Читать книгу Die letzten Söhne der Freiheit - Franziska Wulf - Страница 8

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Cornelia lag auf ihrem Bett und dachte nach. Die Wände ihres Schlafgemachs waren mit herrlichen Landschaften aus Italien bemalt, doch sie sah sie nicht. Es waren einige Tage seit ihrem Unfall vergangen. Sie konnte zwar ihr Bett noch nicht verlassen, doch die Medizin, die ihr der Arzt gegeben hatte, linderte ihre Schmerzen. Sylvia pflegte sie hingebungsvoll und versuchte, sie mit dem neuesten Klatsch aus der Stadt zu zerstreuen. Cornelia hörte ihr kaum zu. Ihre Gedanken waren bei dem jungen Kelten. Seit ihrer Rettung ging er ihr nicht aus dem Sinn. Oft ärgerte sie sich über seine spöttischen Antworten, auf die sie in ihrer Verlegenheit nichts hatte entgegnen können. Sie hatte sich ihm unterlegen gefühlt, obwohl sie für ihre scharfe Zunge, ein Erbe ihrer Mutter, bekannt war. Doch immer, wenn sie zornig zu werden begann, sah sie die klaren tiefblauen Augen des Kelten vor sich. Manchmal glaubte sie sogar, seine angenehme Stimme mit dem rauhen, singenden Akzent zu hören. Dann verflog ihr Zorn ebenso rasch, wie er gekommen war.

»Was meint Ihr dazu? Herrin?«

Cornelia schreckte aus ihren Gedanken hoch.

»Es tut mir leid, aber ich habe deine Frage nicht gehört.«

Sylvia wirkte besorgt.

»Seit Eurem Unfall seid Ihr eine andere! Ihr hört nicht zu, wenn ich mit Euch spreche, Ihr seid mit Euren Gedanken weit entfernt. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, daß ein Mann Euer Herz erobert hat.« Die Sklavin ergriff mit einem Lächeln Cornelias Hand. »Verzeiht, aber ist es vielleicht Euer Lebensretter, den Ihr nicht vergessen könnt?«

Cornelia lächelte und versuchte, ihre Verlegenheit und ihre Verwirrung zu verbergen. Warum mußte ihre Dienerin die Dinge immer direkt beim Namen nennen?

»Du bist ein Quälgeist! Es ist nicht so, daß ich unentwegt an ihn denken müßte! Aber ich würde mich gern bei ihm bedanken. Leider kenne ich nicht einmal seinen Namen!«

»Er heißt Duncan! Er ist der Sohn eines silurischen Fürsten.«

»Bei den Göttern, woher weißt du das, Sylvia?«

»Ich treffe mich manchmal mit einem der Wachmänner aus dem Kerker. Ich habe ihn gefragt, weil ich mir dachte, daß Euch sein Name früher oder später interessieren würde. Wie ich sehe, habe ich recht behalten.« Ein listiges Funkeln trat in die hellgrünen Augen der Sklavin. »Ich bin sicher, daß Gaius Lactimus Euch heute wieder besucht. Solltet Ihr ihn bitten, Euch den Kelten vorzuführen, so wird er Euch diesen Wunsch gewähren. Er will Euch schließlich gefallen! Eure Mutter weilt in Aquae Sulis, sie braucht nichts davon zu erfahren. Euer Vater jedoch hat in seiner Freude über Eure Rettung den Göttern ausgiebige Trankopfer dargebracht. Er schläft sicherlich den ganzen Tag ...«

Cornelia lachte laut. Fast jeder in Eburacum kannte die Vorliebe ihres Vaters für Wein und sein Talent, jeden beliebigen Anlaß für ein ausgiebiges Gelage zu nutzen.

»Was würde ich ohne dich anfangen!«

Sylvia verbeugte sich lächelnd.

»Ich versuche nur, Euch nach Kräften zu dienen!«

Nur wenig später meldete ein Sklave tatsächlich die Ankunft von Gaius Lactimus. Als der Offizier der Stadtkohorte das Schlafgemach betrat, verbeugte sich Sylvia und verließ lautlos den Raum, wie es sich für eine Unfreie gehörte.

Gaius Lactimus war ein gerngesehener Gast im Hause des Verwalters. Der dreißigjährige, gutaussehende Mann, dem viele Römerinnen aus Eburacum zu Füßen lagen, schien sein Herz an Cornelia verloren zu haben. Seine Freunde zogen ihn damit auf, denn die Tochter des Verwalters war zwar hübsch, aber so hoch gewachsen, daß sie viele der Soldaten überragte. Zudem fürchteten die meisten jungen Männer ihren scharfen Verstand. Sie entsprach nicht dem Bild einer stillsorgenden Ehefrau, die sich nur um ihr Aussehen und den Haushalt kümmerte. Doch Gaius störte das nicht. Er wußte, was er wollte. Cornelia gehörte zur besten Familie in Eburacum. Und seit dem Tod ihres Ehemannes im vergangenen Herbst war sie ungebunden.

