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Franziska zu Reventlow (1871–1918)

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Sie war ‚the woman who did‘, und nachdem eine Gräfin das Zeichen gegeben, glaubten viele bürgerliche Bovarys, ‚es sei ja nichts dabei‘, und vergeudeten sich sinnlos.

Oscar A. H. Schmitz44

Die in Husum als Fanny Liane Wilhelmine Sophie Adrienne Auguste Comtesse zu Reventlow geborene Schriftstellerin, die sich später Franziska zu Reventlow nannte, während sie ihre Werke unter dem Namen F. Gräfin zu Reventlow veröffentlichte und sich durch andere auch als Gräfin Fanny verewigen ließ, hat ihre Kindheit im Gegensatz zu Lou nie idealisiert. Die tiefen Wunden, die ihr ihre strengen Eltern – vor allem eine lieblose Mutter – und autoritäre Lehrpersonen zufügten, warfen lange Schatten auf ihr Leben, denen sie auch im erotisierten Milieu der Münchner Bohème nicht entkam. Reventlow war wie Lou bestrebt, ihren Horizont zu erweitern, doch war es nicht der Drang zum Studium, der ihren Aufbruch motivierte, sondern die Sehnsucht nach dem ‚eigentlichen‘ Leben und der brennende Wunsch Malerin zu werden. Die ‚sexuelle Revolution‘, als deren Wegbereiterin Reventlow noch immer gilt, war zwar ein wichtiger Bestandteil ihrer Befreiung45, doch adelte sie diese durch ihre vornehme Herkunft und ein zeittypisches Kunst-Ideal, das sie in der Malerei zu verwirklichen suchte. Dass sie gewillt war, vorerst ein Diplom als Lehrerin zu erwerben, stand mit diesem Ziel in Zusammenhang, sollte ihr die Wahl eines Brotberufs doch gestatten, unter Gleichgesinnten der Kunst zu frönen und so ihr Leben in Nietzsches Sinn zu rechtfertigen.46 Erst als sie eingesehen hatte, dass ihr zur Malerin nicht nur das Geld, sondern auch das nötige Talent fehlte, griff sie nach der Geburt ihres vaterlosen Sohnes ernstlich zur Feder. Dies mag u.a. erklären, warum sie das eigene Schreiben als inadäquaten Beruf darstellte, der ihr mehr Mühe als Freude bereitete.

Ein Vergleich der Texte von Franziska zu Reventlow mit jenen von Lou Andreas-Salomé lässt als verbindendes Element vor allem die bereits erwähnte Abneigung gegenüber den „Bewegungsdamen“ (Reventlow) erkennen, die mit dem Mann in Konkurrenz zu treten suchen.47 Als hätten sie voneinander abgeschrieben, heißt es 1899 bei Lou: „[W]ie selten haben Frauen ‚sich‘ gedichtet, – weder unmittelbar, noch mitteilbar, durch ein weibliches Kunstwerk über den Mann oder über die Welt, wie sie ihnen erscheint“48 und im gleichen Jahr bei Reventlow: „Künstlerisches Gefühl […] ist […] etwas, was sich bei der Frau noch eher findet wie überwiegendes Denken. Und doch, – was ist denn bis jetzt auf künstlerischem Gebiet von Frauen geleistet worden?“49 Trotz ihrer individualistischen Lebensplanung, die sie in männliche Domänen vordringen ließ, beharrten beide auf einer Geschlechterbinarität, in der Gleichwertigkeit nicht Gleichheit bedeutet, und erreichten wichtige Ziele, indem sie die Nähe bedeutender Männer suchten. Dem „Vatergesicht über [ihrem] Leben“50, das Lou Andreas-Salomé noch zwei Jahre vor ihrem Tod in Freud erblickte, entspricht bei Franziska zu Reventlow der Philosoph Ludwig Klages, der sie zu ihrem autobiografischen Roman Ellen Olestjerne ermutigte und ihr im Rückblick die „einzige Heimat“ war, die sie „jemals gefunden“ hatte.51 Durch ihre öffentliche Kritik am wilhelminischen Sittenkodex52, ihre Literarisierung weiblicher Sexualität und ihre Positivierung der ehelosen Mutterschaft leistete die Gräfin indes einen Beitrag zu Debatten, die auch die Gemüter der damaligen Frauenrechtlerinnen erhitzten. Dass ihre Forderung nach sexueller Selbstbestimmung in Einklang mit Helene Stöckers neuer Ethik stand, war für „the woman who did“53 eine Bestätigung, die sie gleichzeitig verspottete und begrüßte. Sie konnte sich „über die ‚Ethisierung‘ der freien Liebe genau so lustig mach[en], wie über die bürgerlichen Vorurteile“, doch kam es ihr auch „sehr gelegen […], daß ihr haltloses Treiben durch das ‚Neue Ethos‘ […] eine Deckung erhielt in den Augen mancher guten Familien, die nicht ‚zurückgeblieben‘ erscheinen wollten“.54

