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Die Polizei

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musste öffentlich einräumen, auf der Stelle zu treten. Das fürchterliche Verbrechen, das ganz Lade aufgeschreckt hatte, schien unaufgeklärt zu bleiben. Beinahe vier Wochen waren vergangen, seit der Student Gorm Ordal seine Mutter tot aufgefunden hatte, und obwohl die Polizei jeden Stein umdrehte und die wenigen gesicherten Erkenntnisse von allen Seiten betrachtete, sogar mehrmals mit denselben Personen sprach, gab es einfach nichts Neues, das die Nachforschungen in die richtige Richtung hätte lenken können. Alle Wege mündeten in eine Sackgasse.

Die einzige konkrete »Spur« waren die kurzen, deformierten Zigarettenstummel, die vielleicht nicht einmal vom Täter stammten. Hauptkommissar Storm zufolge war es unmöglich, so etwas wie Fingerabdrücke auf ihnen zu erkennen. Da half es auch nicht, dass die Spurensicherung feststellte, beim Tabak handele es sich um Petterøes Blau Nummer drei. Die Lösung des Falls schien in immer weitere Ferne zu rücken.

Die Leute fanden es regelrecht peinlich, dass weder die Experten von KRIPOS noch die Mitarbeiter der Trondheimer Polizeibehörde etwas in der Hand hatten. Natürlich gab es eine große Dunkelziffer, Todesfälle, bei denen niemand Verdacht schöpfte, es könne ihnen ein Verbrechen zugrunde liegen, doch meistens fand die Polizei früher oder später den Schuldigen. Und selbst in den relativ wenigen unaufgeklärten Fällen gab es in der Regel ein paar Indizien: einzelne Haare, Fußabdrücke, zurückgelassene Waffen, ein auffälliges Fahrzeug, winzige Blutspuren oder anderes mikroskopisches Material, das Verdächtige mit dem Tatort verknüpfte. Doch in diesem Fall hatte niemand beobachtet, wie eine Person, die es sehr eilig gehabt hatte, in einen Wagen gestiegen und davongebraust war.

Alles deutete auf einen Raubmord hin, für den es nur zwei mögliche Zeugen gab – mögliche, weil keinesfalls sicher war, dass es sich bei der »männlichen Person«, die die Bankangestellte sowie der Setzer gesehen hatten, um den Mörder handelte. Vielleicht hatten sie nicht einmal dieselbe Person beobachtet, und die Polizei konnte weiterhin nicht ausschließen, dass der Täter eine Frau war. Entweder war der Mörder mit allen Wassern gewaschen oder er hatte einfach eine Riesenportion Glück gehabt.

Glück, dachte William Schrøder, hatte auch Vibeke Ordal gehabt, wenn auch nur am Anfang. Er und Ivar verwendeten viel Zeit darauf, über den Fall zu diskutieren, nicht zuletzt, weil sie in diesen stärker involviert schienen als üblich. Zum einen war der Tipp von einem ihrer Kollegen gekommen, zum anderen war einer der beiden identischen Briefe an Ivar adressiert gewesen, vermutlich weil der Absender seine Veröffentlichung in der Zeitung anstrebte.

Nach starkem Druck seitens der Polizei sowie mehreren internen Konferenzen hatte sich Chefredakteur Gunnar Flikke schweren Herzens dazu entschieden, von einer Veröffentlichung der kurzen Nachricht Abstand zu nehmen – fürs Erste. Polizeioberrat Martin Kubben hatte mit allem Nachdruck gefordert, die Zeitung solle es bei ihrer Internetumfrage: Was meinen Sie? Welche Strafe verdient der Angeklagte im Giftmordprozess? bewenden lassen. (Die peinliche Umfrage wurde nach einer Stunde gestoppt, war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon von anderen Massenmedien aufgegriffen worden.) Was war mit dem Mord am Victoria Bachkes vei? Sollte man die Bevölkerung nicht warnen? Kubben verneinte und wusste den Kriminaldirektor hinter sich, während auch der Polizeipräsident seine ganze Autorität geltend machte, um für eine Geheimhaltung des Briefes zu sorgen. Gerade weil die Mitteilung möglicherweise gar nicht auf das Konto des Täters, sondern irgendeines Trittbrettfahrers ging, weigerte er sich, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Leute würden sich grundlos gegenseitig verdächtigen, sich nicht mehr aus dem Haus trauen, ihre Türen verriegeln und in unnötige Hysterie verfallen.

Doch wenn der Mörder es ernst meinte?

