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Literarische ‚Nervenkunst‘ oder
„wenn die entzügelten Nerven träumen“44
ОглавлениеWie Freud verband auch Hermann Bahr die Nerven mit den „Grenzen des Bewußtseins“45, als er schrieb: „jeder [seelische] Prozeß wird ganz auf den Nerven und in den Sinnen vollzogen und das Bewußtsein wird erst von dem Resultate verständigt, wenn es bereits entschieden und unwiderruflich ist.“46 Er verlangt eine neue Methode der Darstellung „alles dieses Wunderlichen und Seltsamen in uns“, das sich „vor der Schwelle der Besinnung“ vollzieht47. Hermann Bahr formuliert das Programm einer „neuen Psychologie“ des „neuen Menschen“, der ganz aus „Nerven“ besteht: „Auf den Nerven geschehen [seine] Ereignisse und ihre Wirkungen kommen von den Nerven.“48 Er verkündigt die Abkehr von den „Sachenständen“ zu den „Seelenständen“49. Während Freud aber dem bewussten Denken noch weit gehende Kompetenzen einräumt und mit dem Ich eine urteilende, die „Seelenstände“ mit den „Sachenständen“ verbindende Instanz aufbaut, wertet Bahr die Vernunft ab50, drängt zur Verinnerlichung und fordert, sich dem „Befehl der Nerven“51 zu ergeben. Er erhofft sich eine „jubelnde Befreiung“, „wenn sich das Nervöse alleinherrisch und zur tyrannischen Gestaltung seiner eigenen Welt fühlt.“52 An die Stelle des Ich, das für Hermann Bahr „nichts als eine launische und gänzlich grundlose Fiktion [ist], die mutig weggeworfen werden muß“, sollen die „Sensationen“ treten, die einzige „zuverlässige und unwiderlegliche Wahrheit […]“53.
Die Bedeutung Hermann Bahrs für die Herausbildung einer neuen Literatur steht außer Zweifel.54 Man darf dabei aber auch Horst Thomés Warnung nicht vergessen, dass Bahrs „neue Psychologie“ keine „präfreudianische Psychologie des Unbewußten“ darstellt, wie von Michael Worbs angenommen.55 Zwar lässt sich auch bei Bahr wie in Freuds angeblich missglücktem Entwurf einer Psychologie die Verlegung der Psychologie in die Nerven56 feststellen, wobei die Nerven jetzt mit der Tiefe assoziiert werden. Dennoch verbleibt Bahr bei dem reinen Reiz-Reaktion-Schema, sein „nervale[s] Unbewußtes“ beschränkt sich auf „partialisierte Wahrnehmungen und diffuse Stimmungen“57, während sich bei Freud neben dem Ich bereits im Entwurf einer Psychologie auch das dynamische Unbewusste abzeichnet. Demnach ist Bahrs ‚Nervenkunst‘ zum einen bloß oberflächlich58 und zum anderen wird der moderne Mensch zum ohnmächtigen Sklaven seiner „Nerven“ degradiert: „Bei Bahr sind die Figuren vollends Getriebene, die nicht nur den Bedürfnissen ihrer ‚Nerven‘ ausgeliefert sind, sondern diese nicht einmal mehr deuten können.“59
Dass diese ‚tiefenpsychologischen‘ Defizite des Programmatikers Hermann Bahr für Arthur Schnitzler nicht gelten und dass Schnitzler Sigmund Freud näher steht als seinem Kollegen Hermann Bahr, wird im Weiteren zu zeigen sein. Schnitzlers psychodynamische Konzeption wurde von Horst Thomé als „durchaus originär“ gewürdigt60. Während Thomé aber seiner Zielsetzung entsprechend nur die „alltäglichen Lebenskontexte“ in Schnitzlers Texten untersucht61, soll hier der „extreme psychische Kasus“62 in Schnitzlers Erzählung Sterben (1894)63 unter die Lupe genommen werden. Wie in Freuds Entwurf einer Psychologie spielt in Sterben die psychische Grenzsituation ebenfalls eine zentrale Rolle: Im Sinne von Freuds Entwurf einer Psychologie tritt hier eine große Quantität Q – die traumatische Nachricht vom bevorstehenden Tod von Felix – an die Protagonisten heran und bedroht deren Integrität. Zudem werden in beiden Texten psychische und physiologische Prozesse eng korreliert. Schnitzlers Sterben verfolgt sowohl den physiologischen Prozess des Sterbens als auch den psychologischen Prozess des Umgangs mit dem Sterben, der auch Überlebensstrategien einbezieht.
