Читать книгу Das dritte Opfer - Fredrik Skagen - Страница 6
Als Vibeke Ordal entdeckte,
Оглавлениеdass sie zum ersten Mal in ihrem Leben im Lotto gewonnen hatte, stieß sie keinen Triumphschrei aus, sondern schlug relativ beherrscht mit der Faust auf den Tisch. Aber ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Freude. So geschehen am Donnerstag, dem 13. Januar 2000, während der Mittagspause. Sie glaubte zwar nicht an Horoskope, erinnerte sich aber, dass sie erst kürzlich in einer Zeitung unter der Rubrik Waage gelesen hatte: Es ist nicht auszuschließen, dass Ihnen in dieser Woche ein materieller Gewinn ins Haus steht. Man konnte aus geringerem Anlass abergläubisch werden.
Sie hatte ihre Kaffeetasse stehen lassen und saß nahezu allein in der Kantine des Autohauses, während sie wie üblich ihren fünf Wochen gültigen Lottoschein mit dem Ergebnis der Ziehung verglich, das in der Zeitung abgedruckt war. In einer der Spalten hatte sie fünf Richtige und eine Zusatzzahl. Ihre Prämie belief sich auf sage und schreibe 153270 Kronen. Sie kontrollierte die Zahlen zwei weitere Male, bevor sie sich sicher fühlte, und wählte, nachdem sie in ihr kleines Büro zurückgekehrt war, die Handynummer ihres einzigen Sohnes, der die Universität besuchte. Er war sofort am Apparat.
»Gorm Ordal.«
»Hier ist Mama. Hast du heute Abend schon was vor?«
»Monica und ich wollten in Kino gehen. Ist was Besonderes?«
»Ich habe eine große Überraschung für dich.«
»Hast du dir etwa einen neuen Kerl geangelt?«
»Nein ... äh ... ich sagte doch ... für dich.«
Einen neuen Kerl? Vibeke musste lächeln. Es fehlte ihr nicht an männlichen Bekanntschaften, doch bevor sie wieder mit einem Mann zusammenzog, wollte sie sichergehen, dass die Beziehung auch hielt, und zwar ein Leben lang. Zurzeit hatte sie ein Auge auf einen der Autoverkäufer geworfen, doch zweifelte sie, dass er der Richtige war. Der charmante Knut Petter wusste, wie man mit Frauen umging, doch gleichzeitig befürchtete sie, dass er auch im Privatleben zu sehr Händler war und eine Freundin kurzerhand abservierte, wenn er ein jüngeres Modell haben konnte.
»Na, sag schon!«
»Nicht vor heute Abend. Nimm Monica mit. Ich mach uns was Schönes zu essen.«
»Klingt gut! Um neun sind wir da.«
Vibeke beschloss, ihren Kollegen erst einmal nichts von ihrem Spielglück zu verraten, obwohl es einer der Mechaniker aus der Karosserieabteilung gewesen war, der sie zum Lottospielen animierte, nachdem er selbst im Herbst einen bescheidenen Gewinn eingestrichen hatte. Sie hatte es drei Monate lang mit derselben Zahlenkombination versucht, die ihr ein Computerprogramm empfohlen hatte. Es war also doch möglich, das Glück auf seine Seite zu ziehen, dachte sie. Nichts kam ihr im Moment mehr gelegen als die Möglichkeit, das Darlehen für ihr Haus weiter tilgen zu können.
Ihr Arbeitstag war um vier Uhr beendet, und es dämmerte bereits, als sie sich zu Fuß auf den Heimweg machte. Den Starlet benutzte sie nur in Ausnahmefällen, wenn das Wetter schlecht war und sie im Zentrum etwas zu erledigen hatte. Die Arbeit am Schreibtisch verschaffte ihr so wenig Bewegung, dass sie ein Bedürfnis nach den beiden täglichen Spaziergängen empfand. Sie ging rasch die Lade allé entlang, so wie immer, passierte das Musikhistorische Museum sowie die schneebedeckten Tennisfelder auf der gegenüberliegenden Seite. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, und dieses eine Mal hatte die Gemeinde sogar dafür gesorgt, die Bürgersteige streuen zu lassen. Sie ging in den Supermarkt, musterte die Metzgertheke und brauchte nicht lange zu überlegen, ehe sie sich für Entrecote entschied. Heute sollte es weder Pizza noch Pasta geben, denn heute traf sie die Entscheidung. Von Weihnachten war noch eine Flasche Rotwein übrig geblieben, und sie war sicher, dass ihre Gäste gegen eine solche Bewirtung nichts einzuwenden hatten.