Das war und blieb ein Dilemma. Sollte er ein weiteres Mal zuschlagen, würden Polizei und Zeitung einräumen müssen, von der Drohung gewusst zu haben. Doch Kubben und Storm hatten sich geschworen, ihm nicht die Freude zu gönnen, zur öffentlichen Person zu werden.

Für William war die Frage nach dem Motiv der entscheidende Punkt. Hatte der Täter von Anfang an töten wollen oder sich dazu gezwungen gefühlt, nachdem er das Geld gestohlen hatte? Handelte es sich um einen gewöhnlichen Raubmörder, einen alten Bekannten der Polizei, würde er kaum ein zweites Mal töten. Wann hatte er von Vibeke Ordals Lottogewinn erfahren, falls er überhaupt davon gewusst hatte? Angenommen, es handelte sich um einen Arbeitskollegen, der vom Gewinn erfahren hatte – wie hatte er wissen können, dass sie nach der Arbeit eine beträchtliche Summe von ihrem Konto abheben würde? Hatte er vor ihrem Büro gestanden und ihr Telefongespräch mit dem Sohn belauscht? Nein, da war es schon wahrscheinlicher, dass sich der Täter in der Bank befunden und beschlossen hatte, dem erstbesten Kunden zu folgen, der einen größeren Betrag abheben würde. Natürlich konnte es sich auch um einen Verrückten handeln, der durch die Gegend gestreift war und sich spontan für sein Opfer entschieden hatte.

William änderte seufzend seine Sitzposition. Der morgendliche Becher Kaffee war längst kalt geworden.

Falls es sich doch um einen zynischen Wiederholungstäter handelte, räsonierte er weiter – wie sollte man diesen aufspüren, da man nichts anderes über ihn wusste, als dass er offenbar, so wie die Hälfte der gesamten norwegischen Bevölkerung, über einen Computer verfügte? Da die Zeitung eingewilligt hatte, die Drohung zu verschweigen, hatte Kolbjørnsen im Gegenzug versprochen, sie über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, hatte bis jetzt aber kaum etwas mitzuteilen gehabt. Sowohl der Umschlag als auch das rote Papier konnten aus jedem beliebigen Schreibwarengeschäft stammen. Kein einziger Fingerabdruck war gefunden worden. Der Text war möglicherweise mit Hilfe eines Druckers der Marke Cannon ausgedruckt worden. Dies schien den Eindruck zu bestätigen, es handele sich um eine intelligente Person, die behutsam vorging, Handschuhe trug und Schuhsohlen besaß, die anonyme Abdrücke hinterließen. Eine Person, die nichts dem Zufall überließ. Eine Person, die in einer psychiatrischen Klinik nichts zu suchen hatte. Dennoch wollte William dorthin und hatte mit großer Mühe einen Gesprächstermin mit einem der Chefärzte vereinbaren können. Nach einem Blick auf die Uhr stand er auf und zog seine Jacke an.

»Glaubst du, der Absender ist wütend?«, fragte er Ivar.

»Warum sollte er das sein?«

»Weil wir den Brief nicht veröffentlicht haben.«

Ivar zuckte die Schultern. »Das wird sich zeigen. Vielleicht erhalte ich ja bald eine Mahnung von ihm.«

Oder eine weitere Frau wird ermordet, dachte William. »Kommst du mit ins Krankenhaus?«

»Nein danke. Das bringt mich nur durcheinander, weil ich den Unterschied zwischen den autorisierten Seelenklempnern und den Patienten nicht erkenne. Außerdem glaube ich nicht, dass Herr X dort zu Hause ist.«

Das tat William auch nicht. Dennoch fand er es interessant, einen Einblick in das Leben hinter den Mauern zu bekommen. Auch die Leser hatten ein Recht darauf, solange sich Gerüchte hielten, der Mann sei direkt aufs Krankenhaus zugelaufen. Obwohl die Existenz eines gewissen Briefs vertuscht wurde, konnte die Polizei einen Journalisten nicht daran hindern, einen Fachmann zur psychischen Struktur eines Serienmörders zu befragen.

»Wenn du in zwei Stunden nicht zurück bist, gebe ich eine Vermisstenanzeige auf«, sagte Ivar grinsend, als William das Büro verließ.