Um diese Prozesse zu entfalten, setzt Schnitzler nicht auf die sprengende, sofort zertrümmernde Wirkung des Traumas, sondern auf die kontinuierliche Traumatogenese und Traumaverarbeitung, die in der „Dämmerung“ des „Gartensalon[s]“ im Prater stattfinden (Schnitzler, ES I, S. 98) – einer Atmosphäre, die dem von Schnitzler favorisierten „Mittelbewusstsein“ entspricht und in der sich der Überlebenskampf abspielt64:
Sie öffneten die Tür zum Gartensalon, in dem ein paar zurückgedrehte Gasflammen fauchten. Ein kleiner Kellnerjunge hatte schlummernd in einer Ecke gesessen. Er erhob sich rasch, beeilte sich, die Gashähne besser aufzudrehen, und war den Gästen beim Ablegen behilflich. Sie setzten sich in eine Ecke, in der es recht dämmerig und traulich war, und rückten ihre Sessel ganz nahe zusammen. Sie bestellten etwas zu essen und zu trinken, ohne lange zu wählen, und waren nun allein. Nur vom Eingange her blinkten die trübroten Laternenlichter. Auch die Ecken des Saales verschwammen im Halbdunkel. (Schnitzler, ES I, S. 100)
Die erschreckende Nachricht enthüllt sich Marie nicht plötzlich: Sie betrachtet Felix, der ihr „blässer als sonst“ erscheint, sie bemerkt sein verändertes Verhalten (Schnitzler, ES I, S. 98). Der Übermittlung der erschreckenden Nachricht geht ein langes Vorspiel aus Verstellung („[…] versuchte er in sein Lächeln einen Ausdruck des Glückes zu legen“ – Schnitzler, ES I, S. 100), Verärgerung (Felix macht eine „ärgerliche Bewegung“ – Schnitzler, ES I, S. 100), weinerlicher Gereiztheit („sagte er mit fast weinerlicher Stimme“ – Schnitzler, ES I, S. 99) voraus.
Schnitzler erfasst meisterlich das ‚Spiel der Nerven‘, die vielfältigen und diffusen Sensationen dieser quälenden Augenblicke. Dass bei Felix das Trauma bereits eingeschlagen hat und seine körperliche Signatur hinterlassen hat, wird daran erkennbar, dass die traumatische Nachricht von Marie an den Augen von Felix abgelesen wird, in denen es „schimmerte“ (Schnitzler, ES I, S. 101). Der von Felix sachlich vorgetragenen Mitteilung, dass er sterben wird, folgen Beschreibungen der psychischen und körperlichen Reaktionen der Protagonisten – sie schluchzen, weinen, Marie wird totenblass. Die Kommunikation erschöpft sich in kurzen, schreckerfüllten Ausrufen – „Felix, Felix“ und „Entsetzlich! Entsetzlich!“ (Schnitzler, ES I, S. 101) Vom Versagen der Sprache ist hauptsächlich Marie betroffen: „Sie konnte nicht sprechen, sie konnte nicht fragen.“ (Schnitzler, ES I, S. 101) Für ihre Zerrüttung finden die Protagonisten keine verantwortliche Instanz, was sich in der Unpersönlichkeit der Aussagen niederschlägt: „Etwas Kaltes und Entsetzliches schnürte ihr die Kehle zusammen, bis sie plötzlich aufschrie […]“ (Schnitzler, ES I, S. 101). Die von Freud formelhaft als offene Größe formulierte Q – die das Individuum von innen und von außen bedrohende Energie – wird auch bei Schnitzler nicht konkretisiert, sondern potenziert: Sie ist das Unbegreifliche, Unfassliche und Grässliche, das hinter der traumatisierenden Nachricht steht. Viel stärker als Freud akzentuiert Schnitzler die Schäden, die durch das Trauma verursacht werden: „Sie aber, mit aufgerissenen Lidern, totenblaß, verstand nichts, wollte nichts verstehen.“ (Schnitzler, ES I, S. 101) Schnitzler entfaltet auch viel ausführlicher und eindringlicher die von Freud nur genannte „Macht des Erlebnisses“.