»Es freut mich, Euch in guter Stimmung zu sehen, Cornelia.« Gaius reichte ihr einen Korb mit Früchten. »Ich hoffe, die Feigen werden Euch schmecken. Sie sollen erst heute in Eburacum angekommen sein.«

Cornelia dankte ihm höflich. Frische Feigen waren in diesem Teil Britanniens eine seltene Köstlichkeit. Lactimus hatte sicherlich die Hälfte seines monatlichen Solds dafür ausgegeben. »Es geht mir in der Tat besser, Gaius. Die Schmerzen lassen nach. Ich hoffe, bald wieder aufstehen zu können.« Sie deutete auf einen Stuhl. »Nehmt doch Platz, dann können wir uns besser unterhalten!«

Eine Weile sprachen sie über die neuesten Ereignisse in der Stadt. Schließlich brachte Cornelia den Offizier durch geschickte Fragen dazu, über die Kelten zu sprechen.

»Da Ihr gerade die Gefangenen erwähnt, fällt mir ein, daß ich mich noch bei jenem Mann bedanken wollte, der mich gerettet hat. Meint Ihr, Ihr könntet es einrichten, daß er hierher ins Haus kommt?«

Lactimus runzelte die Stirn.

»Was wollt Ihr von ihm?«

»Ich möchte ihn für seine Tat belohnen, schließlich verdanke ich ihm mein Leben.«

Lactimus schüttelte den Kopf.

»Es wäre zu gefährlich, Cornelia. Der Bursche ist wild und unberechenbar. Er könnte Euch töten!«

Hätte er das gewollt, so hätte er sich wohl kaum die Mühe gemacht, mich den Abhang hinaufzutragen! Doch Cornelia behielt diesen Gedanken für sich. Statt dessen legte sie Lactimus leicht eine Hand auf den Arm und lächelte liebenswürdig.

»Selbstverständlich brauche ich jemanden, der mich beschützt. Ich weiß Eure Qualitäten zu schätzen und wäre überglücklich, wenn Ihr diese Aufgabe übernehmen würdet!«

Sie sah ihn bittend an, und Gaius lächelte. Bisher hatte sich Cornelia ihm gegenüber eher zurückhaltend gezeigt. Vielleicht begann das Eis nun allmählich zu schmelzen. Er mußte diese Chance wahrnehmen und ihr den Wunsch erfüllen.

»Gut, ich werde ihn heute abend hierher bringen lassen.«

»Habt Dank!« Cornelia ließ sich in die Kissen zurücksinken.

»Bitte verzeiht, aber ich bin doch noch ein wenig müde und würde jetzt gerne schlafen!«

Höflich erhob sich Gaius und verbeugte sich. Kurz darauf hörte Cornelia, wie die Tür hinter dem Offizier ins Schloß fiel. Versonnen lächelte sie.

Es wurde dunkel, als Duncan, Dougal und weitere Gefangene erschöpft und hungrig von der Arbeit im Steinbruch zurückkehrten. Duncan ging sofort zu dem Faß in der Mitte des Raumes. Er zog das Hemd aus und goß sich mit der Schöpfkelle Wasser über den Kopf. Duncan haßte Schmutz an seinem Körper. Mit geschlossenen Augen genoß er das Gefühl des über seine Schultern rieselnden Wassers, das den Staub und den Geruch des Steinbruchs von ihm abwusch. Dann reichte er Dougal die Kelle, der ebenfalls darauf wartete, sich reinigen zu können. In diesem Moment öffnete sich die Kerkertür.

»Duncan!« Die Stimme des Lactimus hallte durch den Raum. Suchend blickte sich der Offizier um, bis er ihn entdeckt hatte. Sein abschätzender Bück glitt über die schlanke, muskulöse Gestalt des Kelten. »Zieh dich an, du wirst im Hause des Vergilius erwartet!«

Dougal und Duncan sahen sich überrascht an.

»Was kann der Verwalter von dir wollen?«

Duncan fuhr sich über das nasse Gesicht und zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht. Aber ich werde es bald erfahren.«

Er streifte sich sein Hemd über.