Im Grunde wäre es besonders schön, ging ihr durch den Kopf, wenn sie Gorm gleich einen Scheck in die Hand drückte, anstatt ihm nur zu erzählen, dass sie ihn ein wenig am Gewinn beteiligen würde, sobald die Überweisung auf ihr Konto eingegangen war. Nach dem Einkauf wollte sie deshalb noch auf die Bank, die sich im selben Gebäude wie der Supermarkt befand. Sie hatte Glück. Die Bank schloss am Donnerstag erst um halb fünf, also in wenigen Minuten.
Im Schalterraum befanden sich zwei Kunden. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr an einer Theke, auf der Broschüren und Formulare auslagen. Sie ging zu der freien Bankangestellten, die sie von früher her kannte, und nickte ihr freundlich zu. Gab ihr die Scheckkarte und bat sie, den Stand des Girokontos zu überprüfen. Der Betrag stimmte, etwas über vierzigtausend, und Vibeke erwartete in nächster Zeit keine Rechnungen. Dreißigtausend schienen ihr eine angemessene Summe zum Verschenken zu sein. Das Geld würde Gorm gut tun. Kannte sie ihn richtig, würde er es nicht in die Haushaltskasse fließen lassen. Studenten hatten ständig so viele Wünsche. Schienen einfach nie genug zu bekommen und stellten an ihren Lebensstandard ganz andere Forderungen als Vibekes Generation es getan hatte. Doch Gorm verdiente es. Im Alltag wäre sie gern großzügiger zu ihm gewesen, doch ihr Sekretärinnenjob hatte sie nicht gerade wohlhabend gemacht.
Die Bankangestellte schob ihr ein Formular entgegen. Sie füllte es aus, unterschrieb und schob es zurück.
»Möchten Sie einen Scheck oder Bargeld?« Vielleicht würde es Gorm besonders freuen, einen dicken Umschlag entgegenzunehmen und die vielen Scheine selbst zählen zu können. Sie sah bereits sein erstauntes Gesicht vor sich.
»Bargeld bitte. Möglichst glatte Scheine. Es soll ein Geschenk sein.«
Die freundliche Frau ließ ihren Blick über die Bestände wandern. »Diese sind ganz neu.«
Sie zeigte ihr einen Fünfhundertkronenschein. Der Silberfaden zur Rechten von Sigrid Undset glitzerte. Wie passend, denn zum einen studierte Gorm nordische Literatur, zum anderen sah Monica der hübschen Schriftstellerin nicht unähnlich. Wenn man noch mal jung wäre ... sich einen lieben Freund besorgen, von vorn anfangen und die öden Jahre mit Harald vergessen könnte. Zwei Dinge hatte er ihr hinterlassen, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war – einen Sohn sowie das hypothekenbelastete Haus.
Sie zählte rasch die Scheine, die sie, um sie nicht zu knicken, vorsichtig in ein freies Fach ihrer Handtasche gleiten ließ. Dann steckte sie die Quittung ein, lächelte zum Dank und passierte auf dem Weg zum Ausgang den Mann, der in einer Broschüre blätterte.
In Wirklichkeit hatte dieser Vibeke Ordal unablässig beobachtet. Sein Blick war aufmerksam und scharf genug gewesen, um zu registrieren, was sich nur wenige Meter von ihm abgespielt hatte. Er wartete zehn Sekunden. Dann steckte er die Broschüre in die Tasche und verließ eine halbe Minute vor Schalterschluss Bank.
Der Østmarkveien nahm beim Einkaufszentrum seinen Anfang. Es handelte sich um eine relativ schmale Allee ohne Bürgersteig, deren Bäume das Licht der Straßenlaternen dämpften. Aus irgendeinem Grund drehte sie sich um, nachdem sie die Treibhäuser passierte hatte, und erblickte einen dunkel gekleideten Mann, der in dieselbe Richtung ging wie sie. Er befand sich zwanzig bis dreißig Meter hinter ihr und schien sein Tempo in diesem Moment zu verlangsamen.
