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Sigmund Freuds Entwurf einer Psychologie als ‚Nervenkunst‘

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Nietzsche profitierte vom außerordentlichen Prestige der Physiologie, der „Königin unter den Naturwissenschaften“26, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die menschlichen Sinne und Empfindungen sowie die Nerven rückten schnell in den Mittelpunkt des Interesses dieser Wissenschaft. Die Nerventätigkeit wurde insbesondere mit Energie in Zusammenhang gebracht, wie dies etwa von einer brillanten Rede Ewald Herings Über die spezifischen Energien des Nervensystems (1884) belegt wird. Unterstrichen wurden vor allem die integrative Kraft, die Leistungsfähigkeit und die Regulationsmechanismen des Nervensystems.

Sigmund Freud – ein Schüler des berühmten Physiologen Ernst Brücke – beginnt seine Schrift Entwurf einer Psychologie (1895)27 mit der programmatischen Absicht, Physiologie und Psychologie zu verbinden und „psychische Vorgänge […] als quantitativ bestimmte Zustände“ der Neurone „anschaulich und widerspruchsfrei“ aufzuzeigen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 387). Die Neurone werden von Freud mit einer Energiemenge, der „fließenden Quantität“ Q, ausgestattet (Freud, GW, Nachtragsband, S. 388). Sie unterliegen dem Prinzip der Trägheit, weil sich jedes Neuron „[der] Q zu entledigen trachtet“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 388). Zwar zieht der Autor einige physiologische Begriffe und mechanistische Vorstellungen heran (Siebe, Triebfedern, Schirme usw.), er setzt sich jedoch bald über den „neurophysiologischen Reduktionismus“28 hinweg. Die auf den ersten Blick strenge wissenschaftliche Diktion wird von einigen der damaligen Neurophysiologie nicht geläufigen, von Freud erfundenen physiologischen Begriffen29 und von Bemerkungen wie derjenigen über die „Not des Lebens“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 390) mehrmals durchkreuzt. Durch die anschauliche Darstellung der Neurone und durch die lebendige Argumentationsweise entsteht das Bild eines komplexen, subtil gebauten, hoch organisierten und fein abgestimmten Nervenapparats, so dass von einem „Klappern der [Neuronen]Maschine“ im Entwurf einer Psychologie30 nicht die Rede sein kann.

Die beeindruckende Feindifferenzierung der Nervenzellen in Φ-, Ψ- und ω-Neurone soll die „[steigende] Komplexität des Inneren [des Organismus]“ demonstrieren (Freud, GW, Nachtragsband, S. 389). Das scheinbar klare und harmonische Bild des Nervensystems, das „aus distinkten, gleich gebauten Neuronen besteht“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 390), wird aber immer wieder getrübt und gebrochen, wenn Freud die Gefährdung und sogar das „Versagen“ dieses Systems beschreibt (Freud, GW, Nachtragsband, S. 399). In solchen Fällen wird das Nervensystem personifiziert: „Hiermit ist das Nervensystem gezwungen, die ursprüngliche Tendenz zur Trägheit […] aufzugeben. Es muß sich Vorrat von Qή gefallen lassen, um der Anforderung der spezifischen Aktion zu genügen.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 390) Das Nervensystem wird in die Defensive gedrängt: „Durch die Not des Lebens gezwungen, hat das Nervensystem sich einen Qή Vorrat anlegen müssen.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 393) Auffallend ist auch Freuds Kommentar vom „zwiespältigen Bau“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 391) des Nervensystems, der im Kontrast zu den Vorstellungen der zeitgenössischen Physiologie steht, etwa seines Mentors Josef Breuer, für den das Nervensystem „ein durchaus zusammenhängendes Ganzes“ ist31. Der „Not des Lebens“, der später in Freuds Schriften häufig auftauchenden Göttin Ananke32, widmet der Autor in seiner neurophysiologischen Schrift ebenfalls beeindruckende Zeilen: „Aus letzterer Verpflichtung ergab sich ja durch die Not des Lebens der Zwang zur weiteren biologischen Entwicklung.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 395) Die prekäre Stellung der Neurone zwischen „Reize[n] von außen“ und endogenen Reizen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 395) kommt ebenfalls deutlich zum Vorschein. Die Außenwelt ist für Freud mit „großen Energiequantitäten“ ausgestattet, die „aus mächtigen, heftig bewegten Massen“ bestehen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 397). Dass diese „mächtigen Massen“ die feinen und zarten Strukturen des Nervensystems bedrohen, liegt auf der Hand. Demnach werden Kategorien wie „der Eindruck“ und die „Macht eines Erlebnisses“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 393) für Freud relevant.