Der Rest der Erzählung gibt den unterschiedlichen Umgang beider Protagonisten mit dem Trauma in einer aporetischen Situation wieder: Je mehr sie sich von jenem katastrophalen Abend im Prater entfernen und die traumatische Nachricht verarbeiten, desto mehr nähern sie sich dem Augenblick, der sie vernichten wird. Diese schreckliche Zeitspanne unter dem Druck der „für Schnitzlers Erzählkunst konstitutive[n] zeitliche[n] Limitierung65, in der die entsetzliche Wahrheit den Nerven der Protagonisten äußerste Anstrengung abverlangt und unterschiedliche Reaktionen auf das Trauma sowie unterschiedliche Bewältigungsmechanismen zutage fördert, beginnt bei Felix mit vernünftigen‘ Überlegungen über den hohen Wert der Wahrheit und der Klarheit. Felix versucht, Angst und Entsetzen rational zu meistern. Daraus ergibt sich seine Entscheidung, den Rest der Zeit „so weise als möglich zu verleben“ (Schnitzler, ES I, S. 108). Marie hingegen sträubt sich mit aller Kraft gegen die traumatische Wahrheit und leugnet das Unabwendbare: „Du wirst nicht sterben, nein, nein […]“ (Schnitzler, ES I, S. 103). Ihre Reaktionen gehen an der Realität völlig vorbei: „Was sagst du da? Ohne dich werde ich keinen Tag leben, keine Stunde.“ (Schnitzler, ES I, S. 102) Maries erdrückender Schmerz wird auf die Außenwelt projiziert: „Lebendiger war es um sie geworden, laut und hell. Wagenrasseln auf den Straßen, Pfeifen und Klingeln der Trams, das schwere Rollen eines Eisenbahnzuges auf der Brücke über ihnen. Marie zuckte zusammen. All dies Leben hatte mit einem Male etwas Höhnisches und Feindliches, und es tat ihr weh.“ (Schnitzler, ES I, S. 102) Entfaltet wird ein breites Spektrum verschiedener Wahrnehmungen und Empfindungen. So geht das ursprüngliche sprachlose Entsetzen und Ohnmacht gelegentlich in das weichere, aber immer noch sprachlose, nur durch Weinen artikulierbare „Gefühl unendlicher Angst“ über (Schnitzler, ES I, S. 104). Auffallend ist hier wieder die Unbestimmtheit, die an das Pronomen „es“ gebunden ist. Meint „es“ das Leben der Außenwelt oder ihr Inneres, das ihr wehtut? Alles ist unscharf, konturenlos, Innen und Außen verschmelzen im traumatischen Schmerz. Es kommt zu einer „Entgrenzung“ zwischen Subjekt und Umwelt, bei der die Landschaft „zur Chiffre für neue Seelenzustände“66 wird. Dem männlichen Protagonisten hingegen steht die Sprache in viel höherem Maße zur Verfügung, so dass er die prägnante Metapher der „Grenze“ formulieren kann, um „das Unbegreifliche“ zu fassen: „Ich hab’ mir alles wohl überlegt. Ja gewiß. Weißt du, wie so mit einem Male die Grenze gezogen war, sah ich so scharf, so gut.“ (Schnitzler, ES I, S. 103) Felix gelingt es am Anfang trotz seiner Erschütterung, zwischen sich und Marie und zwischen ihren beiden Schicksalen zu unterscheiden und ‚Grenzen‘ zu ziehen, weshalb er zu Marie sagt: „Ich muß gehen, und du mußt bleiben.“ (Schnitzler, ES I, S. 105) Diese Grenzbildung zwischen Subjekt und Objekt, die freudianisch gesprochen bei Felix noch vom Ich geleistet wird, ist ein Indikator für die noch relativ intakte Psyche des männlichen Protagonisten in diesem Stadium der Traumatogenese und eine der von ihm eingesetzten Strategien zur Abwehr des Traumas.