Erst jetzt begriff Vibeke, wie leichtfertig sie gehandelt hatte, sich eine so große Summe in bar auszahlen zu lassen. Selbst hier, an einem friedlichen Winternachmittag in Trondheim, konnten es Junkies auf sie abgesehen haben, um sich Geld für neuen Stoff zu besorgen. Du bist naiv, hätte Harald zu ihr gesagt, wenn du dir einbildest, vor so etwas gefeit zu sein. Dass er selbst fast nie Bargeld im Portemonnaie hatte, lag ihrer Meinung nach weniger an der Furcht, überfallen zu werden, als an seinem allgegenwärtigen Geiz, unter dem sie stets gelitten hatte. Allerdings schien es ihr mehr als unwahrscheinlich, dass ein Fremder wusste, wie viel Geld sie in ihrer Handtasche bei sich trug.
Dennoch pochte ihr Herz heftig, während sie instinktiv das Tempo erhöhte und in den Victoria Bachkes vei einbog, eine abgeschiedene Straße mit vereinzelten Villen. Sie ging um eine weitere Ecke und passierte die wohlbekannten Grundstücke und Hecken, die sich zu beiden Seiten der Straße befanden. Dann eilte sie in ihren sicheren, unter einer dichten Schneedecke begrabenen Vorgarten, hastete am Briefkasten sowie dem Auto vorbei, das vor dem Eingang stand. Als sie die Haustür erreichte, hatte sie bereits den Schlüssel in der Hand. Wenn der Mann sie verfolgt hatte, gab es niemanden, der ihn noch hätte aufhalten können. Ein kurzer Blick über die Schulter, ehe sie den Schlüssel herumdrehte. Auch hier ließ die Straßenbeleuchtung zu wünschen übrig, doch hätte sie den Mann zweifellos erkannt, wäre er in der Nähe gewesen.
Dann ging sie rasch ins Haus, knallte die Tür ins Schloss und atmete tief durch. In die Erleichterung mischte sich Verärgerung über sich selbst, weil sie sich eingeredet hatte, der Fremde habe es womöglich auf ihre Handtasche abgesehen. Sie zog die Jacke aus, stellte sich vor den Spiegel im Flur, zog einige Male den Kamm durch ihre blonden Haare und ging in die Küche. Sie stellte die Lebensmittel in den Kühlschrank und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Sie hatte noch gut vier Stunden. Genug Zeit, eine Kleinigkeit zu essen, Kaffee zu trinken, die Zeitung zu lesen, aufzuräumen und sich ein wenig zurechtzumachen, bevor sie mit der Zubereitung des Abendessens begann.
Sie machte Licht im Wohnzimmer und legte die Frank Sinatra-CD ein, die sie von Gorm zu Weihnachten bekommen hatte. Es waren dieselben eleganten Nelson Riddle-Arrangements wie auf ihrer alten Schallplatte, die sie stets gehört hatte, bis ihr Plattenspieler vor Jahren den Geist aufgab. Sie summte die Melodie mit und begann unwillkürlich zu tänzeln.
»A summer wind came blowing in, from across the sea ...«
Ihr Sohn hatte wirklich das richtige Gespür gehabt. Er wusste, wie gut es ihr tat, sich hin und wieder aus der Realität zu stehlen und eine Zeit in Erinnerung zu rufen, in der es noch keinen Harald gegeben und die Welt vor ihr gelegen hatte wie ein offenes blaues Meer. Alles schien damals möglich. Konnte Knut Petter die Erwartungen erfüllen, wenn sie auf ihn zuging?
»It lingers there to touch your hair, and walk with me ...«
Unglaublich, wie sehr ein unverhoffter Geldsegen die Stimmung heben und sogar alte Träume wieder beleben konnte! Sie setzte Kaffeewasser auf, schmierte sich eine Brotscheibe und nahm am Küchentisch Platz. Die sechzig unbenutzten Scheine steckte sie in einen großen Umschlag und begann im Dagblad zu blättern. Las darüber, wie klug es sei, sein Geld in Aktienfonds anzulegen, glaubte aber, dass es eine noch bessere Idee war, zunächst die eigenen Schulden abzutragen. Erneut schlug sie die Seite auf, auf der die Lottoergebnisse des vorigen Tages standen, und verglich diese mit ihrem Wettschein. Alles in Ordnung! Als sie einen verstohlenen Blick auf die Straße warf, fiel ihr ein, dass sie aus Furcht vor einem eventuellen Überfall vergessen hatte, in den Briefkasten zu schauen. Sie stand auf und legte den Umschlag auf den Kühlschrank.
