Читать книгу Das dritte Opfer - Fredrik Skagen - Страница 7
Die beiden kleinen Kinder
Оглавлениеim Türrahmen konnten auf den ersten Blick an Hänsel und Gretel erinnern. Hand in Hand standen sie unbeweglich da und drückten sich eng aneinander, als hätten sie auf der Welt nur einander.
Vielleicht empfanden sie wirklich so, dachte William Schrøder, doch ihre weißen Gesichter ließen nicht darauf schließen, dass sie das schöne Kuchenhaus im Wald erblickt hatten – dem kleinen Jungen stand der Mund offen, während seine etwas ältere Schwester den ihren zusammenkniff. Ihre Mienen ließen keinerlei Neugier erkennen, nur Trotz, Furcht und Resignation. Die Situation schien ihnen nicht neu zu sein.
Mama Danielsen saß im Bademantel auf dem Sofa und rauchte eine Zigarette. Die Polizeibeamtin legte ihr einen Kopfverband an, weil das Blut immer noch aus der Schläfenwunde sickerte. Papa Danielsen stand mit dem Rücken zum Fenster und war offenbar betrunken. Dumpf starrte er den Fernseher an, dessen Ton abgestellt war. Nur der Videorekorder surrte und spielte das für die aktuelle Totorunde entscheidende Fußballmatch ab, das William bereits gesehen hatte. Das Spiel war momentan unterbrochen worden. Ein Spieler lag verletzt auf dem Rasen, während der Schiedsrichter die Sanitäter mit der Bahre heranwinkte. William flüsterte: »Sollten wir nicht auch einen Krankenwagen rufen?«
Der Polizist namens Rikard schüttelte den Kopf. »Das muss Maria entscheiden. Die Frage ist, ob wir die Frau in Sicherheit bringen sollten.«
»Zusammen mit den Kindern?«
»Die schlägt er nie. Nur seine Frau.«
William atmete tief durch und war sich keinesfalls sicher, dass die Kinder nichts zu befürchten hatten. Auch wenn dem Mann die Reue ins Gesicht geschrieben stand und er sich alle Mühe gab, einen halbwegs nüchternen Eindruck zu machen, lag etwas in den dunklen Augen, das William erschreckte. Solche Schläger, dachte er, sollten von ihren Familien vollkommen ferngehalten werden.
Diese Episode aus Risvollan, die vierte des Samstagabends, würde in wenigen Zeilen des Polizeijournals, das jeden Montag im Trondheimer Anzeiger erschien, Erwähnung finden. Die Redaktion dieser Rubrik teilte er sich mit Ivar Damgård. Normalerweise handelte es sich um eine fast wortgetreue Abschrift des Polizeiberichts. Um einen genaueren Einblick zu gewinnen, was sich hinter der Bezeichnung Familiäre Gewalt verbarg, hatte er darum gebeten, die Streifenbeamten einmal auf ihrem Einsatz begleiten zu dürfen. Solveig hatte die Vermutung geäußert, dass hinter dieser Bezeichnung viele Familientragödien zum Vorschein kamen, die für die Gesellschaft womöglich ein größeres Problem darstellten als Drogenkriminalität, ärztlicher Honorarbetrug oder Bankraub. Ihrer Meinung nach lag die Wurzel allen Übels in den Familien selbst. Als Sonderschullehrerin wusste sie, wovon sie sprach. Die Schulen konnten nicht viel ausrichten, solange die Basis versagte. Trugen die Zeitungen dazu bei, die Bedeutung dessen herunterzuspielen, was sich hinter Hausmauern und heruntergezogenen Jalousien abspielte? Wollte die Presse wirklich das Privatleben der Menschen schützen? Oder neigte sie zur Ignorierung häuslicher Gewalt, weil sich die Fälle zu sehr ähnelten und sowohl Journalisten als auch Leserschaft bereits unempfindlich für die Katastrophen waren, die sich hinter den Überschriften verbargen? Nur Morde, Vergewaltigungen und Spionagefälle bekamen fette Schlagzeilen.
Hin und wieder verspürte William Schrøder das Bedürfnis, sich intensiver mit dieser Materie zu befassen, obwohl er nicht richtig wusste, wie er es anfangen sollte. Vielleicht sollte er einmal mit einem Soziologen sprechen. Wie brachte man Vätern – oder seinetwegen auch Müttern – richtiges Verhalten in der Familie bei? Indem man sie moralisch unterstützte? Ihnen einen aufmunternden Brief der Wertekommission zukommen ließ? Durch Kurse für Eltern in spe? Er wusste es nicht.