Das Außenthermometer zeigte fünf Grad plus, es herrschte Tauwetter. Typisch, dachte William lakonisch, als er sich ins Auto setzte. Es war der 9. Februar. Wenn er an das merkwürdige Winterwetter der letzten Jahre dachte, fragte er sich oft bekümmert, ob die Klimaforscher nicht Recht hatten, doch in diesem Moment dachte er ausschließlich daran, dass sich an irgendeinem Ort, vielleicht ganz in der Nähe, ein Mörder befand, dem die Polizei nicht auf die Spur kam. Gestern Nachmittag war er in einer Buchhandlung gewesen und hatte sich – beinahe verstohlen – ein Exemplar der New Encyclopedia of Serial Killers gekauft, doch bis jetzt hatte er nur ein wenig darin blättern können. Sollte der berechnende Verrückte einen weiteren Mord begehen, würde vielleicht ein gewisses Muster deutlich, nach dem der Täter vorging – ein abnormes Muster, versteht sich.

Ihn schauderte, als er auf die E6 abbog. Im nächsten Augenblick fragte er sich, warum er sich aufgrund des anonymen Briefs fortwährend düstere Theorien ausmalte. Weil er wollte, dass es so war? Weil er bereits ahnte, dass weitere Morde geschehen würden? Weil er begonnen hatte, von Blut zu träumen?

Vor zehn Tagen hatte er sich an seine Kollegin Halldis Nergård gewandt und ihr von seinem Besuch bei der Familie Danielsen in Risvollan berichtet. Er hatte ihr ebenfalls erzählt, dass Solveig die Berichterstattung über alltägliche Gewalt für absolut unzureichend hielt. Sie hatte aufmerksam zugehört, worauf er in der letzten Ausgabe ihrer Wochenzeitung zwei kenntnisreiche und gut geschriebene Artikel von ihr zu diesem Thema entdeckte. Vielleicht waren sie nur eine Reaktion auf den fortdauernden Giftmordprozess, dessen Tat sich ebenso gut auf Hass wie auf Eifersucht zurückführen ließ, doch William war dies einerlei. Hauptsache, den Menschen wurde in puncto familiärer Gewalt die Augen geöffnet, damit sie begriffen, dass dieses Thema jeden betreffen konnte und jeden etwas anging. Er hatte Halldis zu ihren Artikeln gratuliert. Sie selbst glaubte, ein wenig zur Aufklärung beigetragen zu haben, zweifelte aber an einer vorbeugenden Wirkung. Die Frage war, ob sich die psychische Struktur des Menschen überhaupt beeinflussen und verändern ließ, ob die individuelle seelische Veranlagung nicht vielmehr genetisch festlag und es sinnlos war, die eigenen Triebe und Bedürfnisse zu verleugnen. Ebenso sinnlos vermutlich wie der Versuch, einem Drogenabhängigen im Zuge der Therapie den Aggressionstrieb zu nehmen. Zwangsmaßnahmen waren der letzte Ausweg und kamen in der Regel erst zur Anwendung, wenn die Katastrophe bereits geschehen war. Anders ausgedrückt: War es moralisch vertretbar, auf den vagen Verdacht hin, der Nachbar misshandele seine Kinder, die Behörden zu informieren?

Es ärgerte William, dass er sich immer wieder mit einer Frage beschäftigte, die er nicht lösen konnte, und so versuchte er sich bewusst auf etwas anderes zu konzentrieren. Er war nicht gerade ein Musikliebhaber, summte jedoch eine Melodie, die sich wie Night and Day anhören sollte, als er der ausgeschilderten Umleitung um die Stadtmitte folgte und sich Lade näherte. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er zu früh aufgebrochen und vermutlich auch viel zu schnell gefahren war. Erst in zwanzig Minuten war er mit dem Chefarzt verabredet.

Deshalb machte er noch Station beim Einkaufszentrum in Lade, das sich am Ende der Sportanlage befand, und bog auf den Parkplatz ein. Stellte den Motor ab und überlegte, ob er eine Schachtel Zigaretten kaufen sollte. Er beobachtete den Eingangsbereich. Ivar war bereits in der Bank gewesen, die sich im selben Gebäude wie das Einkaufszentrum befand, und hatte sich mit der weiblichen Angestellten unterhalten, also hatte es keinen Sinn, wenn er dasselbe tat. Ivar beherrschte sein Metier und wusste als erfahrener Kriminalreporter genau, nach welchen Details er sich erkundigen musste. Neben dem Haupteingang gab es ein kleines Vordach, unter dem die Einkaufswagen standen. Der Täter hätte sich genauso gut hier aufhalten und die Leute im Auge behalten können, die das Gebäude verließen. Er stieg aus dem Auto und schlenderte auf die Einkaufswagen zu. Ein ausgezeichneter Beobachtungsort, vor allem im Dunkeln.