Als sie den Briefkasten öffnete, der sich neben dem Gartentor befand, rollte ein Mercedes gemächlich an ihr vorbei. Der Mann hinter dem Steuer winkte, und sie winkte zurück. Henriksen, dachte sie. Er wohnte in derselben Straße und war von Beruf Setzer; ein sympathischer Kerl mit einer netten Frau und hübschen Kindern. Es hatte begonnen zu schneien. Sie blätterte rasch die vielen Werbebroschüren durch, bevor sie alle zusammen in die Mülltonne warf. Nahm sich einmal mehr vor, einen Aufkleber an ihrem Briefkasten anzubringen, der das Einwerfen von Reklame untersagte. Dann kehrte sie ins Haus zurück, schloss die Tür hinter sich, ging in die Küche – und sah sich plötzlich einem Mann gegenüber, der sich ins Haus geschlichen haben musste, während sie den Briefkasten geleert hatte.
In diesem Augenblick begriff Vibeke, dass es derselbe Mann war, der ihr auf dem Heimweg gefolgt war. Vielleicht war er ums Haus geschlichen, hatte sie heimlich durchs Fenster beobachtet.
Doch blieb ihr kaum Zeit, Angst zu empfinden, schon gar nicht, sich Aussehen und Kleidung des Mannes einzuprägen. Nur einen schwachen Tabakgeruch nahm sie wahr, während er sie packte, herumdrehte und von hinten festhielt. Etwas Blankes und erschreckend Scharfes blitzte vor ihren Augen auf. Sie bekam den linken Arm frei und schlug mit ihm verzweifelt über die Schulter. Doch plötzlich spürte sie zwischen Kinn und Ohr einen schmerzhaften Schnitt in der Haut. Es war nicht der Schmerz, sondern der Schnitt an sich, der es ihr unmöglich machte zu schreien. Das Letzte, was sie hörte, war die Stimme Frank Sinatras, die aus den Lautsprechern des Wohnzimmers drang: »I’ve got you under my skin, I’ve got you deep in the heart of me ...«
Die Stimme verklang rasch und wich vollkommener Stille – und Finsternis.
Es schneite noch eine halbe Stunde, bevor eine steife Brise aus südwestlicher Richtung auffrischte. Um fünf vor neun standen ein neugieriger und erwartungsfroher Gorm Ordal sowie seine Freundin Monica Holm vor dem Bungalow am Victoria Bachkes vei. Sie hatten den Bus aus der Stadt genommen, nachdem sie Eyes Wide Shut im Kino gesehen hatten.
Sie klingelten, doch niemand öffnete.
»Du musst das falsch verstanden haben. Vielleicht meinte sie morgen«, sagte Monica.
»Unmöglich. Hier sind verwehte Fußspuren, und das Auto ist auch da.«
Er hatte einen Reserveschlüssel in der Tasche und zögerte nicht, ihn ins Schloss zu stecken und die Tür zu öffnen.
»Mama?«
Als niemand antwortete, hängten sie zunächst ihre Jacken an die Garderobe. Monica ging in das erleuchtete Wohnzimmer, während Gorm sich für die Küche entschied. Er sah sofort, dass die Mutter in einer Lache getrockneten Bluts auf dem Boden lag. Der Anblick kam ihm unwirklich vor, glich er doch zum Verwechseln einer Szene, die sie gerade im Kino gesehen hatten. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch nichts hatte sich verändert. Als Monica eine halbe Minute später im Türrahmen erschien, stand er reglos da, ebenso unbeweglich wie die Tote auf dem Fußboden.
Weil sich Hauptkommissar Storm im Urlaub befand, war Arne Kolbjørnsen vom Morddezernat der Erste, der die schreckliche Nachricht erhielt. Die Zentrale des Trondheimer Polizeidistrikts hatte um 21 Uhr 04 den telefonischen Bescheid entgegengenommen. Der Wachhabende hatte Gorm Ordals Aussage sorgfältig notiert, ehe ein Streifenwagen nach Lade beordert worden war. Dieser war bereits eingetroffen, als Kommissar Kolbjørnsen mit seinem jungen Kollegen Håkon Balke am Tatort erschien. Sie benötigten nur wenige Augenblicke, um festzustellen, dass der Polizeioberrat, ein Arzt, ein Fotograf sowie die Leute von der Spurensicherung hinzugezogen werden mussten. Balke erledigte dies umgehend und wies die Streifenbeamten an, den Garten abzusperren, falls neugierige Passanten auftauchen sollten, was unweigerlich geschehen würde, wenn erst einmal eine Reihe von Dienstfahrzeugen vor dem Haus parkte. Kolbjørnsen versuchte das wie paralysiert wirkende junge Paar nach den Geschehnissen zu befragen, obwohl er es zunächst als seine wichtigste Aufgabe ansah, ihnen zu helfen und sie aus der Trance zu befreien, in der sie sich offenbar befanden.