Obwohl Ivar und er zurzeit täglich auf der Pressetribüne saßen und eine Gerichtsverhandlung weitaus größerer Tragweite verfolgten – dem Angeklagten wurde vorgeworfen, seine Mitbewohnerin vergiftet zu haben –, ahnte er, dass sich die beiden Kindergesichter in sein Gedächtnis einprägen und dass er ihren Anblick so schnell nicht vergessen würde. Vielleicht lag dies auch daran, dass ihm sein eigenes Glück bewusst wurde. Während ihrer gut zwanzigjährigen Ehe waren Solveig und er niemals physisch und nur selten verbal aneinander geraten. Ihre Kinder waren stets von gewalttätigen Szenen verschont geblieben. Mögliche Ursachen für ihr harmonisches Familienleben gab es viele: solide Ausbildung, gute Erziehung, humanistisches Weltbild, friedfertige Veranlagung, ökonomische Sicherheit, aufrichtige gegenseitige Liebe, anerzogene Hemmung gegenüber Gewalt oder ganz einfach eine gute Portion Glück. Denn Gewalt in der Familie fand sich in allen gesellschaftlichen Schichten.
Doch nur selten führte diese zu strafrechtlicher Verfolgung. Immer wieder unterließen es die Opfer, solche Vorfälle anzuzeigen, weil die Täter ein ums andere Mal weinend auf die Knie fielen, Besserung gelobten und um Vergebung baten. Warum also sollte die Polizei einen alltäglichen Vorgang vor ein unwilliges Gericht zerren, das ohnehin mehr als genug zu tun hatte. War es überhaupt sinnvoll, einen Mann zu bestrafen, der seiner Frau unter Alkoholeinfluss regelmäßig Gesichtsverletzungen zufügte, solange sie sich damit abfand und ihm verzieh?
Auch in diesem Fall nutzte es nichts, der Frau nahe zu legen, ihren Mann zu verklagen. Als sie der Polizeibeamtin Maria mit matter Stimme erklärte, sie benötige keinen Arzt und könne sich den »Zwischenfall« – der so lautstark gewesen war, dass ein Nachbar die Polizei verständigt hatte – selbst zuschreiben, entspannte sich ihr Mann sichtlich und stellte den Videorekorder ab.
»Wie hat das angefangen?«, wollte Rikard wissen.
Papa Danielsen zuckte die Schultern.
»Das lag am Totoschein«, sagte die Frau leise.
»Wie das?«
»Ich habe den Schein nicht rechtzeitig abgeliefert.«
Sie blickte verstohlen zum Fenster, während der Mann bedächtig nickte. Als die Polizei erschien und die Scherben einer grünen Vase auf dem Fußboden bemerkte, hatte er seine Frau als »verdammte Schlampe« bezeichnet, sich dann jedoch mehr und mehr beruhigt.
»Ihnen ist also ein Riesengewinn durch die Lappen gegangen?«
Sie antwortete nicht. Papa Danielsen stand der Mund offen. »Äh ... nein.« Er starrte auf den Boden. »Aber das konnte ich ja nicht wissen.«
»Ihre Frau hat sie also vor einer unnötigen Geldausgabe bewahrt.«
»Wir hätten gewinnen können«, sagte er tonlos.
»Sie sollten Ihrer Frau danken.«
»Tja ... vielleicht.«
Zu Williams Erstaunen wankte der Mann zu der Frau, die er soeben misshandelt hatte, setzte sich vorsichtig neben sie und legte seinen Arm schützend um ihre Schultern. Und damit nicht genug: Anstatt ihn wegzuschieben, lehnte sie ihren bandagierten Kopf an seinen und murmelte: »Ist schon gut.«
Der Rest des Alkohols wurde konfisziert, ohne dass der Mann protestierte, während Maria die Geschwister ins Kinderzimmer begleitete. Dort blieb sie eine Viertelstunde und las ihnen eine Gutenachtgeschichte vor, während ein aufrichtig empörter Rikard Papa Danielsen die Leviten las und ihm seine Verantwortung als Erziehungsberechtigter ins Gedächtnis rief. Am Ende der Gardinenpredigt ließen die beiden auf dem Sofa ihren Tränen freien Lauf, während sie sich aneinander klammerten und der Mann Besserung gelobte.
»Wenn sich so etwas noch ein einziges Mal wiederholt«, schloss Rikard, »dann kommen wir und buchten Sie ein, Danielsen!«
»Ja, ja«, schluchzte der Paterfamilias.
