Читать книгу Fin de Siècle - Fred Lönker - Страница 7
Einleitung Moderne-Erfahrung – Blicke auf das Fin de Siècle
ОглавлениеDass die Zeit, die unpräzise als Fin de Siècle bezeichnet wird (aber auch als: Jahrhundertwende, Belle Époque), keine ‚gute alte‘ war, dass sie nicht aufgeht in der Saturiertheit der großbürgerlichen und adligen Eliten, dass sich ihr ‚Geist‘ nicht in markigen Kaiserreden und imperial-aggressiven Machtgesten ausdrückt, ist inzwischen ins Allgemeinbewusstsein gedrungen. Andere Dimensionen sind verstärkt ans Licht gekommen: die tiefen sozialen Spannungen und Spaltungen der Zeit, Unterdrückung und Emanzipationsversuche der Frauen, der Aufstieg neuer sozialer Gruppen wie der Angestellten, die Modernisierung aller Lebensbereiche durch technische Neuerungen, Industrialisierung und Urbanisierung als Motor der gesellschaftlichen Dynamik. Das Bild der Zeit um 1900 wurde in den letzten Jahrzehnten auch deshalb breiter und plastischer, weil Alltagsgeschichte und Äußerungen ‚gewöhnlicher‘ Zeitgenossen stärker in den Blick traten, neben wissenschaftlichen oder literarischen Beschreibungen zunehmend auch fotografische und filmisch bewegte Bilder.1 Gegenüber dem noch vor einigen Jahrzehnten vorherrschenden Bild des deutschen Kaiserreichs als einer zwar technologisch und ökonomisch avancierten, im Kern aber statischen und in ihren Werten rückwärtsgewandten Gesellschaft trat in der letzten Zeit das Dynamische, ja Explosive der Ära in den Vordergrund. Charakteristisch für diesen Perspektivenwandel ist etwa das viel beachtete, auf den gesamteuropäischen Kontext gerichtete Buch Der taumelnde Kontinent von Philipp Blom. Hier heißt es zum Verhältnis von nachträglicher Verklärung und unmittelbarer Erfahrung:
Die meisten Menschen, die das Jahr 1900 erlebt haben, wären erstaunt über diese nostalgische und statische Interpretation ihrer Zeit. Ihren eigenen Briefen, Tagebüchern, Zeitungen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Romanen nach zu urteilen war ihre eigene Erfahrung dieser Zeit gekennzeichnet von Unsicherheit und Erregtheit, eine rohe, kraftvolle Lebenswelt, die unserer eigenen in vielerlei Hinsicht ähnlich ist.2
Der Vergleich der Jahrhundertwenden, die Bildung historischer Analogien erscheinen gerade aus heutiger Sicht reizvoll, und diesem Reiz verdankt sich wohl auch der erstaunliche Verkaufserfolg von Florian Illies’ 19133, einem Buch, das mit einer Vielzahl von Beobachtungen und Aperçus das Ende der Vorkriegsepoche illustriert. Der große Knall, die ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts steht unmittelbar bevor, die für das Jahrhundert grundlegende historische Zäsur, aber die erste Stufe gesellschaftlich-kultureller Modernisierung ist bereits zu Ende. Es mag ein wenig übertrieben sein, wenn es im Klappentext zu Bloms Buch heißt: „In den rund 15 Jahren zwischen der Weltausstellung von 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs durchlebte Europa einen Taumel, der Alltag, Kunst, Wissenschaft und Politik erfasste. Das moderne Europa entstand […].