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Am Westtor nichts Neues

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Rashid musste sich Mühe geben, wach zu bleiben. Ständig drohten seine Augen zuzufallen. Dabei war es gar nicht mehr so früh. Die Stunde des Morgengebets lag schon lange hinter ihnen. Er hatte in der Nacht gut geschlafen und ausreichend gefrühstückt. Es gab eigentlich keinen Grund, müde zu sein. Und doch hatte er Schwierigkeiten, das Gähnen zu unterdrücken.

Er warf seinem Kameraden auf der anderen Seite des Stadttors einen verstohlenen Blick zu. Yussuf hatte sich gegen die Mauer gelehnt und die hohe Mütze so tief ins Gesicht gezogen, dass seine Augen vor neugierigen Blicken geschützt waren. Aber Rashid war sicher, dass Yussuf schlief.

Er seufzte, trat auf das andere Bein und blinzelte gegen die Müdigkeit an. Es schien nichts zu helfen. Es gab Kameraden, die sich eigens für den Dienst am Westtor bewarben, weil es hier selten etwas für einen Soldaten zu tun gab. Rashid hingegen hasste es, untätig herumzustehen. Der Dienst am Tor ödete ihn an. Abgesehen von einigen Händlern und Bauern, die an diesem Morgen zum Markt in die Stadt wollten, war niemand hier vorbeigekommen, der die Aufmerksamkeit eines Janitscharen herausgefordert hätte. Niemand, seit er vor etwa zwei Stunden die Wache übernommen hatte. Und die Nacht war ebenso ruhig gewesen. Warum standen sie hier überhaupt? Am Westtor geschah nie etwas, nie gab es etwas Neues, Aufsehenerregendes. Lieber hätte Rashid zehn Nächte hintereinander in den Straßen der Stadt patrouilliert, als einen Tag an diesem Tor zu stehen. In der Nacht mussten sie sich um Streithähne kümmern, die einander verprügelten, vom Wein berauschte Christen und Juden, die randalierten oder sich gegenseitig beschimpften. Manchmal erwischten sie sogar Diebe auf frischer Tat. Und selbst wenn die Nacht ruhig war, durften sie sich wenigstens bewegen. Aber hier am Tor? Hier stand man so lange regungslos herum, bis die Glieder eingeschlafen waren. Ebenso gut hätten sie die Äpfel im Garten des Statthalters bewachen können.

Rashid trat wieder auf das andere Bein und versuchte sich wach zu halten, indem er in Gedanken noch einmal die Schachpartie von gestern wiederholte. Er hatte Yussuf in zwanzig Zügen geschlagen. Aber vielleicht wäre es auch schneller gegangen? Während er sich an jeden einzelnen Zug zu erinnern versuchte, erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Zwei Männer näherten sich dem Tor. Sie gingen zu Fuß. Beide waren in lange staubige Mäntel gehüllt und trugen Kapuzen auf den Köpfen. Der eine stützte sich beim Gehen auf einen langen Stab wie ein Hirte. Oder wie ein Greis.

Pilger, dachte Rashid enttäuscht. Nichts als gewöhnliche Pilger.

Er wusste selbst nicht, was er zu sehen gehofft hatte. Wilde Horden von Nomaden, die Jerusalem plündern wollten? Die hatte es nicht mehr gegeben, seit die Stadtmauer vom Sultan Suleiman dem Prächtigen, sein Name sei gesegnet, erneuert worden war. Pilger hingegen waren in Jerusalem so wenig außergewöhnlich wie Händler. Täglich kamen viele von ihnen in die Stadt–Christen, Juden und natürlich auch Moslems. Pilger wollten nichts weiter als die heiligen Stätten besuchen und beten. Pilger stellten keine Gefahr dar. Trotzdem beschloss Rashid, diese beiden etwas genauer zu betrachten, und sei es nur, um die Zeit bis zur Ablösung totzuschlagen.

»He, ihr da!«, rief er sie an, als sie kaum mehr als zehn Schritte von ihm entfernt waren. »Bleibt stehen.«

Beide Männer blieben gehorsam stehen, und Rashid winkte sie näher.

»Kommt her.«

Sie nahmen ihre Kapuzen vom Kopf, und Rashid konnte ihre Gesichter sehen. Der eine war jung und hatte dunkles, dichtes Haar. Der andere schien sehr viel älter zu sein. Sein Schädel war kahl, abgesehen von einigen kranzförmig wachsenden braunen Stoppeln. Doch bei genauerem Hinschauen bemerkte Rashid, dass sein Gesicht überraschend jugendlich war–faltenlos, als wäre er nur eine Hand voll Jahre älter als sein junger Begleiter.