Doch die Verschlechterung der körperlichen Symptome – Müdigkeit, Frösteln und Blässe – sowie die lange psychische Anspannung, die das erste Schocktrauma zusätzlich verstärkt und zu der auch das Beziehungsdrama hinzutritt, schwächen den Protagonisten. Zwar leuchtet immer wieder Hoffnung auf („War nicht alles ein böser Traum gewesen? Er selbst kam sich jetzt so gesund, so frisch vor.“ – Schnitzler, ES I, S. 105), aber der Text signalisiert mit Hilfe des Wechsels zwischen Morgengrauen und „hellichtem Tag“ (Schnitzler, ES I, S. 105) das zunehmende Schwanken der Gefühle und das Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Subjekt und der Realität. Die Reisen der Protagonisten sind Versuche der ‚Schmerzflucht‘, die sich für Felix allerdings als völlig überflüssig erweisen. Die Kahnfahrt auf dem See unter klarem Himmel, aber kurz bevor es zu regnen beginnt, verbindet einen „wunderbaren Frieden“ mit dem Gefühl der Bedrohung: „Auf der weiten, ruhigen Wasserfläche lagen leichte Nebel, und es schien, als stiege die Dämmerung langsam aus dem See empor, um sich allmählich gegen die Ufer hinzubreiten.“ (Schnitzler, ES I, S. 110) Der Versuch, „zum Philosophen“ zu werden (Schnitzler, ES I, S. 113), misslingt ebenfalls, und Felix’ Widerstandskraft bröckelt weiter. Seine Auseinandersetzung mit dem Trauma nimmt nun Formen an, die früher für Marie typisch waren. Beachtenswert ist wieder der Umgang mit dem unpersönlichen „es“. Jetzt charakterisiert auch Felix seinen Zustand mit Hilfe dieses Pronomens: „So wehrlos komme ich mir vor. Plötzlich überfällt es einen.“ (Schnitzler, ES I, S. 112) Das Es erscheint jetzt in Felix’ Aussagen sogar in substantivierter Form: „,Es‘ ist nicht von mir genommen. ‚Es‘ kommt immer näher, ich spüre es.“ (Schnitzler, ES I, S. 121) In seinem Schrecken will Felix Marie noch fester an sich binden, um die ‚Grenze‘ zu durchbrechen. Dieser Wunsch entsteht jedoch nicht aus einem Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern gerade aus der Entzweiung der Figuren. So sagt Felix auf der Kahnfahrt: „Ich habe nie geahnt […] wie schön das alles ist.“ Marie erwidert: „Ja, es ist reizend.“ „Du weißt es ja nicht“, rief Felix aus. „Du kannst es ja nicht wissen, du mußt ja nicht Abschied davon nehmen.“ (Schnitzler, ES I, S. 114) Zu einem Genuss von Licht, Schönheit und Freiheit kommt es für Felix erst wieder auf einem Waldspaziergang ohne Marie (Schnitzler, ES I, S. 116). Die Entfremdung zwischen den beiden wirkt immer bizarrer. Das „nervöse Bedürfnis“ der Protagonisten, „viel miteinander zu sprechen“ (Schnitzler, ES I, S. 123) dient der Angstabwehr, die mit dem „Es“ zusammenhängt: „Es wurde ihnen immer ängstlich, wenn sie zu reden aufhörten.“ (Schnitzler, ES I, S. 123) Die „lächerliche Komödie“ (Schnitzler, ES I, S. 123) der Kommunikation der Figuren wird nun auch von „bösen Wort[en]“ und von etwas „Lauernde[m]“ belastet (Schnitzler, ES I, S. 127). Felix ist auch nicht mehr bereit, Marie „das kommende Elend zu ersparen“ (Schnitzler, ES I, S. 123), sondern überlegt Szenarien, wie er sie in den Tod mitreißen kann.
Der Text demonstriert die allmähliche Zerrüttung der rationalen und der sittlichen Kraft von Felix (er kapituliert vor der „gräßliche[n] Angst vor dem Tode“ und erklärt männliche Tugenden wie Lächeln und Fassung für eine „Pose“ – Schnitzler, ES I, S. 144), seine moralische Desintegration im Zuge der Herausbildung eines neuen, bösartigen Willens, der sich zunehmend in inneren Monologen artikuliert und das ganze Ausmaß der durch das Trauma angerichteten Schäden enthüllt. Dieses boshafte Bewusstsein (siehe „schadenfrohes Lächeln“ – Schnitzler, ES I, S. 135) offenbart die Depersonalisation des Protagonisten und die fortschreitende Entwirklichung, bei der die „Umrisse“ verschwimmen (Schnitzler, ES I, S. 137)67, aber auch die neue Machtverteilung – nun erscheint dem sterbenskranken Felix die gesunde Marie als „Sklavin“ (Schnitzler, ES I, S. 135). Die destruktive Eigendynamik des Traumas hat Felix von einem Opfer in einen Täter verwandelt. Eine neue Einheit der Protagonisten ist nur im Würgegriff möglich.