“ In Hinsicht auf Mentalitäten und kollektive Gefühlslagen lässt sich dieser Aussage jedoch kaum widersprechen. In vielen Äußerungen der Zeitgenossen, in wissenschaftlichen, künstlerischen wie medialen Diskursen ist die Rede von Irritationen angesichts der Zumutungen der Moderne, neuen Ansprüchen an Wahrnehmung und Fähigkeiten zur Lebensbewältigung. Auffällig besonders, wie oft und wie nachdrücklich die Beschleunigung thematisiert wird, die dem Einzelnen ihren Rhythmus aufzwingt. Der ‚Tempo-Virus‘ befällt die Stadtbewohner, mal gefeiert als Zeichen unaufhaltsamen Fortschritts, dann wieder beklagt als Verlust und Bedrohung des Individuums – kulminierend in den Folgeerscheinungen der Nervosität, Neurasthenie oder Hysterie, deren Diagnose und Therapiemöglichkeiten zum Spezialgebiet von Medizin und Psychologie werden.4 So erscheint die „Nervosität als der Preis des Fortschritts“5, deren mannigfache Ausprägungen allerdings bereits im Verlaufe der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert zum Thema von Traktaten und literarischen Texten geworden waren. Endzeitstimmung, Entartungsvisionen, Degenerationsphantasien stellen sich ein, Max Halbe sieht in der Rückschau einen Zusammenhang von „Dekadenz, Fin de siècle, Abstieg und Ausklang, Gewitterschwüle, Unheilsahnen“6. Hermann Bahr, für die Stimmungen der Zeit stets empfänglich, sagte in seinen Studien zur Kritik der Moderne bereits 1894 das Ende der Epoche voraus und erahnte den Beginn einer neuen: „[…] die enge Welt ist erschöpft, und das karge Futter, das sie den Sinnen gewähren kann, ist verbraucht. Wir finden keine neuen Reize für die alten Sinne und Nerven mehr; wie wäre es, wenn wir einmal für die alten Reize es mit neuen Sinnen und Nerven versuchten?“7
Dies ist Ausklang der alten Welt; andererseits aber ist es gerade die Vielzahl von neuen Reizen, die Unsicherheit hervorruft. Neue Semantiken müssen entwickelt, die verwirrenden Eindrücke geordnet und überhaupt erst der Artikulation zugänglich gemacht werden. Besonders der prototypische Großstadtbewohner ist mit dem Problem konfrontiert, sich zurecht zu finden in einer Außenwelt, die sich den traditionellen Wahrnehmungs- und Erklärungsformen zwar nicht gänzlich, aber doch in großen Teilen verweigert. Neue wissenschaftliche Ansätze versuchen hier klärend einzugreifen, Freuds Psychoanalyse, insbesondere aber auch die modernen Gesellschaftswissenschaften, die im späten 19. Jahrhundert begründet werden. Niemand hat die städtische Moderne in allen ihren Ausformungen so präzise beobachtet und analysiert wie der Kultursoziologe Georg Simmel, der ab 1900 an der Berliner Universität lehrte und der mit seinen Vorlesungen und Schriften gerade auf die kommende Generation der expressionistischen Rebellen großen Einfluss ausübte. Die moderne Großstadtbildung ist für ihn Resultat der ökonomischen und technischen Entwicklungen – insbesondere der Universalisierung des Geldverkehrs – deren Auswirkungen auf den Habitus, die Moden, Topographie und Architektur der Großstadt oder auch in der Intimität der Geschlechterbegegnungen er betrachtet. So entstehen Werke wie die Philosophie des Geldes (1900), die Philosophie der Mode (1905) oder das Kapitel zur Koketterie in dem Buch Philosophische Kultur von 1911. Simmel sieht das moderne Individuum als fragmentiert und isoliert, von der Versachlichung des Lebensvollzugs in seinen Interaktionen wie in seiner Gefühlswelt bestimmt; Simmels Reflexion ist nicht primär zivilisationskritisch, anders als vorgängige Arbeiten zum Thema wie die grundlegende Studie des Soziologen Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) oder die Schriften des Volkskundlers Wilhelm Heinrich Riehl. In Simmels Perspektive erscheint die urbane Moderne nicht stigmatisiert als Epoche ubiquitären Niedergangs oder der Degeneration, sondern sie fordert Anpassung und Neuorientierung, schafft damit dem Individuum Möglichkeiten, die sich in der modernen Stadtlandschaft auf der Grundlage von Naturwissenschaft und Technik schon teilweise realisiert haben.