»Sie erledigen gewissenhaft Ihre Arbeit, habe ich gehört. Warum gehen Sie nicht genauso verantwortungsbewusst mit Ihrer Frau um?«
Nach langem Schweigen kam eine Antwort – von ihr: »Das tut er doch. Normalerweise. Nur manchmal verliert er eben die Beherrschung, nur ab und zu. Und natürlich hätte ich den Totoschein rechtzeitig abgeben sollen!«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte William. Als er langsam auf den Flur hinausging, hörte er Marias Stimme, der nun jede polizeiliche Autorität fehlte. Sie klang freundlich und warm, als wäre ein Engel herabgeschwebt und hätte sich der Kinder erbarmt:
»Peter Hase ließ sich vorsichtig von der Schubkarre gleiten und lief im Schutz der Johannisbeersträucher so schnell er konnte den Gartenweg entlang. Doch als er um die Ecke bog, entdeckte ihn Gregersen.«
Er kannte diesen Text. Es handelte sich um eine der Erzählungen von Beatrix Potter, die er seinen eigenen Kindern oft vorgelesen hatte, bevor sie für solche Geschichten zu alt geworden und zu einer Literatur übergegangen waren, in denen Menschen anstelle von Tieren sprachen. Durch den Türspalt warf er einen Blick auf die Polizistin, die mit dem Rücken zu ihm saß. Die Geschwister, die eng aneinander gekuschelt im unteren Bett lagen, schienen sich jetzt in einer anderen Wirklichkeit, weit entfernt von Lärm und Gewalt, zu befinden.
Als William wenige Minuten später neben den beiden Beamten die Treppen des Wohnblocks hinunterging, erlaubte er sich ein hymnisches Lob über ihre Arbeit.
»Das Jugendamt sollte euch zu Ehrenmitgliedern machen.«
»Wir sind das Jugendamt«, stellte Maria fest. Ernst fügte sie hinzu: »Manchmal würde ich solche Kinder am liebsten in Wolldecken einwickeln, mitnehmen und nach Strich und Faden verwöhnen.«
Sie hatten gerade im Auto Platz genommen, als ihnen eine Messerstecherei in einem Nachtclub in der Fjordgata gemeldet wurde. Während sie sich auf dem Weg befanden, schaute William auf die Armbanduhr und bat darum, in Nardo abgesetzt zu werden.
»Schon genug?«, fragte Rikard lächelnd.
William wollte das nicht zugeben und schob vor, es sei bereits spät geworden. Am Ende des Thors veg stieg er aus dem Wagen, winkte ihnen noch einmal zu und dachte, dass ihm die letzten Stunden wirklich gereicht hatten. Er selbst hatte nichts tun können und hasste die Rolle als unbeteiligter Zuschauer. Während er durch die frische Nachtluft spazierte, sah er immer noch die Gesichter der Kinder vor sich. Wenn sie als Erwachsene später Konflikte erlebten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch sie versuchten, diese mit Gewalt zu lösen.
Auf dem Keramikschild neben ihrer Wohnungstür des Etagenhauses stand: Hier wohnen Solveig, William, Anders und Heidi Schrøder.
Eigentlich war das Schild überholt, doch hatte er keine Lust, es gegen ein anderes auszutauschen. Anders war erwachsen und wohnte nicht mehr bei ihnen. Der Zwanzigjährige hatte gerade ein Medizinstudium in Bergen begonnen. Und Heidi sollte im Frühjahr konfirmiert werden, die kleine Heidi, die sie bei der Geburt fast verloren hätten und die nur dank der neuen Brutkastenbehandlung im Kreiskrankenhaus überlebt hatte. Heidi hatte jubiliert, als ihr Bruder ausgezogen war, weil sie seitdem viel mehr Platz hatte. Wie hatten sie es in all den Jahren nur zu viert in der Wohnung ausgehalten? Sie hatten die Wohnung kurz vor der Hochzeit gekauft, und Nardo war ein ruhiges und günstig gelegenes Viertel. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Streifenwagen in ihrer Gegend gesehen hatte. Außerdem hatten sie ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn. Dennoch verriet die Statistik, dass es selbst in dieser etablierten, bürgerlichen Gegend hinter verschlossenen Türen manchmal zu Gewalttaten kam. Die Dunkelziffer war ungewiss, doch gab es auch hier Drogenmissbrauch, Alkoholismus und psychisch bedingte Konflikte, denen selbst das aufmerksamste Sozialwesen nicht Herr werden konnte.