Die verschiedenen Rollen, in denen Reventlow ihr Selbst zu verkörpern suchte, und die für sie maßgebenden Beziehungen zu männlichen Geistesgrößen ihrer Zeit sind vielfältig genug, um eine objektive Einschätzung ihrer Persönlichkeit zu komplizieren. War Lou als Nietzsche-Interpretin, Essayistin und Dichterin bereits eine anerkannte Publizistin, als Rainer Maria Rilke sie 1898 in München kennen lernte, umgab die „heidnische Heilige“ (Klages), „Madonna mit dem Kind“ (Rilke) und jedenfalls „einzigartige […] Frau“ (Mühsam)55 um 1900 eine Aura, die weniger ihren Werken als dem besonderen Zauber zugeschrieben wurde, den sie auf andere ausübte. Auch Rilke hat dieser Wertung zugearbeitet. Dem Auftrag, über Ellen Olestjerne eine Rezension zu schreiben, kam er nur zögernd nach, da der wahre Wert von Reventlows Leben für ihn darin bestand, „gelebt worden zu sein ohne Untergang“. Vielleicht, meinte er, verliere dieses Leben „zu sehr an Nothwendigkeit“, wenn es von dem erzählt werde, „der es gelenkt und gelitten ha[be], ohne doch daran zum Künstler geworden zu sein“. Jenes „Leichtsinns, der [ihm] nur wie ein glückliches Mimicry erschien, sich im Schweren unauffällig zu verlieren“, fand er das Buch voll, doch wirkte dieser für ihn nun „fast wie ein Anpassungsvermögen an das Oberflächlichste und Leichteste […], an das fortwährende Vergnügen, aus dem nichts entsteht“.56 Die „Nothwendigkeit“ der Erzählung attestiert Rilke in seiner an die Titelfigur gerichteten Besprechung schließlich doch noch, indem er sie „jungen Mädchen und jungen Männern“ zur Lektüre empfiehlt. Eingedenk der Schwere und Einsamkeit, durch die das gelebte Leben das Buch übertraf, preist er dieses nun als „Ereignis“, das Ellens Geschichte für seine LeserInnen so fühlbar mache wie einst für „jene anderen die Nähe Ihres Schicksals […], da es geschah.“57 Dass der Dichter junge Menschen anspornte, das Leben der Freundin nachzuahmen, mutet indes seltsam an, wenn man bedenkt, welchen Preis die enterbte, oft kranke und als Malerin erfolglose Frau, die im Alter von siebenundvierzig Jahren starb, dafür bezahlte. Dennoch scheint seine Interpretation in Reventlows Sinn gewesen zu sein, lag ihr doch der Kampf, den sie ihre Heldin ausfechten lässt, mehr am Herzen als der literarische Wert ihres Buches. Dies teilt sie einem jungen Leser mit, den sie ermutigt nie aufzugeben, „denn wir leben in einer Welt, gegen die man sich wehren muß bis aufs Blut“.58 Dabei verdient die Form des Romans durchaus Beachtung, da sie sich am Bezugsrahmen des Milieus orientiert, in dem Reventlow ein alternatives Lebensmodell suchte. Die diskursive Spannweite ihrer rückblickenden Selbststilisierung macht ihn zu einem wichtigen Zeitdokument, das heute nicht nur als Rekonstruktion biografischer Fakten verstanden wird.59