»Wer seid ihr?«

»Wir sind Pilger, mein Sohn«, erwiderte der Glatzköpfige mit ruhiger Stimme und einem sanften Lächeln. »Wir sind weit gereist, um am Grab unseres Herrn Jesus Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, zu beten.«

Rashid zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit dieser Worte. Die Mäntel und Schuhe der Männer waren schmutzig und abgetragen, als wären sie bereits seit Monaten unterwegs. Schlaff hingen die großen ledernen Taschen von ihren Schultern. Und trotzdem spürte er dieses Kribbeln im Nacken. Ein Kribbeln, das ihn schon oft auf die richtige Fährte geführt hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden, sosehr sie auch wie gewöhnliche Pilger aussehen mochten. Er würde schon herausfinden, was es war.

»Was tragt ihr bei euch?«, fragte er und deutete auf die Taschen.

»Die Reste unserer kargen Mahlzeit, mein Sohn«, antwortete der Glatzköpfige in seiner betont sanften Art. »Wir würden sie gern mit dir teilen, wenn dir als Anhänger von Mohammed die Art der Speisen nicht aus Glaubensgründen verboten wäre. Außerdem tragen wir die Bibel bei uns, das Wort des lebendigen Gottes.«

»Öffnet die Taschen.« Rashids Magengrube wurde warm. Dort spürte er den Zorn immer zuerst. Manchmal kam er so schnell und unerwartet über ihn wie ein Sandsturm. Diesmal jedoch spürte er genau, wie er sich langsam in ihm ausbreitete, kontrolliert und gebändigt von dem Gefühl der drohenden Gefahr.

»Gern.«

Der Glatzköpfige hörte nicht auf zu lächeln. Wenn er ein gewöhnlicher Pilger gewesen wäre, hätte er jetzt ängstlich oder wenigstens aufgeregt sein müssen. Die beiden waren Fremde, ihr Hebräisch war nicht fehlerlos. Wenn er selbst in einem fremden Land von den Stadtwachen angehalten und durchsucht worden wäre, hätte er sich auch mit einem reinen Gewissen Sorgen gemacht. Doch dieser Mann hier ließ weder Anzeichen von Furcht noch von Nervosität erkennen, nicht einmal Wut. Im Gegenteil. Seine hellbraunen Augen waren kalt. Das Kribbeln in Rashids Nacken wurde schier unerträglich.

Um sich abzulenken, widmete er sich den Taschen. Der Beutel des Jüngeren war leer, abgesehen von einem Stück über dem Feuer geräucherten Fleisches und einem Kanten trockenen Brotes. In der Tasche des Glatzköpfigen hingegen hatte er mehr Glück. Er fand neben einem Buch in lateinischer Schrift eine Flasche aus geschliffenem Glas. Sie war mit Blei verschlossen und zum Schutz vor Stößen in ein Tuch aus purpurfarbener Wolle gewickelt. Purpur? Die Farbe der Könige? Wie kam ein einfacher Pilger in den Besitz eines derart kostbaren Stoffes -wenn er denn wirklich nichts als ein einfacher Pilger war.

»Was ist das?«, fragte Rashid und zog die Flasche heraus. Die darin enthaltene Flüssigkeit funkelte im Licht der Sonne blutrot, und als er sie bewegte, tanzten leuchtende Punkte wie frische Blutflecken über die staubige Straße.

»Wein, mein Sohn«, antwortete der Glatzköpfige mit seiner ruhigen, freundlichen Stimme. Er lächelte immer noch, doch in seinen kalten Augen begann der Hass zu glühen. Der junge Pilger hingegen wurde bleich wie ein Laken.

Nichts als Wein?, dachte Rashid und kämpfte gegen die Versuchung an, die Flasche gegen die Mauer zu schmettern, nur um herauszufinden, wie die beiden Pilger darauf reagieren würden. Mittlerweile hatte er ein Gefühl, als ob hunderte von Ameisen seine Wirbelsäule auf und ab liefen. Ob er die beiden Männer seinem Vorgesetzten zum Verhör bringen sollte?

»He, Rashid, was gibt es?«

Yussuf war aufgewacht. Er verließ seinen Posten auf der anderen Seite des Tores und kam zu ihm herüber.