»Sei vorsichtig, Junge! Du weißt, daß man den Römern nicht trauen kann!«

»Beeile dich, verfluchter Kerl!«

Dougal legte ihm eine Hand auf die Schulter. Duncan wurde gefesselt, und zwei Soldaten führten ihn hinaus. Bevor er jedoch den Kerker verließ, drehte er sich noch einmal zu Dougal um und lächelte dem besorgten Freund zu.

Wenig später wurde Duncan in das Haus des Claudius Vergilius Didimus geführt. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich im Inneren eines römischen Hauses befand. Interessiert betrachtete er die Marmorsäulen der Eingangshalle, das mit einem Mosaik ausgelegte Wasserbecken in ihrer Mitte und die Wandgemälde, die Jagdszenen darstellten. Beim Anblick eines Wildschweins wanderten seine Gedanken in seine Heimat.

Er und Alawn hatten die Jagd geliebt. Viele Stunden, oft ganze Tage hatten sie damit verbracht, durch die Wälder und Berge zu streifen. Das letzte von ihnen erlegte Wild war ein mächtiger Keiler gewesen, jenem auf dem Bild ähnlich. Gemeinsam hatten sie das Herz des Tieres verzehrt und so ihre Freundschaft bekräftigt. Er erinnerte sich gut an den rauchigen Kieferngeschmack des Fleisches. Und er erinnerte sich auch, daß Alawn ihn lachend gebeten hatte, das nächste Mal für das Feuer kein Nadelholz zu verwenden. Zwei Tage später war Alawn gestorben. Eine weitere Jagd würde es in diesem Leben nicht mehr geben ...

Duncan zwang sich, den Blick abzuwenden. Ganz gleich, was Vergilius von ihm wollte: Der Römer sollte keine Tränen in seinen Augen sehen!

Nach einer Weile stießen die Soldaten Duncan unsanft in einen Raum, der sich am linken Ende der Halle befand. Als er das Zimmer betrat, konnte er seine Überraschung kaum verbergen. In einem Sessel, das gebrochene Bein auf einem gepolsterten Schemel gelagert, saß die junge Römerin. Doch Duncan war enttäuscht. Ihr dunkles, fast schwarzes Haar hatte sie zu einer kunstvollen Frisur geflochten, außerdem war sie geschminkt. Draußen am Hang, mit nassen, zerzausten Haaren und Schlamm auf ihrer zarten Haut, war sie schön gewesen. Aber hier hatte er sie fast nicht wiedererkannt. Dann lächelte sie ihn jedoch an. Ihre braunen Augen strahlten, und unter dem Puder und Wangenrot fand er das Gesicht wieder, das in den vergangenen Nächten seine Träume begleitet hatte.

Cornelia sah dem Kelten erwartungsvoll entgegen, ihr entging kein Detail, was seine Gestalt, sein Gesicht oder seine Kleidung betraf. Er war anders als römische Männer. Nicht nur das kurzärmelige Hemd und die weite, blaugefärbte Hose, die in der schlanken Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde, unterschied ihn von den Römern. Seine langen blonden Haare, die stolze Haltung, sogar sein Gesicht waren anders. Er war ein sehr gut aussehender Mann. Aber Gaius hatte recht, er war wild. Es war beängstigend und faszinierend zugleich. Bevor sie sich endgültig in den Tiefen seiner blauen Augen verlor, besann sie sich ihrer sorgfältig zurechtgelegten Worte.

»Gaius, übersetzt bitte für mich! Dein Name ist Duncan, wie ich hörte. Ich bin Cornelia Vergilia, dies ist das Haus meines Vaters. Du weißt, wer Claudius Vergilius Didimus ist?«

Während Lactimus übersetzte, hielt der Kelte Cornelia mit seinem Blick gefangen. Mit ernstem Gesicht hörte er dem Offizier zu. Schließlich nickte er.

»Vor vier Tagen hast du dein Leben riskiert, um meines zu retten. Dafür bin ich dir dankbar, mehr als ich sagen kann. Niemals werde ich dir das vergelten können. Da mein Vater der Verwalter von Eburacum ist, habe ich die Möglichkeit, dir eine Bitte zu gewähren. Nenne mir deinen Wunsch, und wenn es in meiner Macht steht, werde ich ihn erfüllen!«

Die Stimme des Kelten klang in seiner Muttersprache tiefer, rauher, aber auch wärmer. Gespannt erwartete Cornelia die Übersetzung durch Lactimus.

»Er sagt, in etwa zehn Tagen ist Beltaine, ein Fest zum Sommerbeginn. Liefert am Vorabend zur Kalenda des Mais alles, was die Kelten brauchen, damit sie gemäß ihrer Tradition das Fest feiern können. Das ist sein Wunsch!«

Cornelia konnte ihre Verwirrung kaum verbergen.