Den Bruch einer rebellischen Tochter mit ihrem aristokratischen Elternhaus zugunsten einer ungesicherten Existenz im Schwabinger Künstlerkreis präsentiert Ellen Olestjerne nicht, wie Rilkes erstes Urteil vermuten lässt, bloß als Folge von Leichtsinn und Vergnügungssucht. Am „Schnittpunkt zeitgenössischer Vielstimmigkeit und Stiltendenzen“ kombiniert der Roman den „Wille[n] zum ‚schönen‘ Leben“ mit „Leben für und als Kunst, Leben als uneingeschränktes Sichausleben, Lebensmystik, Ibsenverehrung und Nietzschekult, Kritik der Erziehung und Moral, Faszination durch die Bohème, fatalistische Schicksalsgläubigkeit, Problematik weiblicher Selbstverwirklichung und ledige Mutterschaft“.60 Bezieht Ellen die Argumente für ihre Rebellion aus dem heimlich besuchten „Ibsenklub“ sowie aus den Schriften der Sozialisten August Bebel und Ferdinand Lassalle, so legitimiert vor allem Nietzsche ihren Wunsch, aus familialer und gesellschaftlicher Enge in imaginäre Weiten zu gelangen. Die Heldin und ihr Lieblingsbruder Detlev, der Nietzsches Zarathustra nach Hause bringt, rezipieren das Buch mit rauschhafter Begeisterung:

Sie bebten beide – der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne – jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los […]. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen – es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte – brausend, berauschend, überwältigend.61

Also sprach Zarathustra wird für die Geschwister „ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten.“ Nietzsches Aufruf zur Selbstbefreiung und Ibsens innovative Gestaltung weiblicher Lebenskrisen ‚weihen‘ schließlich den Weg der Heldin in die Münchner Bohème, wo sie als angehende Malerin und Praktikantin der freien Liebe in das heidnische Lebensgefühl ihrer männlichen Vorbilder einschwingt. Nach beruflichen und privaten Enttäuschungen, die ihren Kunst-Traum platzen lassen, bekennt sie sich als unverheiratete Frau zum Ideal der Mutter-Kind-Dyade, die einen Dritten ausschließt. „Mein Kind hat keinen Vater, es soll nur mein sein“62, schreibt sie in ihr Tagebuch. Ohne geistige Väter ist indes weder die ‚Geburt‘ des Romans noch die stilistische Erhöhung der Mutter-Rolle denkbar, in die sich die Heldin flüchtet. Förderte Klages die Produktion des Buches durch Ansporn, Trost und Bestätigung, so sanktioniert Nietzsche auf fiktionaler Ebene den von Ellen gewählten Ausweg. Zarathustras oft zitierte Reduktion der Frauenfrage auf ein biologisches Problem – „Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am Weibe hat Eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft“63 – findet bei Reventlow eine positive Resonanz, kommt es Ellen doch vor, „als ob mit dem großen Rätsel, das sich in [ihrem] Körper vollendet, auch all die andern Rätsel sich lösten …“.64

Aus der Nietzsche-Rezeption in Ellen Olestjerne geht bereits hervor, wie leicht es Reventlow fiel, sich männlichen Projektionen anzupassen, gegen die sie sich auch in ihrer Beziehung zu Klages erst spät zu wehren begann. Im Schwabinger Kreis der sogenannten Kosmiker um ihn, Alfred Schuler und Karl Wolfskehl verschwand ihre