Doch im Großen und Ganzen empfand er Trondheim als eine Stadt, in der es sich gut leben und arbeiten ließ. Sie verfügte über eine international renommierte Fußballmannschaft, deren Spiele er mit großem Interesse verfolgte, und die Kriminalitätsrate bewegte sich in einem Bereich, der weder Ivar und ihn noch die Polizei vor unlösbare Probleme stellte. Außerdem musste man der Wirklichkeit ins Gesicht sehen und durfte sich von deren Schattenseite nicht lähmen lassen. Als würde es irgendjemand helfen, wenn die Auslandskorrespondenten ihrer Zeitung kein Auge mehr zubekamen, weil sie unentwegt über das Böse in der Welt nachgrübelten!
Als er leise die Tür aufschloss, kam ihm ein Lied von Margrethe Munthe in den Sinn. Er legte seine Kappe auf die Garderobenablage, zog Jacke und Schuhe aus und schlich ins Wohnzimmer.
Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Solveig saß im Fernsehsessel. Das tat sie gern, wenn er Spätdienst hatte, sofern sie sich nicht in ein Buch vertiefte. Da ihre braunen Augen sich völlig auf den Bildschirm konzentrierten, nahm sie keine Notiz von ihm. Er blieb stehen und betrachtete sie einen Augenblick. Solveig war nie im klassischen Sinne schön, doch immer unglaublich süß gewesen. Vielleicht lag es an ihrem unbefangenen, munteren Wesen, dass sie so leicht mit anderen Leuten in Kontakt kam. Auch kam ihr dies im Umgang mit ihren schwierigen Schülern, denen sie zu helfen versuchte, zugute. In diesem Moment fiel das Licht der Leselampe schräg auf ihr dunkles Haar und ließ es wie sonnenbeschienene Lava erglühen.
Sie war vierundvierzig, drei Jahre jünger als er, sah jedoch nicht älter aus als dreißig. Zumindest in Williams Augen.
»Spannend?«
Sie zuckte zusammen, lächelte und streckte die Hand nach der Fernbedienung aus. »Typisch amerikanischer Streifen.«
»Warum liest du nicht lieber?«
»Musst du gerade fragen, als Fernsehjunkie des Hauses.«
»Meinetwegen brauchst du nicht auszuschalten. Es ist erst halb eins, und morgen ist Sonntag.«
»Lass uns lieber noch ein Glas zusammen trinken. Wie wär’s mit einem Drambuie?«
»Gerne. Ich hol die Gläser.«
Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. Solveig zündete sich eine Zigarette an. William, der ständig versuchte mit dem Rauchen aufzuhören, ließ sich vom Duft verführen und bediente sich ebenfalls. Als sie miteinander anstießen, sagte er nachdenklich: »Das Ehepaar, dem wir vor zwanzig Minuten einen Besuch abgestattet haben, saß genauso da wie wir. Der Mann hatte einen über den Durst getrunken.«
»Mit schlimmen Folgen?«
»Alles relativ. Beim nächsten Einsatz wäre es um eine Messerstecherei gegangen. Aber ich wollte nicht schon wieder an das erinnert werden, was letzte Woche in Lade passiert ist. Stattdessen habe ich mich nach Ruhe und Harmonie gesehnt.«
»Dacht ich mir’s doch.«
»Ich weiß, worauf du anspielst. Aber was zum Teufel können Ivar und ich denn schon ausrichten?«
»Das müsst ihr schon selber wissen. Jedenfalls finde ich, dass eure kommentarlosen Berichte die Realität banalisieren und verschleiern. Den Sinn eines solchen Journalismus verstehe ich einfach nicht.«
»Bei den Lesern kommt das sehr gut an. Die Leute werden auf dem Laufenden gehalten, was in ihrer Gegend passiert, ohne dass wir reißerische Artikel draus machen müssen. Glaub mir, die Leute haben Fantasie genug, um sich den Rest auszumalen.«
»Trotzdem solltet ihr mal über eine andere Form nachdenken. So wie die Rubrik im Moment aussieht, hat sie überhaupt keinen Sinn ... sag mal, hast du eben gesagt, es wäre halb eins?«
»Fünf nach halb.« William verstand mit einem Mal, warum sie nachfragte. Er hatte schon die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass sie etwas beunruhigte, obwohl sie ganz von dem zweitklassigen Film gefesselt zu sein schien.
»Heidi hat fest versprochen, spätestens um zwölf zu Hause zu sein. Darum hatte ich auch begonnen, den Film zu gucken. Ich schaffe es einfach nicht, mich auf ein Buch zu konzentrieren, wenn sie unterwegs ist.«
»Ist sie nicht auf einem Fest mit einer Reihe anderer Konfirmanden?«
»Doch, einige wollten sich bei Jensens treffen, aber ohne den Pfarrer.« Sie stand auf und ging zum Fenster.
»Jetzt machst du dir wirklich unnötig Sorgen.«
»Ich kann doch nichts dafür!« Sie presste das Gesicht gegen die Scheibe und versuchte auf die Straße zu schauen.