»Aber ich weiß nicht, was für dieses Fest benötigt wird. Ich kenne die Bräuche der Kelten nicht.«

Nach Gaius’ Übersetzung stieß der Kelte einen Schwall Worte hervor. Seine Augen blitzten spöttisch.

»Was hat er gesagt, Gaius?«

Die Stirn des Offiziers umwölkte sich. Einen Augenblick herrschte Schweigen, als er darüber nachdachte, ob er Cornelia die Antwort des Gefangenen mitteilen sollte oder nicht. Schließlich seufzte er.

»Er sagte, daß Ihr wenig über dieses Land und seine Bewohner wißt, wenn man bedenkt, wie lange Ihr bereits hier lebt. Aber wenn es Euch interessiert, wird Euch Eure keltische Sklavin sicherlich helfen können. Sofern sie noch in der Lage ist, sich an die Bräuche ihrer Ahnen zu erinnern!«

Cornelia wurde heiß und kalt zugleich. Einerseits ärgerte sie sich über die deutliche Zurechtweisung, andererseits schämte sie sich dafür, daß er recht hatte. Hilfesuchend blickte sie zu Sylvia, die mit hochrotem Gesicht verlegen zu Boden sah.

»Gut, ich verspreche ihm, diesen Wunsch zu erfüllen.« Dann kam ihr ein Gedanke. Vielleicht gelang es ihr doch noch, ihn in Verlegenheit, zu bringen und etwas von ihrer Würde zurückzuerobern? »Er soll näher kommen!« Einer der Soldaten stieß den Kelten vorwärts. »Knie dich nieder!«

Zornig funkelten seine Augen, als er mit deutlichem Widerwillen ihrem Befehl gehorchte. Cornelia beugte sich in ihrem Sessel vor und lächelte.

»Es gibt in meiner Heimat die Sitte, sich bei seinem Lebensretter mit einem Kuß zu bedanken!«

Sie umfaßte den Nacken des Kelten und bog seinen Kopf mit sanfter Gewalt zu sich. Für die Dauer eines Herzschlags berührten sich ihre Lippen.

»Ich werde ihn wieder in den Kerker zurückbringen!«

Lactimus’ harte Stimme ließ sie aufschrecken. Das Gesicht des Offiziers war wie versteinert. Nur das Spiel der Muskeln an seinen Schläfen verriet, daß es ihn Mühe kostete, sich unter Kontrolle zu halten.

Cornelia seufzte, ließ ihre Hände sinken und sah Duncan in die Augen. Er schien ebenso verwirrt zu sein wie sie selbst. Sie zwang sich, ihren Blick von dem Kelten abzuwenden und Gaius zu antworten.

»So sei es! Sage ihm, daß ich mein Versprechen halten werde!«

Die Soldaten packten Duncan bei den Armen und stießen ihn hinaus. Nachdenklich sah ihnen Cornelia nach. Dann wandte sie sich an ihre Sklavin:

»Sylvia, hat Lactimus alles wahrheitsgemäß übersetzt?«

»Ja, Herrin!«

Cornelia seufzte tief. Sylvia glaubte, alle unausgesprochenen Fragen herauszuhören, und lächelte.

»Wenn ich mich nicht täusche, Herrin, hat er den Kuß genossen, ebenso wie Ihr.«

Im Kerker war es still, nur die tiefen, regelmäßigen Atemzüge der Männer waren zu hören. Der Mond schien durch die schmalen Schlitze im Mauerwerk und erleuchtete den Raum spärlich mit seinem fahlen Licht. Duncan stieg vorsichtig über die Schlafenden hinweg zu seinem Platz neben Dougal. Als er näher kam, richtete sich der Freund auf.

»Duncan, du kommst spät! Ich begann schon, mir Sorgen um dich zu machen. Was wollte der Verwalter von dir?«

»Nicht er, mein Freund, seine Tochter wollte mich sprechen.«

Duncan ließ sich auf den Boden nieder. »Die Römerin, die mit ihrem Wagen den Abhang hinuntergestürzt ist, ist die Tochter des Verwalters. Und weißt du, was sie wollte?« Er lehnte seinen Kopf gegen die Mauer und lachte leise. »Sie hat sich bei mir bedankt und mir eine Belohnung versprochen.« Er sah den Freund an, seine Augen leuchteten. »Wir werden Beltaine feiern, Dougal! Sie hat es mir zugesagt!«

»Duncan, du kannst den Römern nicht trauen! Sie wird ihr Versprechen nicht halten.«

»Doch, sie wird!«

»Was macht dich so sicher?«

Duncan lächelte versonnen.