In seinem berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben beschrieb und analysierte Simmel 1903 die Anforderungen des Großstadtlebens an den Einzelnen als Paradigma der Moderne, die Versuche, den beständigen Wechsel der Ereignisse und Eindrücke zu bewältigen und zu organisieren. Der Mensch als Unterschiedswesen, meinte Simmel, reagiere auf die ungewohnten Reize durch eine grundlegende Veränderung seiner psychischen Disposition: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus groß-städtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“8 Durch die geforderten Eigenschaften der Pünktlichkeit, Disziplin, Ordnung bei gleichzeitig sachlicher und distanzierter Grundhaltung vermeide es der moderne Großstädter, einem Chaos anheimzufallen, das durch die Reizüberflutung drohen könnte. Die Bedrohung der Identität als Verlust von Ordnung und Zusammenhang spricht auch aus zahlreichen anderen wichtigen Texten der Zeit, wird etwa literarisch – ebenfalls im berühmten Chandos-Brief Hofmannsthals 1903 – auf den Punkt gebracht: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“9 Die allerorten beklagte Ausdruckskrise führt allerdings nicht notwendig in resignatives Verstummen, dieses Krisenbewusstsein ist auch dynamisierendes Element bei der Neukonstruktion gerade im ästhetischen Bereich.
Die Bedrohung vertrauter Ordnungen und Gewissheiten provoziert Reaktionsbildungen unterschiedlichster Art. Die Übermacht seelenloser Technik wird gefürchtet, ebenso – und mit dieser Angst oft einhergehend – der drohende Verlust der Herrschaft des Mannes, der Untergang des aktiven, kontrollierenden Typus, gerade dieser scheint, wie die vielen schwächlichen Männerfigurationen in der Literatur nahelegen, affiziert von Krankheiten oder gar Degenerationssymptomen, von denen die geradezu inflationär thematisierte Neurasthenie nur die auffälligste ist; so zentral im öffentlichen Bewusstsein waren diese Erscheinungen, dass vom Zeitalter der Nervosität gesprochen werden konnte.10 Diese Abwehr von Moderne, Technik, Urbanität, die die gesamte Gegenwart degeneriert und unnatürlich erschienen ließ, prägt wichtige wissenschaftliche wie künstlerische Tendenzen der Zeit, eine rückwärts gewandte Heimatkunst, eine wieder aufgewärmte Romantik, Teile eines späten Klassizismus, eine nostalgische Idyllik, die besonders in der trivialen Massenliteratur ihren Ausdruck fand. Dagegen stehen gleichzeitig die Versuche der Neuerer und Avantgardisten, die nicht selten der randständigen großstädtischen Bohème entstammen. Solche inhaltlichen wie formalen Neuentwürfe, gefasst im offensiv verwendeten Begriff der Moderne, finden sich künstlerisch in den Ansätzen des Symbolismus, der Dekadenz, auch in der Theateravantgarde; diese jugendlichen Neuentwürfe kulminieren in den Versuchen der expressionistischen Künstler und Literaten, die in der Mitte des ersten Jahrzehnts provokant hervortreten, und finden ihren radikalsten Ausdruck in der technikversessenen, radikal fortschrittsfixierten Richtung des Futurismus, dessen Wirkung, von Italien ausgehend, auch in die deutschen Großstadtzentren strahlte. Besonders deutlich zeigen sich die Kontroversen um Tradition und Modernität angesichts der neu entstehenden Medien, vor allem des Films, aber überhaupt in einer die Metropolen zunehmend dominierenden Vergnügungs- und Populärkultur, den Varietés, Cabarets und Revuetheatern Berlins und anderer Großstädte. Im Verlaufe dieser Entwicklungen bleiben auch Literatur und insgesamt die Schriftkultur nicht unberührt, mehr und mehr geht ihre hegemoniale Stellung verloren. Die wachsenden Metropolen sind Stätten des Lichts und des Sehens, vorgebildet in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, der Ville-Lumière, Paris. Das andere Sehen gelernt wird hier, wo der Erzähler im ersten deutschen Großstadtroman, Rilkes Malte Laurids Brigge, den neuen Blick einübt, ohne ihn entschlüsseln und auf seine Innenwelt beziehen zu können:
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.11