Die Vielschichtigkeit des von Freud im „Schreibfieber“33 entworfenen Bildes des Nervensystems wurde von einigen Forschern anerkannt: So beschreibt Sulloway Freuds Entwurf einer Psychologie als ein „Mosaik von Gedanken, Ansätzen und höchst ehrgeizigen wissenschaftlichen Bestrebungen“34, und Zvi Lothane würdigt den Text ebenfalls als „a multifaceted work“35. Siegfried Bernfeld bezeichnete Freuds früheste Theorie insgesamt als „anspruchsvoll“ und als ein weites Feld, das über das bloße „Abreagieren aufgestauter Affekte“ in beträchtlichem Maße hinausgeht36. Mark Solms und Michael Saling hingegen untersuchen den Text lediglich im Licht der Neurophysiologie, unterstreichen den fiktiven Charakter der meisten Konzepte, z.B. der Systeme Φ,Ψ und ω37, und sprechen daher dem Entwurf einer Psychologie den Rang einer neurologischen Schrift ab: „A brief analysis of the major constructs contained in the Project will illustrate that it is not a neurological model at all.“38

Was ist Freuds Entwurf einer Psychologie aber dann? Die tiefgründige Auseinandersetzung mit der Funktionsweise der Nerven und mit dem „Nervösen“ sowie der phantasievolle Charakter dieser Schrift, der besonders von Zvi Lothane betont wurde, machen den Entwurf einer Psychologie zu einem Meilenstein des zeitgenössischen Nervendiskurses und zu einem eindrucksvollen Dokument der zeitgenössischen ‚Nervenkunst‘. Der Autor führt hier nicht nur eine qualitative, subjektiv-emotionale Ebene ein, sondern lässt auch den „Nervenmenschen“ entstehen – jenen Menschen des Übergangs, der „im Schnittpunkt von Medizin, Physiologie, Psychologie, Literatur und Kunst steht“39. Indem er ein neues, dynamisches Verhältnis zwischen Psyche und Physis entwarf und sich radikal von der charakteristischen Bindung der Neurophysiologie an die Probleme des Bewusstseins und der willentlichen Aktion entfernte40, näherte sich Freud an die moderne Literatur und an die von Hermann Bahr geforderte „Mystik der Nerven“41 an. Kennzeichnend für die Auslotung der Tiefe, in der „die Nerven“ angesiedelt werden, ist etwa folgende Äußerung: „Die sensible Ψ Leitung ist nämlich in eigentümlicher Weise gebaut, sie verzweigt sich fortwährend und zeigt dickere und dünnere Bahnen, welche in zahlreichen Endstellen ausgehen […]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 407). Mystisch muten sowohl die Natur von Q42 als auch der ungeklärte Status der „endogenen Leitungen“ an, „jene[r] Bahnen, aufwelchen endogene Erregungsquantitäten aufsteigen […] Dann ist aber Ψ auf dieser Seite den Q schutzlos ausgesetzt […]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 408). Noch wichtiger ist Freuds ausdrücklicher Hinweis, dass unser Bewusstsein „von den bisherigen Annahmen – Quantit[äten] und Neuronen – nichts weiß […]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 400). Die für Hermann Bahr und die Literatur der Jahrhundertwende so zentralen Empfindungen sind in Freuds Entwurf einer Psychologie ebenfalls ein Hauptthema. Wie die Autoren der literarischen ‚Nervenkunst‘ unterstreicht auch Freud die „Flüchtigkeit des Bewußtseins“ und der Empfindungen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 402). Anders als im literarischen Diskurs aber sind Empfindungen für den Naturwissenschaftler Freud bewusst und nur „Qualitäten“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 401), deren unbewusste Quantität erst zu erschließen ist.