»Zwei Verdächtige«, erwiderte Rashid auf Arabisch in der Hoffnung, dass die beiden Christen die Sprache des Korans nicht verstanden. »Ich überlege gerade, ob der Meister der Suppenschüssel sich nicht mit ihnen befassen sollte.«

Yussuf betrachtete die beiden Männer von oben bis unten. Dann schüttelte er belustigt den Kopf.

»Wegen zwei Pilgern willst du den Meister der Suppenschüssel stören? Manchmal bist du wirklich verrückt, mein Freund. Es gibt wahrlich bessere Wege, sich die Langeweile hier am Tor zu vertreiben, als zwei harmlose Pilger anzuhalten und sich obendrein den Zorn des Meisters einzuhandeln.«

Rashid antwortete nicht. Harmlos hatte Yussuf die beiden Männer genannt. Auch ihm selbst waren sie auf den ersten Blick ungefährlich erschienen. Aber waren sie das wirklich? Er runzelte die Stirn und starrte auf die Flasche in seinen Händen. Das durch die Flüssigkeit schimmernde Licht färbte seine Hände rot, sodass sie aussahen, als hätte er sie in Blut getaucht. Das sollte Wein sein? Er konnte das nicht glauben. Aber was war es dann? Blut? Ihm wurde übel, und erneut spürte er das Verlangen, die Flasche gegen die Mauer zu schmettern.

»Rashid?« Yussuf legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Was ist mit dir los?«

»Nichts«, antwortete Rashid und schüttelte seine Bedenken ab. Er warf die Flasche nicht gegen die Mauer. Vielleicht befand sich darin eine Reliquie. Die Christen bewahrten schließlich alles Mögliche ihrer heiligen Männer auf und stellten es in ihren Kirchen zur Schau–persönliche Gegenstände, Kleidungsstücke, Haare, Knochen. Vielleicht befand sich in der Flasche das Blut eines christlichen Heiligen. Oder gar das Blut Jesu Christi. Und der war immerhin einer jener Propheten, die Allah in Seiner unermesslichen Güte vor Mohammed zu den Menschen gesandt hatte. »Du hast Recht. Es ist alles in Ordnung.«

Er wickelte die Flasche wieder in ihr purpurfarbenes Tuch und ließ sie in die Tasche des Glatzköpfigen zurückgleiten. Doch seltsamerweise war ihm dabei nicht besonders wohl. Er hatte das Gefühl, als ob es besser gewesen wäre ... Egal. Er trat einen Schritt zurück.

»Verschwindet, ihr haltet den Verkehr auf«, zischte er den beiden Pilgern zu und winkte sie ungeduldig an sich vorbei.

»Ich danke dir, mein Sohn«, sagte der Glatzköpfige. Das Lächeln auf seinem Gesicht war wie eingemeißelt. Rashid wurde das Gefühl nicht los, dass er einen schwerwiegenden Fehler beging, wenn er die beiden jetzt nicht aufhielt, sie in den tiefsten Kerker sperrte und den Schlüssel fortwarf. »Wir werden am Grab unseres Herrn für dein Wohlergehen beten.«

Er sah ihnen nach, wie sie ohne große Eile ihren Weg fortsetzten. Dieser Glatzköpfige war so ruhig, so gelassen. Zu ruhig und zu gelassen für einen harmlosen Pilger. Und doch ...

»Nun komm schon, Rashid!«, rief ihm Yussuf zu, der wieder seinen Posten auf der anderen Seite des Tores eingenommen hatte. »Lass die beiden gehen. Aber das stimmt schon, die Langeweile hier am Tor lässt einen am helllichten Tag Geister sehen. Wir sollten uns lieber ablenken. Wie wäre es mit einer Partie Schach?« Mit einem Lächeln zog er einen Beutel aus der Tasche und schüttete einen Haufen Steine auf den Boden. Es waren weiße und dunkle Kiesel mit eingekratzten Symbolen.

Rashid nickte. Wahrscheinlich hatte Yussuf Recht, und er bildete sich alles nur ein. Sein Geist spielte ihm einen Streich, nur um vor Langeweile nicht verrückt zu werden. Was gab es da Besseres als eine Partie Schach? Er zog seinen Dolch, um das Spielbrett in den Sand zu ritzen.

»Heute werde ich dich bestimmt besiegen«, sagte Yussuf, während er die Steine an ihre Plätze legte.

Rashid lächelte. »Wir werden sehen. Du hast den ersten Zug.«

Die Wächter von Jerusalem

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