Ehe er sich’s versah, war William hineingegangen und hatte sich eine Schachtel Barclays gekauft. Danach benutzte er den Anzünder im Auto und fuhr weiter. Folgte langsam dem Østmarkveien und stellte sich vor, wie der Täter sein Opfer verfolgt hatte. Was ging im Kopf eines solchen Kerls vor, wenn überhaupt etwas in ihm vorging? Rechts zweigte der Victoria Bachkes vei ab, doch er fuhr weiter geradeaus, war zuvor schon da gewesen und wollte sich in seiner Rolle als Privatdetektiv auch nicht lächerlich machen. Kreuzte langsam die Olav Engelbrektssons allé und bog in die Parkanlage ein, die im Sommer sehr hübsch, zu dieser Jahreszeit jedoch deprimierend war. Stellte das Auto auf dem großen Parkplatz zwischen den hohen Bäumen und den frei stehenden Gebäuden ab. Spazierte zum lachsfarbenen Backsteinhaus hinüber, in dem sich die Station B3 befand. Eigentlich war er mehr an der »gefährlichen« Abteilung interessiert, die weiter in den Park hineinreichte und auf der Rückseite einen umzäunten Hof, jedoch keinerlei Arztbüros aufwies. Er hatte gerade seine Zigarette gelöscht, als eine weiß gekleidete Frau in der Tür erschien.

Er wunderte sich, wie sauber und ordentlich das Gebäude von innen wirkte. Warme Farben und Topfpflanzen, niedrige Tische und bequeme Stühle. William stellte sich vor und sagte, er sei mit Jomar Bengtsen verabredet. Er glaubte, er würde sicher eine Weile warten müssen, doch sie lächelte ihn sofort mit einem Folgen-Sie-mir-Blick an und führte ihn an einer Sitzgruppe vorbei, wo einige Männer saßen und Kaffee tranken. Er ging davon aus, dass es sich um Patienten handelte, doch weder Aussehen noch Kleidung ließen auf ihren Geisteszustand schließen; auch sah er keine dumpfen Blicke, die verrieten, dass sie sich in einer anderen Welt befanden.

Dr. Bengtsen hingegen, ein stattlicher Mann in den Fünfzigern mit ungebändigten, abstehenden Haaren, machte auf den voreingenommenen William einen dubiosen Eindruck. Mit den tief liegenden Augen und seiner bunten Jacke hätte er durchaus zu den Patienten gehören können. Vielleicht verhielt es sich wirklich so, wie viele – Ivar inklusive – behaupteten: dass Leute sich gern zu Psychologen oder Psychiatern ausbilden ließen, um den eigenen psychischen Problemen auf den Grund zu kommen.

Die Stimme passte allerdings zu einem professionellen Mediziner. Der Händedruck war warm und fest, und sobald er seinen Gast in einem bequemen Stuhl seines gelb gestrichenen Büros im Dachgeschoss hatte Platz nehmen lassen, setzte er sich ihm gegenüber und verkündete, er habe nur dreißig Minuten Zeit.

»Ich möchte nicht unhöflich sein, Herr Schrøder, aber ich habe schrecklich viel zu tun.«

»Das verstehe ich gut.«

»Ein generelles Interview, sagten Sie, oder geht es um die irrige Annahme, wir hätten einen Mörder in unserem Haus?«

»Weder noch ...« William legte seinen Notizblock auf den niedrigen Tisch und zückte seinen Kugelschreiber.

»Die Polizei war schon hier, zusammen mit einer Bankangestellten und einem Setzer von Ihrer Zeitung. Sie bekamen die Erlaubnis, sich auf Station VII umzusehen und mit allen männlichen Patienten zu sprechen. Vermutlich glaubten sie, dort den Tatverdächtigen wiederzuerkennen.«

»Das war nicht der Fall?«

»Gott bewahre, nein. Und jetzt hoffe ich sehr, dass uns der lange Arm des Gesetzes in Frieden lässt.«

»Sie halten es also für völlig ausgeschlossen, dass einer Ihrer Patienten einen Mord begehen könnte?«

Der Psychiater rollte so wild mit den Augen, dass William am liebsten seinen Blick abgewandt und die nackten Baumkronen vor dem Fenster betrachtet hätte, doch er konnte sich beherrschen.

»Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, Herr Schrøder. Bei psychisch Kranken ist nichts auszuschließen. Aber ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, die Umstände in Betracht gezogen.«

»Es gibt auch Patienten, die zu Gewalt neigen, verstehe ich Sie da richtig?«

»Aber ja. Falls gewisse Voraussetzungen gegeben sind und sich eine Gelegenheit bietet. Aber das ist bei uns nicht der Fall!«

»Ich verstehe.«

»Tun Sie das?«

»Natürlich. Im Grunde bin ich auch mehr an Ihrer Meinung hinsichtlich der Handlungsmuster eines Mörders interessiert, seines ... wie soll ich mich ausdrücken ... seines Modus operandi.«

Hatte er sich eingebildet, mit dem Arzt auf gleicher Augenhöhe diskutieren zu können, indem er sich eines lateinischen Ausdrucks bediente, unterlag er einem peinlichen Irrtum. Das Einzige, was beiden gemeinsam war, waren ihre Brillen. Der Arzt breitete abrupt die Arme aus, während seine Augen hinter den Gläsern fast aus ihren Höhlen kullerten: »Du lieber Himmel, woher soll ich denn das wissen? Es wimmelt doch nur so von Handlungsmustern, und keines gleicht dem anderen.«

»Nun, einige gemeinsame Merkmale, zum Beispiel bei Serienmördern, wird es doch sicherlich geben.«

»Aha, Sie wollen also andeuten, dass der Mann, den die Polizei sucht, weitere Morde begehen könnte?«

William ruderte zurück. »Nein, nein, das war eine generelle Frage.«

»Die von einem Mann mit so geringer Erfahrung, wie ich sie habe, nicht zu beantworten ist. Zwar habe ich schon Menschen kennen gelernt, die getötet haben, aber nicht von der Sorte, an die Sie denken.«

Es folgte ein längerer Vortrag, und William schrieb eifrig mit. Er fühlte sich wie ein Student in einem Hörsaal, wie ein Laie, der versuchte, eine Theorie zu verstehen, ohne die nötigen Vorkenntnisse zu besitzen. Doch einiges begriff er.

Bei einzelnen psychisch gestörten Menschen, dozierte Bengtsen, seien die üblichen Barrieren und Tabus nicht vorhanden. Ethische Normen im Umgang mit anderen Menschen könnten dann außer Kraft gesetzt sein, und das Empfinden von Gut und Böse variiere je nach der augenblicklichen Situation, sofern der Betreffende überhaupt ein bewusstes Verhältnis zu seiner Umwelt habe. Der Journalist sollte wissen, dass solch asoziales Verhalten auch bei so genannten gesunden Menschen vorkomme. Ein Psychopath sei nicht unbedingt geisteskrank in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, aber dennoch zu den perversesten Handlungen imstande. Im Gegensatz zu psychisch Kranken seien sich dissoziale Menschen über ihr Verhalten im Klaren, nur nicht imstande, sich über ihre ererbten, egoistischen Instinkte hinwegzusetzen.

Bengtsen erging sich in langen Exkursen. Und versuchte William das Dilemma seines Berufsstands zu verdeutlichen. In den USA sei es beispielsweise verboten, bei psychisch Kranken das Todesurteil zu vollstrecken, unabhängig davon, wie ungeheuerlich ihre Verbrechen seien. Einer, der wegen Mordes auf seine Hinrichtung warte, heiße Claude Maturana. Warte in Anführungszeichen, denn er sei geistig so verwirrt, dass er kaum das Urteil zur Kenntnis genommen habe. Sei es moralisch vertretbar, den Mann zu behandeln, nur damit er eines Tages auf dem elektrischen Stuhl lande?

»Ich schenke genetischen Erklärungsansätzen einfach keinen Glauben«, sagte Bengtsen abschließend, »wenn es um Mörder geht. Sie kennen doch sicher den Sozialpsychologen Stanley Milgram.«

»Ein wenig.«

»Seiner Meinung nach kann jeder, absolut jeder unter gewissen Bedingungen zum Mörder werden. Denken Sie nur an Hitler-Deutschland. Ich halte Milgrams Theorien für stichhaltiger als die von Adrian Raine, einem anderen Amerikaner, der behauptet, mörderische Hirne hätten eine besondere Struktur. Solche Gehirne zeigen angeblich eine geringere Aktivität in dem Teil, der negative Impulse verarbeitet. Daher könnten die betreffenden Personen ihre Aggressionen nur unzureichend kontrollieren. Nun ja, ich will diese Möglichkeit nicht völlig ausschließen, aber ...«