»Gefühl!« Er lachte über Dougals besorgtes Gesicht. Dann drehte er sich auf die Seite und bettete den Kopf auf seine Arme. »In wenigen Tagen werden wir sehen, wer von uns beiden recht hat.«

Kurze Zeit später hörte Dougal an den tiefen, gleichmäßigen Atemzügen, daß Duncan bereits schlief. Voller Zuneigung betrachtete er den jungen Mann. Er liebte ihn wie einen eigenen Sohn. Obwohl er noch keine zwanzig Jahre alt war, trug Duncan bereits mehr Narben am Körper als ein erfahrener Krieger. Die Römer hatten ihm Leid zugefügt, an dem andere Männer zerbrochen wären. Dennoch war sein stolzes, leidenschaftliches Herz von der Gefangenschaft unberührt geblieben.

»Du wärst ein großer Fürst geworden, Duncan!« sagte Dougal leise. »Aber vielleicht, wenn die Götter gnädig sind, wirst du es eines Tages auch sein!«

Es war noch früh am Morgen. Duncan war bereits wach und blickte zu den Mauerschlitzen empor, durch welche die ersten Strahlen des neuen Tages fielen. Neun Monate waren vergangen, seitdem die Römer ihn zu ihrem Gefangenen gemacht hatten. Diese Monate kamen ihm wie Jahre vor. Kein Tag verging, ohne daß er Alawns bleiches, vom Tod gezeichnetes Gesicht vor sich sah oder die Schreie der Sterbenden auf dem Schlachtfeld hörte. Kein Tag, an dem er sich nicht wünschte, mit einem Schwert in der Hand die Römer endlich in den Teil der Welt zurückzutreiben, aus dem irgendein Dämon sie hervorgelockt hatte. Seine Gedanken wanderten nach Hause. Heute war Beltaine! Vor seinem geistigen Auge sah er seinen Vater und seine Schwester, wie sie das Fest vorbereiteten. Abends erleuchteten dann die Feuer die Wiese vor dem Eichenhain, und der Gesang der Druiden vermischte sich mit den Geräuschen der hereinbrechenden Nacht. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Heute würde sich herausstellen, ob die Römerin ihn zum Narren gehalten hatte oder ob sie sich an ihr Versprechen erinnerte. Vielleicht ...

Ein Stöhnen lenkte seine Aufmerksamkeit auf den jungen, rothaarigen Mann an seiner Seite. Craig würde den Abend wahrscheinlich nicht mehr erleben. Seine Wangen waren eingefallen, Schweißperlen bedeckten seine fieberheiße Stirn. Sein röchelnder Atem stockte, und ein trockener, bösartiger Husten schüttelte seine magere Gestalt. Duncan tauchte ein Stück Stoff in Wasser und legte es dem Kranken auf die Stirn. Es war das einzige, was er noch für ihn tun konnte. Craig erwachte.

»Duncan! Welcher Tag ist heute?«

»Es ist der Vorabend von Beltaine, Craig.«

»Beltaine?« Der Kranke lächelte. »Die Römer haben uns für heute eine Feier versprochen!« Craig ergriff Duncans Arm. Seine hellblauen Augen glänzten fiebrig. »Dieses Fest hat mir schon immer viel bedeutet, aber diesmal wird es etwas Besonderes sein! Wenn wir heute abend feiern, dann wissen wir uns bei unseren Familien. Sie werden spüren, daß wir an sie denken, und für einen Augenblick wird es so sein, als wären wir zu Hause. Daran können auch die Römer nichts ändern!«

Jedes der Worte traf Duncan mitten ins Herz, nur mühsam bekämpfte er seine Tränen. Er legte Craig eine Hand auf die Schulter, und es gelang ihm sogar zu lächeln.

»So ist es, Craig! Versuche jetzt noch zu schlafen!«

Der junge Mann nickte und drehte sich hustend auf die andere Seite. Duncan erhob sich und ging zu Dougal, der sich bereits wusch. Auch er tauchte die Schöpfkelle in das Faß und schüttete sich Wasser über den Körper.