Bei Marie nimmt die Geschichte einen anderen Verlauf. Besonders am Anfang empfindet sie viel stärker als Felix „lähmende Angst“ (Schnitzler, ES I, S. 125) und die „Hoffnungslosigkeit“ der Situation (Schnitzler, ES I, S. 126). Als auch das Beziehungsdrama seine traumatisierende Wirkung zeigt, bemüht sie sich um „versöhnliche Milde“ (Schnitzler, ES I, S. 130). Doch während sich Felix immer mehr verschließt und zurückzieht, spürt sie die „erfrischende“ (Schnitzler, ES I, S. 144) Kraft der Luft und die Lockungen des „offene[n] Fenster[s]“ (Schnitzler, ES I, S. 145). Die Kerze symbolisiert im Text Felix‘ niederbrennendes Leben und das Schwinden seiner psychischen Integrität (Schnitzler, ES I, S. 105), das Fenster hingegen verweist auf Maries Drama aus Schmerz und Wunsch und auf ihre bevorstehende Befreiung, die in kleinen Schritten und unmerklich erfolgt. Der Schmerz verwandelt sich zuerst in ein „Gemisch von Angst und Gleichgültigkeit“ (Schnitzler, ES I, S. 145), um dann dem „Gefühl lebensfreudiger Gesundheit“ Platz zu machen (Schnitzler, ES I, S. 150). Zu dieser neuen Lebenslust kommt die Protagonistin trotz Angst, Schuldbewusstsein und Schmerz, ohne rationale Überlegung und ‚Realitätsprüfung‘ (vgl. „eine ausgesprochene Unlust, zu denken“ – Schnitzler, ES I, S. 145), ohne heroische Anstrengung. Die neu erwachte Lebensfreude berieselt sie „wie aus hundert Quellen auf einmal“ (Schnitzler, ES I, S. 150). Die Wiedergewinnung des Lebens erhält bei Schnitzler jedoch kein positives Vorzeichen: So wie das Trauma in Felix den Wunsch erweckt, Marie zu erwürgen, so weckt in ihr das wiedererwachende Leben den Wunsch, er möge sterben (Schnitzler, ES I, S. 170).
Das Motiv des Grauenhaften und Grässlichen ist in Schnitzlers Darstellung des Traumas zentral, doch die von Wolfdietrich Rasch behauptete Vorliebe der Dekadenzliteratur für das Grauenhafte lässt sich hier nicht entdecken.68 Marie erwehrt sich des Grässlichen, und die Transformation des unbekannten, traumatisierenden Es in ein reales Subjekt am Ende des Textes, als ‚es‘ die konkrete Gestalt ihres Geliebten annimmt, indiziert die Überwindung des Grässlichen und die Rückkehr zum Leben. Auch wenn ihr der Ausbruch nicht sofort gelingt – er wird zuerst nur in Gedanken durchgespielt („Über ihre Seele war eine so wonnige Ruhe gekommen, wie seit lange, lange nicht. Und dann sah sie die Gestalt, die sie selbst war, sich erheben und auf die Straße treten und langsam davon gehen. Denn nun konnte sie ja hingehen, wohin sie wollte.“ – Schnitzler, ES I, S. 170), sucht sie unter dem Druck ihrer Wünsche und nach Felix‘ Angriff wirklich das Freie und „rannte zur Türe“ (Schnitzler, ES I, S. 173). Marie landet in den Armen des ärztlichen Freundes und wird es womöglich schaffen, ihre psychische Stabilität zurückzuerobern, während „es“ für Felix „dunkel“ wurde (Schnitzler, ES I, S. 175). Bedenkt man, dass Schnitzler den Leser über die Diagnose der Krankheit von Felix völlig im Dunkeln lässt, erscheint die von Marie überwundene traumatische Belastung nicht wesentlich geringer als diejenige von Felix: Beide mussten sich im Reich der durch das Trauma „entzügelten Nerven“ bewähren, wobei er unterliegt und sie sich befreien kann.