»Früher hast du dir eben Sorgen um Anders gemacht. Und im Großen und Ganzen ist doch immer alles gut gegangen, auch wenn er manchmal zu spät kam. Keine Schlägereien, kein Haschisch ...«
»Ja, stimmt schon. Aber Heidi ist doch erst vierzehn ... und ein Mädchen.«
»Jetzt entspann dich und setz dich wieder hin, Solveig. Wenn wir ihr nicht vertrauen, dann kann sie uns auch nicht trauen.«
»Ihr vertrauen? Sie hatte versprochen, vor über einer halben Stunde zu Hause zu sein!«
William spürte, wie er sich wieder einmal von ihrer Besorgnis anstecken ließ. Er hasste dieses beklemmende Gefühl in der Magengrube, die Unsicherheit, die sich in ihm ausbreitete. Gleichzeitig fühlte er sich verpflichtet, sie zu beruhigen, so zu tun, als gäbe es nicht den geringsten Anlass zur Nervosität.
»Dabei hatten wir’s doch gerade so gemütlich. Aber okay, wenn sie bis eins nicht da sein sollte, verständigen wir die Polizei.« Er zwang sich zu einem lauten Lachen.
»Lass uns einfach bei Jensens anrufen. Ich mach das schon.«
»Na gut, wenn es dich beruhigt. Aber verlass dich drauf, dass du die Erste bist. Heidi wird dir sicher ungeheuer dankbar sein!«
Solveig ließ sich unwillig wieder auf das Sofa plumpsen. Nahm einen Schluck und sagte: »Ich verstehe nicht, wie du so gelassen sein kannst. Gerade du, der genau weiß, was in dieser Gegend für schreckliche Dinge geschehen.«
»Das meiste ist völlig harmlos.« Er strich ihr über den Kopf. Ihr Haar fühlte sich ganz und gar nicht nach getrockneter Lava an. Es war weich, und er wünschte sich, dass seine Tochter in ihrem Zimmer schliefe und Solveig in seinen Armen läge und dass sie diejenige wäre, nach der er sich gesehnt hatte, seit er nach Hause gekommen war. Doch was Sex betraf, gab es keinen schlimmeren Feind als nagende Angst.
»Das meiste, ja. Aber sie ist noch so jung. Und so unerfahren.«
»Unbekümmert ...«
»Genau. Es geschehen nun mal so furchtbare Dinge, William!«
»Darüber bin ich mir im Klaren. Aber es gibt doch auch ganz normale Verspätungen. Man trifft irgendwelche Bekannte und vergisst die Zeit. Vor allem, wenn man jung ist.« Er zog sie an sich und senkte die Stimme. »Bist du Musterkind etwa nie zu spät nach Hause gekommen?«
Sie nickte verhalten, und als er spürte, wie sie sich ein wenig beruhigte, versuchte er den alten Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, indem er sie daran erinnerte, dass schließlich sie es gewesen war, die ihn überredet hatte, die Streifenpolizisten zu begleiten. Doch obwohl seine Taktik Erfolg hatte, irritierte es ihn, dass die Angst um ihre Tochter jetzt auf ihn übergegangen war. Außerdem ärgerte er sich, dass er etwas getrunken hatte und seine Tochter nicht mehr mit dem Auto abholen konnte.
Um ein Uhr hielt er es nicht mehr länger aus, sprang auf und sagte forsch: »Jetzt ruf ich an und verderbe ihnen den Abend! Hast du die Nummer?«
Die hatte Solveig, doch genau in dem Moment, als er vor dem schmalen Schreibtisch stand, die Nummer eintippte und sich davor fürchtete, wie die Antwort ausfallen würde – falls überhaupt jemand ans Telefon ging –, hörten sie das altbekannte, wohltuende Geräusch der Haustür, die ins Schloss fiel. Er schaffte es gerade noch, den Hörer aufzulegen, bevor Heidi, den Schlüssel in der Hand, mit roten Wangen ins Zimmer stürzte und rief, sie hätten solch einen Spaß gehabt.
Zur geplanten Standpauke kam es nicht. Williams Magenschmerzen waren wie weggeblasen, und als Heidi die Verspätung damit erklärte, der Sohn von Herrn Jensen habe sie nicht wie verabredet mit dem Auto abgeholt und es sei schwierig gewesen, ein Taxi zu bekommen, kehrte in der Wohnung der Familie Schrøder wieder Ruhe und Frieden ein.
Ein weiteres Mal konnten sie feststellen, dass die großen Unglücke immer nur anderen zustießen.