»Ist eine Heilung gewisser Patienten unmöglich?«

»Manchmal ja, auch wenn es sich nicht um eine Geisteskrankheit handelt. Wachsen Kinder unter furchtbaren Umständen auf, werden aus ihnen mitunter die schlimmsten Verbrecher. Kindliche Traumata können zu asozialem Verhalten führen. Doch auch gesunde, erwachsene Menschen können sich zu Mördern entwickeln, wenn sie zum Beispiel verinnerlicht haben, dass Konflikte am besten durch Gewalt zu lösen sind.« Er warf einen Blick aus dem Fenster, während sich seine Stirn in Falten legte. »Vor Jahren habe ich einen interessanten Fall erlebt: Ein zuvor gesunder Mann bekam unheilbare psychische Probleme, weil er gemordet hatte. Doch Sie werden verstehen, Herr Schrøder, dass ich Ihnen unmöglich eine allgemeine Charakteristik geben kann, schon gar nicht in Bezug auf einen Mörder, der mir völlig unbekannt ist.«

Vielleicht hatte er das schon getan, dachte William hinterher. Selbst ein kompetenter und ein wenig exzentrischer Arzt wie Jomar Bengtsen konnte nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass einer seiner Patienten ein Mörder war.

Das Gespräch, besser gesagt der Monolog des Mediziners, wurde durch das zweimalige Piepsen seines Handys unterbrochen und nach exakt dreißig Minuten beendet. An den Maßstäben eines Interviews gemessen, war es allzu sprunghaft und kurz gewesen, was oft der Fall war, wenn der Interviewer nicht genau wusste, was er wollte. Für William gab es wenig festzuhalten und noch weniger, was für tausende von Lesern von Interesse gewesen wäre. Dennoch hatte Bengtsen ein paar Dinge erwähnt, denen William mehr Beachtung hätte schenken sollen. Etwa über den Sozialpsychologen Milgram und die asozialen Impulse scheinbar normaler Menschen. Oder waren diese Worte an anderer Stelle gefallen?

Als er nach Heimdal zurückkehrte, saß Ivar vergnügt in der Kantine. William schilderte ihm in Kürze seine ambivalenten Eindrücke und gab eine Beschreibung des Interviewpartners.

»Ist ja auch kein Wunder, dass Leute von ihrem Arbeitsumfeld beeinflusst werden«, entgegnete Ivar.

»Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben.«

»Wie auch immer, während du zur Vorlesung bei Dr. Valium warst, habe ich einen Anruf vom Präsidium bekommen. Kolbjørnsen hat mitgeteilt, dass eine der Banknoten aufgetaucht ist.«

»Wo?«

»In einem Lokal in Lademoen namens Pizza-Burger-Top. Es liegt am Mellomveien. Eine Polizeibeamtin, Maria soundso, war dort und hat aus Mitleid ein paar Hamburger für eine arme Familie gekauft. Kannst du dir das vorstellen?«

»Maria Senje. Als ich sie letztes Mal gesehen habe, las sie gerade aus Peter Hase vor.«

»Zum Bezahlen hatte sie nur einen Tausender und bekam einen nagelneuen Fünfhunderter zurück. Man kann ja nie wissen, dachte sie und verglich die Nummer mit der auf der Bankliste. Volltreffer! Der litauische Inhaber konnte ihr sogar mitteilen, dass er den Schein von einer Frau aus der Nachbarschaft habe, die wenige Minuten zuvor bei ihm eingekauft hatte. Am Morgen haben Kolbjørnsen und Balke ihr einen Besuch abgestattet ...«

»Kennst du ihren Namen?«

»Ja, Kolbjørnsen war offenbar der Meinung, wir hätten eine Gegenleistung verdient. Die Fast-Food-Liebhaberin heißt Britta Olsen und hat einen Frisiersalon in der Østersundsgata. Sie glaubte sich daran erinnern zu können, den Schein gestern Vormittag bekommen zu haben, und zwar von einem männlichen Kunden, den sie nie zuvor gesehen hatte. Angeblich war er nicht sehr gesprächig, aber dem Dialekt nach kam er aus Nordland. Außerdem hat sie eine ziemlich genaue Personenbeschreibung gegeben: um die fünfzig, dünnes, dunkles Haar, kräftig gebaut, circa eins achtzig groß ...«

»Na großartig. Diese Beschreibung passt auf mindestens tausend Leute in Trondheim.«

»Sie haben Frau Olsen aufs Präsidium geladen, damit sie sich die Fotos der Verbrecherdatei anguckt. Wenn sie den Mann nicht wiedererkennt, fertigen sie vielleicht ein Phantombild an.«

»Ist ja nicht gesagt, dass es sich um den Täter handelt. Der Schein kann schließlich durch mehrere Hände gegangen sein, bevor er in dem Fast-Food-Laden landete.«

»So weit wird vermutlich sogar die Polizei denken«, kommentierte Ivar.