»Craig wird heute sterben, Dougal!«

»Ich weiß! Die Krankheit steckt in seinen Lungen. Aber er hat es bald überstanden.«

»Er hat nur noch einen Wunsch: Beltaine zu feiern! Wenn wir nur etwas tun könnten, damit er den heutigen Abend erlebt!«

»Es liegt nicht mehr in unserer Macht! Wir haben getan, was wir konnten. Nun müssen die Götter entscheiden!«

»Ich weiß, daß du recht hast, aber ...« Duncan stützte sich auf das Faß. »Er sagte, wenn wir heute abend feiern, würde es sein, als wären wir zu Hause! Verstehst du? Er würde in dem Gedanken an seine Heimat und seine Familie sterben!«

Dougal sah Duncans Kummer und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ich bin sicher, daß die Götter gnädig sein werden!«

Es wurde ein warmer, sonniger Tag. Die Arbeit im Steinbruch war hart. Angetrieben von Beschimpfungen und Stockschlägen der römischen Soldaten, schwitzten die Männer vor Anstrengung. Jedesmal, wenn Duncan seine Hacke hob, um die Spitze in den Fels zu schlagen, schickte er ein Gebet zu den Göttern. Er betete um Gnade für Craig und um die Erfüllung eines Versprechens. Verbissen und ohne auch nur einmal Atem zu schöpfen, arbeitete er den ganzen Tag, bis die Römer ihnen die Werkzeuge abnahmen. Es war bereits dunkel, als sie im Kerker ankamen. Doch sie wurden nicht in ihr Verlies geführt, sondern zu einem hölzernen Tor.

»Was soll das bedeuten?« fragte Dougal beunruhigt Marcus Brennius, der sie zu erwarten schien. Jeder der Gefangenen wußte, daß hinter dem Tor der Innenhof lag, in dem die Hinrichtungen stattfanden.

»Befehl von Vergilius!« antwortete der Offizier mit undurchdringlicher Miene und gab zwei Soldaten einen Wink.

Langsam öffnete sich das schwere Tor vor ihnen und gab den Blick auf den Innenhof frei. Für kurze Zeit war es so still, daß man eine Feder hätte fallen hören können. Dann brach unbeschreiblicher Jubel los.

Der Innenhof wurde von einem Dutzend Feuern hell erleuchtet. Schweinekeulen drehten sich an Spießen, und Bierfässer standen in Reichweite. Der Duft von gebratenem Fleisch erfüllte die Luft. Niedrige, hölzerne Tische standen kreisförmig angeordnet in der Nähe der Feuer und waren mit Bechern und Platten gedeckt. Sogar an die Felle zum Sitzen hatte man gedacht. Über ihnen wölbte sich ein klarer Himmel, an dem bereits die ersten Sterne blinkten.

»Nehmt ihnen die Fesseln ab!« befahl Brennius. Lächelnd sah er Duncan an und legte ihm, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, eine Hand auf die Schulter. »Ihr sollt heute ungestört feiern können!«

»Aber ich warne euch! Sollte einer von euch diese großmütige Geste ausnutzen, dann wird er das schnell bereuen!« fügte Lactimus grimmig hinzu. Dem Offizier war deutlich anzusehen, daß er dieses Fest keineswegs billigte.

Während die Kelten zu den Feuern stürmten, entfernten sich die römischen Soldaten und schlossen das Tor hinter sich. Duncan sah sich suchend nach Craig um. Dann erblickte er ihn etwas abseits von den anderen.

»Sieh nur, Dougal, Craig lebt!«

Ohne eine weitere Bemerkung abzuwarten, lief Duncan zu dem nächststehenden Faß, füllte einen Becher mit Bier, nahm ein Stück Fleisch und hockte sich neben den jungen Mann, dessen Augen fiebrig glänzten.

»Beltaine, Craig! Iß und trink!«

Duncan half dem Kranken, sich aufzurichten, und hielt ihm den Becher an die Lippen. Mit gierigen Schlucken leerte ihn Craig in einem Zug. Dann biß er hungrig in das Fleisch.

»Es ist köstlich, Duncan! Siehst du das wunderschöne blonde Mädchen dort drüben am Feuer? Das ist Gwendolyn. Sie ist meine Braut. Nach der Ernte werden wir heiraten!«

Duncan blickte in die Richtung, wo ein Teil der Mauer besonders hell vom Feuer beschienen wurde. Dort war nichts weiter als Staub und Steine. Doch in seiner Phantasie sah er mit Craigs Augen.

»Morgen werde ich damit beginnen, unser Haus zu bauen.« Craig lehnte sich erschöpft in Duncans Armen zurück und hustete. Ein dünner Blutfaden rann von seinem Mundwinkel herab.

»Kommst du zu unserer Hochzeit, Duncan?«

»Ja, wenn es mir möglich ist.«

»Ich glaube, ich habe zuviel Bier getrunken. Ich bin so müde!« Er schloß die Augen, und seine Stimme wurde schwächer. »Ich gehe zu Gwendolyn und sage ihr, daß ich mich schon zum Schlafen hinlege. Gute Nacht, Duncan!«

»Gute Nacht, Craig!«

Wie einen Seufzer des Wohlbehagens stieß Craig seinen letzten Atemzug aus. Behutsam ließ Duncan den Toten auf den Boden gleiten.

