baby, das ihr geraubt worden war, das Giacomo de Pazzi–aus welchen Gründen auch immer–entführt hatte. Sie konnte sich noch dunkel an sein plötzliches Auftauchen im vom wütenden florentinischen Volk halb zerstörten Palazzo der Familie Pazzi erinnern, an die grässlichen Schreie seiner Mutter, die bereits die Grenzen zum Wahnsinn überschritten hatte. Und sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie Giacomo durch die Geheimtür wieder verschwunden war–langsam und bedächtig, mit dem Neugeborenen auf dem Arm. Ihrem Sohn. Wie mochte es dem Kleinen wohl danach ergangen sein?

»Aber was ist mit den anderen Gästen?«, fragte Anne nach einer Weile. »Sie haben doch jedem das Elixier zu trinken gegeben. Haben Sie alle in die Vergangenheit zurückgeschickt?«

»O nein, natürlich nicht«, antwortete Cosimo und stellte sich zum Abschlag für das nächste Loch auf. »Ich habe lange forschen müssen, um herauszufinden, dass die Art der Wirkung des Elixiers auf einen Menschen genetisch bedingt ist. Die genauen Zusammenhänge kann ich Ihnen zwar nicht erklären, so weit sind meine Forschungen noch nicht gediehen, doch Folgendes kann ich mit Sicherheit sagen: Ob man mit dem Elixier der Ewigkeit in die Vergangenheit reisen kann oder nicht, hat etwas mit einem Gen auf dem X-Chromosom zu tun. Dieses Gen ist in den vergangenen Jahrhunderten immer seltener geworden. In Norddeutschland, Irland und Skandinavien ist es noch gelegentlich zu finden, während es in Südeuropa–besonders in Italien und Spanien–fast vollständig ausgemerzt wurde. Dafür haben die Hexenverbrennungen gesorgt, die Giacomo eifrig unterstützt hat. Stets getreu seinem Leitsatz, ›dem Herrn die Wege zu ebnen und Hindernisse zu beseitigen. Womit er zu jeder Zeit auch unbequeme Menschen gemeint hat.« Cosimo zog den Schläger durch, und Anne schluckte. Sie hatte schon eine vage Vorstellung, was das zu bedeuten hatte. »Deshalb fallen die meisten Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts nach dem Genuss des Elixiers lediglich in einen überaus angenehmen Rauschzustand. Ich musste auf jemanden aus dem Norden warten, Anne. Auf Sie. All die Jahre, Jahrhunderte hindurch habe ich auf Sie gewartet, ohne genau zu wissen, wann der Tag unserer Begegnung endlich kommen würde.«

»Und jetzt?«, fragte sie. »Da Sie mich ja nun in die Vergangenheit schicken konnten und Zeit und Geschichte somit ihren Lauf gelassen haben, was soll jetzt geschehen? Soll ich einfach nach Hause gehen und alles wieder vergessen? So tun, als hätte ich nur eine Statistenrolle in einer Fernsehserie gewonnen?«

»Nein, Anne, denn Ihre Aufgabe ist noch keineswegs beendet. Ich wollte Sie bitten, erneut eine Reise in die Vergangenheit auf sich zu nehmen.«

Anne spürte, wie es in ihrem Nacken zu kribbeln begann. Irgendwie hatte sie es geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde.

»Aha. Und warum? Weshalb sollte ich es tun?«

Ein Lächeln huschte über Cosimos Gesicht.

»Die vielen unendlich langen Jahre meines Lebens habe ich nicht allein damit verbracht, meinen Reichtum zu mehren und Golf zu spielen–auch wenn ich zugeben muss, dass beides mir die Wartezeit erheblich verkürzt hat. Nein, ich stellte Nachforschungen nach der zweiten Seite der Handschrift an. Und tatsächlich fand ich sie endlich in einem halb verfallenen Kloster in Südengland. Auf dieser zweiten Seite werden die Auswirkungen des Elixiers im Detail beschrieben. Und es wird ein zweites Rezept erwähnt, mit dessen Hilfe sich ein Mittel herstellen lässt, das in der Lage ist, wenigstens eine der Nebenwirkungen aufzuheben.« Er sah sie an. »Das Elixier trägt nicht umsonst den Namen ›Elixier der Ewigkeit‹. Giacomo altert kaum, weder Krankheiten noch Seuchen können ihm etwas anhaben, und daher wird er auf natürlichem Wege erst nach einer ganzen Ewigkeit sterben, Anne. Hunderte, tausende Menschen müssen unter ihm leiden, wenn er nicht mit Hilfe dieses Gegengiftes gestoppt wird.«

Anne schwieg.