Persönlichkeit vorerst hinter der Hetären-Fantasie, die ihre Freunde aus Bachofens Mutterrecht ableiteten65 und deren modernisierte Form auch Reventlow zum weiblichen Ideal erhob. An Klages Seite fand sie als ‚Königin von Schwabing‘ Zugang zu der okkulten Runde, die Stefan George nahe stand und die ihre enthemmte Lebensweise sanktionierte: „Die Enormen, wie sich die Kosmiker nach Klages nannten, sahen sich als Eingeweihte, da sie sich selbst zu den wenigen zählten, die zum erotischen bzw. dionysischen Rausch noch fähig waren.“66 Wie sehr Reventlow an der Inkarnierung fremden Begehrens in oft parallel laufenden Partnerschaften dennoch litt, geht – vor allem im Hinblick auf Klages – aus ihren Tagebüchern hervor. Sie spiegeln die Zerrissenheit einer narzisstisch gestörten Frau, deren Liebesleben „nur vordergründig unkompliziert war, da es sich in überwiegend quälenden Beziehungsmustern äußerte“.67 Eine Waffe hatte die Gräfin aber in der Hand, die ihr erlaubte, sich im Rollenspiel der Geschlechter als Subjekt zu behaupten: die Ironie. Hatte sie durch Beiträge zur satirischen Wochenschrift Simplicissimus68 so wie zu anderen Publikationen schon früh versucht, sich über Witz und Persiflage zu profilieren, so erlaubte ihr die geografische und persönliche Distanz zum Münchner Kreis, die sie ab 1910 in der Schweiz gewann, Schwabing als „Wahnmoching“ – den Namen soll ihr Sohn erfunden haben69 – aus einer überlegenen Perspektive zu verspotten. Als geistreiche Chronistin der Bohème brilliert sie im Roman Von Paul zu Pedro aus dem Jahre 1912 und in Hern Dames Aufzeichnungen, die ein Jahr später erschienen.70 Ihre originelle Satire Der Geldkomplex, in der sie die Psychoanalyse und das finanzielle Fiasko ihrer Scheinehe mit einem baltischen Baron ironisiert, spielt dagegen auf ihre Zeit in Ascona an, wo sie die letzten Jahre ihres kurzen Lebens verbrachte.71 Die Schwabinger Texte, die wichtige Aspekte eines Zeitgeists in Erinnerung rufen, sollen abschließend vorgestellt werden. Möge ihre Würdigung zu einer Neubetrachtung des Reventlow’schen Schaffens anspornen.

Die stilistischen Unterschiede zwischen Ellen Olestjerne und den Amouresken, die Reventlow in ihrem undatierten Briefroman Von Paul zu Pedro beschreibt, sind erheblich. Neben dem ironischen Ton, in dem sich hier eine Frau an einen „liebe[n] Freund“ oder „Doktor“ wendet, um verschiedene Liebhaber Revue passieren zu lassen, frappiert im Vergleich mit dem früheren Werk die überlegene Haltung der Ich-Erzählerin. Als begehrenswertes Objekt distanziert sich die Briefschreiberin vom Besitzanspruch der Männer, indem sie letztere gemäß der ihnen zugeordneten „Amouresken“ kategorisiert. Die „Päule“ stehen dabei für flüchtige Abenteuer, die sich stets wiederholen und ohne Konsequenzen bleiben, während die anderen Männer-Typen komplexere Verhaltensweisen auf den Plan rufen. Von Paul zu Pedro scheint der einzige Text der Reventlow zu sein, über den sich ein direkter Bezug zu Lou Andreas-Salomé herstellen lässt. Unter ihren zahlreichen Rezensionen findet sich auch eine über diesen Roman, die zu seiner Bewertung herbeigezogen werden kann.72 Woran Lou als Kritikerin Anstoß nimmt, ist die Tatsache, dass „der Frau im Briefbüchlein etwas Lebenswesentliches, worüber man sich selbst vergessen könnte, weder in- noch außerhalb des ‚Amourösen‘ aufgeht“.73 Während der Ich-Erzählerin bei den „gewollten und ungewollten Selbstaufdeckungen“ der Autorin die Rolle einer frivolen Buchhalterin ihrer Männergeschichten zu gefallen scheint, stört Lou eine „Liebesliteratur“, deren „Trivialität“ ein „dummes, ganz echtes Entzücken“ nicht zulässt.74 Was Lou übersieht, ist die Funktion dieser Trivialität in der subversiven Selbstinszenierung, die Reventlow etwa am „Retter“, an der „Begleitdogge“, am „Krawattenmann“, am „Dichter“ oder am „fremden Herrn“, festmacht: Sie dient der emanzipatorischen Umkehrung geschlechtsspezifischer Rollen, die ihr im realen Leben keineswegs gelang, die sie aber schreibend in eine ironische Form zwingen konnte. Was Klages als „Retter“, Rilke als „Dichter“ oder der Rechtsanwalt Albert Frieß als „fremder Herr“ für sie tatsächlich bedeuteten, ist darin nicht zu erkennen. Während Lou die „Liebesliteratur“ ihrer Kollegin nicht als Therapeutin beurteilt, sondern sie zu ihrem Nachteil an männlichen Werken dieser Gattung misst, verweist die Autorin des Romans auf den Versuch einer ‚Selbst-Heilung‘, wenn ihre Ich-Erzählerin feststellt, dass sich rückblickend „die tragischen und die heiteren, seriöse Dauersachen und flüchtige Minnehändel – wie sie sich nacheinander, nebeneinander und durcheinander abspielten“, „ganz von selbst zur schönsten Harmonie zusammen[finden]“.75