»Du hast wohl noch nichts getrunken?«

Die Stimme einer Frau und leise gesprochene lateinische Worte ließen Duncan aufsehen. Vor ihm stand Cornelia und reichte ihm schüchtern einen gefüllten Becher.

»Ich habe ihn hoffentlich nicht geweckt?«

Duncan erhob sich und schüttelte den Kopf.

»Er schläft sehr tief.«

Der Klang seiner Stimme erfüllte sie mit Entsetzen. Erschrocken sah sie den am Boden liegenden Mann an.

»Du meinst, er ist ...« Tränen traten in ihre Augen. »Es tut mir leid! Ich wollte nicht stören!«

Rasch wandte sie sich ab, doch Duncan hielt sie zurück.

»In seinem Fieber glaubte er, in seiner Heimat zu sein. Als er starb, sah er seine Braut leibhaftig vor sich. So ein Tod ist weit mehr, als die meisten von uns erhoffen können. Es muß dir nicht leid tun!«

»Ich gehöre nicht hierher, und ich sollte auch gleich wieder gehen!« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich wollte mich nur davon überzeugen, daß alles so ist, wie ihr es gewohnt seid. Ich habe Erkundigungen bei keltischen Kaufleuten eingezogen, weil ich nichts über eure Bräuche wußte und auch Sylvia mir nicht helfen konnte.«

Verlegen senkte Duncan den Blick.

»Was ich im Haus deines Vaters zu dir gesagt habe, tut mir leid. Es war unhöflich.«

»Vielleicht. Aber du hattest recht.« Cornelia hielt ihm erneut den Becher hin. »Entspricht diese Feier deinen Wünschen?«

Duncan nahm den Becher und trank ihn in einem Zug leer. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen und gab ihr lächelnd das Gefäß zurück.

»Ich muß dir danken.«

»Nein, denn ich habe nur mein Versprechen gehalten.«

Duncan schüttelte den Kopf.

»Du hast mehr getan. Du hast uns eine Nacht der Wunder geschenkt. Wenn ich genau hinsehe, kann ich im Schein der Feuer die Häuser meines Dorfes erkennen. Solange ich lebe, werde ich dir das nicht vergessen.«

Cornelia sah ihn an. Seine blauen Augen wirkten im Licht der flackernden Feuer dunkel wie zwei ruhige Seen, in deren Tiefe eine wärmende Glut zu leuchten schien. Verlegen wandte sie den Blick ab.

»Ich werde euch jetzt nicht weiter stören. Man erzählte mir, daß ihr lieber unter euch feiert und Gäste nicht willkommen sind.«

»Du weißt wirklich nicht viel über dieses Land und mein Volk, Cornelia.«

Ihr Herz klopfte schneller, als er ihren Namen nannte.

»Du hast recht, Duncan. Aber ich beginne zu lernen.«

Dann wandte sie sich um und verließ den Innenhof. In Gedanken versunken sah Duncan ihr nach. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken. Dougal stützte sich mit dem Arm auf ihm ab und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher.

»Du hast recht behalten, mein Freund, sie hat ihr Versprechen zu unser aller Zufriedenheit gehalten. Aber auch ich hatte recht mit meiner Vermutung.« Er trank erneut. Seine Zunge war bereits schwer. »Du hast dein Herz an die Römerin verloren!«

»Was?!«

Dougal grinste breit.

»Versuche nicht, es zu leugnen, mein Junge! Ich bin alt genug, um dein Vater zu sein, und kenne mich aus in diesen Dingen. Wenn ein Mann eine Frau in einer bestimmten Art ansieht, dann hat er sich verliebt!« Ein listiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich habe euch beide beobachtet.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen Duncans Brust. »Du hast diesen Blick.«

»Hüte deine Zunge, Dougal!«

Er ergriff warnend das linke Handgelenk des Freundes. Dougal lachte.

»Ruhig Blut, junger Freund! Du brauchst dich nicht dafür zu schämen! Doch laß uns jetzt nicht von Frauen reden, sondern trink lieber! Es ist Beltaine!«

Duncan ergriff lächelnd den ihm angebotenen Becher und nahm einen tiefen Schluck.

»Du hast recht, Dougal.«

Dann sah er plötzlich über Dougals Schulter hinweg, wie sich eine mit einer Toga bekleidete Gestalt über Craig beugte.

»He, du da! Störe die Ruhe unserer Toten nicht!«

Mit langen Schritten ging er wütend auf den Mann zu. Dougal versuchte ihn zurückzuhalten.