»Ich möchte Sie nun bitten–von ganzem Herzen bitten, Anne -, noch mal in die Vergangenheit zu reisen, nach dem Rezept für das Gegenmittel zu suchen und Giacomo de Pazzi auf diese Weise das Handwerk zu legen.«

»Und warum gerade ich?«, fragte Anne leise. Irgendwie ahnte sie bereits, welche Antwort gleich kommen würde. Und doch musste sie es hören, mit eigenen Ohren hören aus dem Mund von Cosimo de Medici. Sie stellte sich nicht einmal die Frage, ob sie ihm glauben wollte. Ob sie die ganze verworrene, verzwickte und alles in allem ziemlich versponnene Geschichte überhaupt glauben konnte. Sie glaubte sie einfach. Und sie hätte nicht einmal sagen können, weshalb. »Es gibt doch bestimmt noch andere, die dieses Gen besitzen und mit dem Elixier in die Vergangenheit reisen könnten. Warum muss ich es tun?«

»Weil Sie der einzige Mensch sind, der in der Lage ist, diese Aufgabe zu erfüllen«, sagte Cosimo, und das Blut rauschte und pochte so laut in Annes Ohren, dass sie schon Angst bekam, eines seiner Worte zu verpassen. »Denn Stefano da Silva, Giacomos engster Vertrauter, seine rechte Hand, seine Stütze und sein Halt, ist niemand anders als Ihr Sohn, Anne.«

Der Wind hatte sich gelegt, der Regen hatte aufgehört. Selbst die Vögel waren verstummt.

Als ob die ganze Natur den Atem anhalten und auf meine Antwort warten würde, dachte Anne. Doch sie konnte nicht. Sie konnte nichts sagen. Stefano. Das war also der Name ihres Sohnes ... Dann war es also wahr. Dann hatte sie sich nichts eingebildet, und ihre Gynäkologin brauchte sich auch nicht weiter über die ungewöhnlichen Untersuchungsbefunde den Kopf zu zerbrechen. Sie war wirklich schwanger gewesen. Sie hatte ein Kind bekommen. Giacomo de Pazzi hatte dieses Kind, ihren Sohn, entführt. Und jetzt missbrauchte er es als Werkzeug seines Wahnsinns.

»Was muss ich tun?«, fragte sie. Eine seltsame Ruhe und Entschlossenheit breitete sich in ihr aus, während sie zusah, wie Cosimo sich für den Abschlag zum letzten Loch vorbereitete. Irgendwie ist doch etwas dran an diesem Spiel, dachte sie. Es scheint die Gedanken zu klären und zu beruhigen. Vielleicht sollte ich es auch mal ausprobieren. »Wo soll ich hin?«

»Ihr Ziel ist Jerusalem. Dort haben Anselmo und ich Sie zum zweiten Mal getroffen. Und weil das Elixier nur in der Lage ist, die zeitliche, jedoch nicht die räumliche Distanz zu überbrücken, müssen Sie nach Jerusalem fliegen. Es ist bereits alles vorbereitet. Morgen früh wird Anselmo Sie aufsuchen und ihnen überreichen, was sie für Ihre Reise benötigen–Visum, Flugtickets, einen Stadtplan und die Adresse des Hotels, in dem ein Zimmer für Sie reserviert ist.«

Er überlässt wirklich nichts dem Zufall, dachte Anne und erinnerte sich daran, dass er auch in Florenz alles bis ins letzte Detail für sie geplant hatte–angefangen vom Chauffeur bis hin zum Kostüm und den dazu passenden Accessoires, die schon für sie bereitgelegen hatten.

»Weshalb bitten Sie mich überhaupt darum, wenn Sie doch alles bereits geplant haben?«

Erneut huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

»Ich bin eben ein höflicher Mensch, Anne.«

»Und in welche Zeit soll ich diesmal reisen?« Die Frage kam ihr so leicht und selbstverständlich über die Lippen, als würde sie mit ihrem Chefredakteur über eine Reise zur nächsten Modenschau mit Ziel Paris oder London sprechen. »Ich würde mich gern darauf vorbereiten–vorausgesetzt natürlich, dass es kein ›Eingriff in den Lauf der Zeit‹ darstellen würde, mich einzuweihen.«

»Nein, ich sehe keinen Grund, Sie nicht über die Zeit aufzuklären«, sagte er und ließ den Schläger knapp über dem Ball in der Luft pendeln. »Im Gegenteil. Ihr Gedanke ist sehr vernünftig. Es wird das Jahr 1530 sein. Machen Sie sich mit den Sitten, politischen und geographischen Gegebenheiten in Jerusalem während dieser Zeit vertraut, es wird Ihnen bestimmt nützlich sein und dabei helfen, Fehler zu vermeiden. Aber denken Sie stets daran, dass Sie nicht in den Lauf der Geschichte eingreifen dürfen, so schmerzlich dieser Umstand auch für Sie werden mag.«

Anne nickte. Irgendwie kam sie sich vor, als befände sie sich mitten zwischen den Seiten eines Romans. Es klang alles so fantastisch, so irreal. Und doch zögerte sie keine Sekunde mehr, jedem einzelnen Wort Cosimos zu glauben.

Cosimo holte aus und traf den Ball mit einem melodischen Ton. Der Ball flog und flog, immer höher, beschrieb einen vollendeten Bogen und näherte sich der Fahne. Er kam auf dem Boden auf, sprang noch einmal hoch, bevor er wieder auf den Boden fiel und weiterrollte. Er rollte, rollte noch ein paar Meter und landete schließlich im Loch.

»Ein Hole-in-one zum Abschluss unseres Gesprächs«, sagte Cosimo, nachdem sie eine Weile stumm dagestanden hatten. »Lassen Sie es uns als gutes Omen werten.«

Die Wächter von Jerusalem

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