In Herrn Dames Aufzeichnungen erkannten schon Reventlows Münchner Freunde ein kulturelles Dokument besonderer Art. Dieses Buch, das den Kosmiker-Kreis persifliert, ist auf Grund seiner außerfiktionalen Bezüge noch immer ein wichtiger Schlüsselroman. Aus einer ironischen Perspektive beleuchtet es ein kurzlebiges, aber symptomatisches Phänomen des Fin de Siècle, das den Nährboden für unheilvolle Entwicklungen abgeben sollte. Die „beste Quelle, fast bis ans Tatsächliche heran, jedenfalls doch für Stimmung und Luft der Epoche“ nannte der jüdische Schriftsteller Karl Wolfskehl den Roman noch in seinem neuseeländischen Exil.76

Dass der „Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen“ in der Welt der Kosmiker unvermeidbar war, hat Schmitz in seinen Erinnerungen deutlich belegt77, und es ist denn auch ihre groteske Seite, die in den Aufzeichnungen zum Tragen kommt. Hier „lernt man dieses ‚Wahnmoching‘ kennen mit seinen Riten und Ekstasen, seiner Verstiegenheit und seiner Geheimsprache“, schreibt Erich Mühsam über Reventlows „ebenso liebenswürdige wie schonungslose Verhöhnung des reinen Ästhetentums, das sich zufriedengab, wenn es die großen Probleme der Menschheit in ein klingendes Wort und ein genießerisches Seufzen eingefangen hatte.“78 Der in Ascona erwachte Wunsch die „Enormen“ – vor allem Klages, Schuler und Wolfskehl – sowie den George-Kreis in einem Buch zu verspotten, veranlasste die inzwischen ernüchterte Reventlow, sich mit der kosmischen Weltanschauung gründlicher auseinanderzusetzen, als sie es in der Rolle der Hetäre getan hatte. Bei ihrem Projekt war ihr diesmal der jüdische Philosoph Paul Stern behilflich, der sich später den Nazis entzog, indem er sich das Leben nahm. Bevor Reventlow die „geistige Bewegung“, als die sich das exzentrische Schwabing einst ausgab, fiktional verwerten konnte, musste ihr Stern z.B. erklären, warum alles „mit Ur-„ und „ mit Blut“ für die Kosmiker so „enorm“ war.79 Reventlows distanzierte Karikierung von authentischen Menschen und Momenten aus der Sicht eines naiven Beobachters macht Herrn Dames Aufzeichnungen zu einem Roman, der an Unterhaltungswert bis heute nichts eingebüßt hat. Die eingewobene Kritik, die vor allem den Größenwahn und den Antisemitismus der Figuren Hallwig (Klages) und Delius (Schuler) trifft, ist dabei scharf genug, um die ethische Absicht der Autorin sichtbar zu machen. Ihr expliziter Wunsch, den „persönlichen“ Klages zu schonen80, schränkt dessen Abbild aber so weit ein, dass seine rassistisch getönte Metaphysik über die Aufzeichnungen hinaus einer kritischen Einschätzung bedarf.

Fin de Siècle

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