»Vorsicht! Mir ist dieser Mann nicht geheuer!«

»Dann soll ich also ruhig zusehen, wie er sich an einem toten Freund zu schaffen macht? Das kannst du von mir nicht erwarten!« Duncan riß sich aus Dougals Umklammerung los, seine Augen sprühten vor Zorn. »He, Togaträger! Was hast du hier zu suchen? Antworte!«

Doch der Mann hörte nicht auf die Worte, obwohl Duncan und Dougal schon fast neben ihm standen.

»Wenn du jetzt nicht sofort deine Finger von ihm läßt, wirst du es bereuen.«

Dougal stand näher bei dem Toten als sein Freund. Was er sah, ließ ihn erschauern. Als sich Duncans Muskeln spannten, um den Eindringling niederzuschlagen, hielt Dougal ihn mit aller Kraft fest.

»Nein, Duncan, nicht!« schrie er entsetzt.

Langsam und bedächtig, als hätte er nichts zu befürchten, erhob sich der Mann und wandte sich ihnen zu. Seine grauen Augen glitten forschend über Dougal und blieben dann auf Duncan haften.

»Du bist also Duncan!«

Duncan sah verwirrt erst den Fremden vor sich und dann seinen Freund an, dem vor Anstrengung bereits die Schweißperlen auf die Stirn traten.

»Nicht, Duncan! Du darfst ihn nicht angreifen!« Dougal keuchte und lockerte seinen Griff, seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Er ist ein Druide!«

Jetzt sah auch Duncan das Eichenlaub auf Craigs Brust. Offensichtlich hatte der Fremde die rituellen Totengebete gesprochen. Duncan war sprachlos und unfähig, sich zu bewegen. Dann fiel er auf die Knie und senkte beschämt seinen Kopf.

»Ich habe es wohl nur der Weisheit des Alters zu verdanken, daß ich noch lebend unter euch weile!« Zwinkernd sah der Druide Dougal an. »Vielleicht möchte unser junger, ungestümer Freund etwas sagen?«

»Bei Lug, ich hätte dich um ein Haar getötet, ehrwürdiger Vater! Ich hielt dich für einen Leichenschänder.« Fassungslos schüttelte Duncan den Kopf. »Ich habe kein Recht, dich um Verzeihung zu bitten.«

»Nun, offenbar bin ich durch die Toga gut getarnt.« Beschwichtigend legte der Druide Duncan eine Hand auf das Haar. »Erhebe dich, mein Sohn, ich vergebe dir!«

Duncan richtete sich auf, wagte es aber nicht, dem Druiden in die Augen zu sehen.

»Wer bist du?« fragte Dougal. »Was machst du hier?«

»Mein Name ist Ceallach. Ich bin der Diener des Brennius.« Wieder zwinkerte er. »Wenigstens glaubt er das! Ich kam in diese Stadt, weil keltische Männer die Führung eines Druiden brauchen. Wer betet sonst für die Toten? Wer kümmert sich um eure Seelen? Wer versorgt die Kranken?« Er seufzte. »Ohne den Beistand der Götter verlieren unsere tapferen Männer schnell ihren Mut. Sie werden zu Lakaien des römischen Reiches. Das kann ich nicht zulassen!«

»Du sprichst vom Widerstand gegen die Römer, und doch bist du wie sie gekleidet!«

»Manchmal muß der Stolz zugunsten einer List weichen!« Lächelnd sah der Druide Duncan an. »In meiner traditionellen Kleidung würde mich wohl jeder Narr erkennen! Ihr wißt, daß man unseren Orden im ganzen Römischen Reich verbot? Wie gejagtes Wild müßte ich mich in den Wäldern verbergen, um meiner Hinrichtung zu entgehen. In dieser Toga aber bin ich nur Ceallach, Diener des Brennius, ein Kelte unter vielen!«

Der Druide lachte und legte seine Arme um die Schultern der beiden Männer.

»Und nun kommt, meine Freunde, wir haben heute noch viel zu tun! Ich werde die Götter beschwören, damit sie euch von Krankheiten verschonen!«

Gemeinsam gingen sie zu den Feuern. Die Kelten aßen, tranken, beteten und lachten. Ceallach kleidete seine Gebete in Verse, und die Römer, die vor dem Tor diese Worte hörten, glaubten, er besinge die Wälder und Berge seiner Heimat. Dann stimmten die Männer Lieder an. Ihre rauhen Stimmen verschmolzen mit den Geräuschen der Nacht zu einem eigentümlichen Gesang, und für einige Stunden vergaßen sie die Römer, die Ketten und die Mauern, die sie umgaben.

Die letzten Söhne der Freiheit

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