»Dass er in Lademoen, unweit von Østmarka, auftauchte, könnte aber darauf hindeuten, dass sich der Täter in der Nähe aufhält.«

»Exakt. Hab schon eine kurze Notiz verfasst. Kolbjørnsen sagte, Storm sei plötzlich auch der Meinung, man solle einen knappen Hinweis in die Zeitung setzen. Hat sich wohl an die alte Regel erinnert, dass die Leser die besten Detektive sind. Außerdem kam gerade die Nachricht über den Ticker, es gebe drei Morddrohungen gegen Prominente.«

William las die Nachricht, als sie wieder in ihrem gemeinsamen Büro waren. Die Drohungen richteten sich in allen drei Fällen gegen Gewerkschafter, darunter auch gegen den Vorsitzenden Yngve Hågensen: Wir machen dich fertig. Du sollst krepieren, hågensen. Das klang schon sehr viel konkreter als Sie war die erste.

»Unterzeichnet mit 88 ... Neonazis!«

»Wie kommst du denn da drauf?«, fragte Ivar, indem er sich seinen Bart kratzte.

»H ist der achte Buchstabe des Alphabets. HH bedeutet Heil Hitler.«

»Oder Heinrich Himmler. Nazis sind Rassisten, nichts anderes. Ich frage mich, was für ein Gefühl das für den Gewerkschaftsboss ist.«

»Wird doch kaum seine erste Morddrohung gewesen sein.«

»Nein, aber vergiss nicht, dass sie letztes Jahr in Schweden Ernst gemacht haben, als sie Björn Söderberg umbrachten.«

»Verdammte Schweine«, brach es aus William heraus.

Vibeke Ordal war nicht mal Gewerkschaftsmitglied gewesen, ging ihm durch den Kopf. Es war sehr unwahrscheinlich, dass die Briefe von ein und derselben Person stammten. Doch gleichzeitig verrieten sie einiges über den Geist der Zeit, über die Rücksichtslosigkeit, die sich in den letzten Jahren in einzelnen Bevölkerungsschichten breit gemacht hatte. Das neue Jahrtausend fing nicht einfach da an, wo das letzte aufgehört hatte, sondern begann mit größerer Intensität denn je. Die Gewaltspirale hatte eine weitere Umdrehung gemacht.

»Warum hast du dir das Buch gekauft, Papa?«, war Heidis erste Frage, nachdem sie am Esstisch Platz genommen hatten.

»Welches Buch?«

»Das über Serienmörder.«

»Aus rein fachlichem Interesse.«

»Worum geht’s denn eigentlich?«

»Um Leute, die auf ihre Weise verrückt sind und sich in der Regel einen gewissen Menschentypus zum Opfer auserkoren haben. Das verschafft ihnen eine gewisse Befriedigung. Na ja, ich habe gerade erst angefangen zu lesen.«

Solveig stellte das Essen auf den Tisch. »Wohl bekomm’s. Ich meine das Essen. Ich habe mich auch gefragt, was du mit dem Buch willst, William. Solche Monster gibt es in Norwegen Gott sei Dank nicht, und schon gar nicht in Trøndelag.«

»Da irrst du dich. Die beiden einzigen Norweger, die in dem Lexikon erwähnt werden, sind Trønder. Belle Gunness aus Selbu hatte seinerzeit zahlreiche Menschen auf dem Gewissen, wenn auch in den USA. Und du musst gar nicht so weit zurückdenken. Erinnerst du dich etwa nicht an Arnfinn Nesset, der die Leute im Pflegeheim von Orkdal umgebracht hat?«

»Wir sind anscheinend zum Besten und zum Schlimmsten in der Lage«, kicherte Heidi.

Solveig wechselte lieber das Thema, doch als die Familie am Nachmittag Besuch von Williams Eltern Randi und Joakim erhielt, kamen sie wieder darauf zu sprechen.

Beide waren siebenundsechzig Jahre alt und wohnten nur wenige Kilometer entfernt, in Valentinlyst. Nach einem langen Berufsleben als Physiotherapeutin war Randi vor kurzem in Rente gegangen. Sie war erst neunzehn, als sie Joakim aus Kristiansand begegnet war, und nur neun Monate später hatte sie ihren Sohn William zur Welt gebracht. Joakim war als ehemaliger Polizist schon vor längerer Zeit pensioniert worden und hatte viele Jahre hindurch eine mehr oder minder verdienstvolle Position beim Geheimdienst inne. Das Ende des Kalten Krieges fiel ungefähr mit seiner Pensionierung zusammen, doch gab er sich keiner Illusion hin, dass der Hass auf den Ostblock damit der Vergangenheit angehörte. Was wieder einmal bestätigt wurde, als sie gemeinsam die Abendnachrichten sahen. Das staatliche norwegische Fernsehen schien ein ungebrochenes Interesse am Auslandskorrespondenten des Stavanger Aftenblad zu haben, der monatelang vom Geheimdienst observiert worden war, weil er im Verdacht stand, einst geheime NATO-Dokumente an die Stasi geliefert zu haben. Joakim seufzte unüberhörbar und murmelte, die Staatsanwaltschaft habe wirklich ein Talent, längst geklärte Vorgänge wieder ans Licht zu zerren; er zweifele sogar daran, dass an der Geschichte überhaupt was dran war, wollte sich aber nicht weiter äußern, als William nachfragte.