Im Mittelpunkt der von Freud analysierten Empfindungen steht im Entwurf einer Psychologie der Schmerz, das „Hereinbrechen großer Q nach Ψ“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 399), bei dem die Schutzmechanismen von Φ und Ψ versagen: „Der Schmerz setzt das Φ wie das Ψ System in Bewegung, es gibt für ihn kein Leitungshindernis, er ist der gebieterischeste aller Vorgänge.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 399) Der Schmerz ist ein sehr umfassendes Phänomen, das sowohl aktuelle und äußere traumatische Erlebnisse als auch Erinnerungsbilder einschließt und das Dauerschäden verursachen kann: „In Ψ hinterläßt er nach unserer Theorie, daß Q Bahnung […] macht, wohl dauernde Bahnungen, wie wenn der Blitz durchgeschlagen hätte […]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 400). Wünsche – die kontinuierliche „Summation“ von Erregung in Psi (Freud, GW, Nachtragsband, S. 414–415) – können auch Schmerz auslösen und traumatisierend wirken. Mit solchen Ideen begründet Freud im Entwurf einer Psychologie seine viel diskutierte und später besonders in Jenseits des Lustprinzips weitergeführte Traumatheorie.

Die Bewältigung der Schmerzerlebnisse, denen das Nervensystem ausgesetzt ist, erfolgt durch die Entladung der traumatisierenden Q im Affekt oder durch „reflektorische“ Tätigkeit (Freud, GW, Nachtragsband, S. 415), bei der das Ich die Besetzung von schmerzerregenden Vorstellungen abzieht. Gegen die von Ernst Mach und Hermann Bahr entworfene und für die Literatur der Jahrhundertwende charakteristische „Diskontinuität“ des Ich43 errichtet Freud bereits im Entwurf einer Psychologie seine neurophysiologisch fundierte und psychologisch motivierte Instanz des Ich – „eine Gruppe von Neuronen […], die konstant besetzt“ und eine „Organisation“ ist (Freud, GW, Nachtragsband, S. 416), welche durch „Hemmung“ der Primärvorgänge (Freud, GW, Nachtragsband, S. 417) sowie durch die Ausschaltung schädlicher Erinnerungsbilder und Wünsche dem Nervensystem Stabilität und Kohärenz verleiht. Für den Fall, dass das Ich selbst „in Hilflosigkeit und Schaden“ gerät und halluzinatorische Bilder mit „realen“ Objekten verwechselt, führt Freud das durch die ω-Neurone gelieferte „Realitätszeichen“ ein (Freud, GW, Nachtragsband, S. 420), welches dem Ich die Übereinstimmung der inneren Bilder mit der Realität signalisiert.

Freuds Entwurf einer Psychologie präsentiert das Subjekt im Griff der Nervosität und in der Krise. Obwohl es nicht allmächtig ist, verarbeitet das Ich die bedrohlichen Q-Mengen von außen und von innen, kontrolliert den „Abfluß“ traumatischer Erinnerungen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 415) und steuert das Nervensystem des Subjekts. Durch seine Urteilsfunktion und die Verbindung zur Realität setzt das Ich letztlich auch die „Mystik der Nerven“ außer Kraft und bringt Licht in die Tiefe des Nervenapparats.

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