Sehr viel engagierter regierte er hingegen, als die Morddrohungen gegen die Gewerkschaftsfunktionäre vermeldet wurden.

»In den letzten Jahren meiner Berufskarriere habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass der Neonazismus eine weitaus größere Gefahr für die Sicherheit des Staates darstellt als der Kommunismus, aber die Hysterie der McCarthy-Ära ist wohl immer noch lebendig.«

Selbst nach fünfzig Jahren in Trondheim sprach er das R immer noch guttural aus. Und sein Alter war ihm überhaupt nicht anzumerken, dachte William stolz. Solveig hatte gerade den Fernseher ausgeschaltet und Kaffee serviert, als sein Vater von ihm wissen wollte, was er von dem Giftmordprozess halte.

»Ach, lass doch, Joakim«, bat Randi. »Können wir nicht über was anderes reden?«

»Einmal Polizist, immer Polizist«, brummte Joakim.

William lächelte. Musste sich eingestehen, dass sein eigenes Interesse am Kriminaljournalismus mit dem Beruf des Vaters zusammenhing. »Übermorgen wird das Urteil gesprochen. Ich rechne mit der Höchststrafe.«

»Vorausgesetzt es gibt noch einen Funken Gerechtigkeit in der Welt«, warf Solveig erregt ein. »Die Frage ist, ob es etwas nützt, solche Menschen zu bestrafen«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich meine, lassen sich Psychopathen wirklich von langen Gefängnisstrafen abschrecken?«

»Wohl kaum«, sagte Joakim. »Aber in den meisten Fällen kommt es ja nicht so weit.«

»Trotzdem finde ich es unverantwortlich, solche Menschen frei herumlaufen zu lassen.«

»Ganz deiner Meinung«, erklärte Randi. »Denk nur an unseren Nachbarn. Der misshandelt ganz sicher seine Frau, damit sie sich bis aufs I-Tüpfelchen so verhält, wie er es von ihr verlangt.«

William räusperte sich. »Ich habe heute Vormittag mit einem Psychiater in Østmarkneset gesprochen. Er sagte, es sei extrem schwierig, ja nahezu ausgeschlossen, solche Menschen zu therapieren.«

»Østmarkneset?«, wiederholte sein Vater. »Glaubst du etwa auch, dass der Mörder von Vibeke Ordal aus dem Krankenhaus kommt?«

»Man kann nichts ausschließen.«

»Gut, dass Arne Kolbjørnsen die Ermittlungen leitet. Tüchtiger Kerl. In seinen ersten Jahren hat er sich unter mir abgerackert. Ohne diese feuerroten Haare wäre er ein perfekter V-Mann.«

»Hat er ein paar Spione auffliegen lassen?«

»Aber ja, unter anderem einen aus Trøndelag, der die Russen auf eine harmlose Windkraftanlage in Frøya aufmerksam gemacht hatte. Die glaubten wirklich, dahinter verberge sich eine militärische Anlage. Wofür Arne natürlich nichts konnte. Er hat wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet.«

Allen, die irgendwann einmal mit Joakim zusammengearbeitet haben, stellt er ein gutes Zeugnis aus, dachte William. Doch was Kolbjørnsen betraf, konnte er ihm nur beipflichten. Er selbst zog es vor, die Sache mit dem anonymen Brief vorerst für sich zu behalten; der Vater war nicht mehr ganz so verschwiegen wie früher. Auch Solveig hatte er nichts davon erzählt.

Dennoch spürte er ihre forschenden braunen Augen auf sich, wusste, dass sie ihn in den meisten Fällen durchschaute. Er hätte The New Encyclopedia of Serial Killers verstecken und nicht einfach im Wohnzimmer liegen lassen sollen. Sah er Gespenster am helllichten Tag, sollte er es für sich behalten und sie in einen Schrank sperren. Wo sie vermutlich auch hingehörten.

Das dritte Opfer

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