Mit misstrauischem, finsterem Blick, einen Arm um die nicht minder zitternde Monica gelegt, saß Gorm Ordal auf dem Sofa und versuchte stotternd zu erklären, warum sie hier waren – wie sie vor rund acht Stunden ein kurzes Telefongespräch mit der Mutter geführt, selbst die Haustür aufgeschlossen und sie schließlich ermordet vorgefunden hatten.
»Was für eine Überraschung könnte sie gemeint haben?«
»Das ... das weiß ich nicht.«
Kolbjørnsen nickte. Worin diese bestand, hatte ihnen die Mutter natürlich erst während ihres Besuchs erzählen wollen.
»Aber ihre Stimme hat sich so angehört, als ... als wolle sie mir etwas schenken.«
Der Kommissar hatte ein beklemmendes Gefühl. Ihm war das, was in der Küche geschehen war, nahezu unbegreiflich. Verbrechen von solcher Brutalität waren in Trondheim nicht an der Tagesordnung. Alle Fenster waren geschlossen, keine Scheiben zertrümmert. Es fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfes, nur den einen Schnitt am Hals, der ausgereicht hatte, um das Blut sogleich aus der Halsschlagader strömen zu lassen. Eine zielgerichtete, effektive Handlung, die ein menschliches Ungeheuer vermuten ließ, dem normale Gefühle fremd waren. Vielleicht handelte es sich nicht einmal um einen Einbrecher, sondern um eine Person, die Vibeke Ordal gekannt und selbst hereingelassen hatte.
»Vielleicht war Eifersucht im Spiel«, warf Polizeioberrat Martin Kubben ein, der kurz darauf auftauchte. Er sagte dies nicht grundlos. Eifersucht war eine der häufigsten Ursachen, die Menschen die Kontrolle über sich verlieren ließen.
»Soweit ich weiß, hatte meine Mutter keinen Freund.«
»Was ist mit Ihrem Vater?«
»Sie wurden vor acht Jahren geschieden. Er lebt in Oslo.« Gorm war nervös und sprach abgehackt, als sei das Verhör ein mündliches Examen, auf das er sich allzu schlecht vorbereitet hatte.
»Sein Name?«
»Harald Tranøy. Meine Mutter ... und ich ... haben nach der Scheidung ihren Mädchennamen angenommen.«
»Er hat Ihre Mutter nie bedroht?«
»Nicht dass ich wüsste. Warum sollte er?«
In diesem Moment brach der junge Mann zusammen, worauf sie das Paar eine Weile in Ruhe ließen. Die meisten Morde geschahen im Affekt. Durchdachte Vorbereitungen oder das Legen falscher Fährten, um die Polizei in die Irre zu führen, waren selten. Kubben, der Jurist und für eine eventuelle Anklageerhebung verantwortlich war, hatte mit einer klaren Beweislage gerechnet, die Täter und Motiv rasch ans Licht bringen würde. Ein Mord in den eigenen vier Wänden brachte in der Regel eine Familientragödie zum Vorschein. Doch darauf deutete in diesem Fall nichts hin. Abgesehen vom Blut auf dem Küchenboden gab es keine Indizien, weder innerhalb noch außerhalb des Bungalows, keine Tatwaffe und kein erkennbares Motiv, die auf einen bestimmten Täter hinwiesen. Mögliche Fußspuren hatte der verdammte Neuschnee überdeckt. Auch bestand zunächst kein Grund, den Sohn und seine Freundin, deren Unschuld sich bestimmt bald erweisen würde, zu verdächtigen. Das einzig Gewisse war die Stellungnahme des Arztes, dem zufolge der Mord an der sechsundvierzigjährigen Vibeke Ordal vor mindestens zwei bis drei Stunden geschehen sein musste und der Tod durch Blutverlust infolge der Durchtrennung der rechten arteria carotis eingetreten war, ausgeführt mit einem außerordentlich scharfen Gegenstand.
Bevor und nachdem die Leiche zur gerichtsmedizinischen Obduktion ins Kreiskrankenhaus gebracht worden war, hatte die Spurensicherung die Küche buchstäblich auf den Kopf gestellt. Wie Kubben wusste auch Kolbjørnsen, wie wichtig es war, formale Fehler zu vermeiden. Vor allem in den letzten Jahren waren Ermittlungsergebnisse immer wieder von tüchtigen Strafverteidigern torpediert worden, die sich offenbar viel von ihren amerikanischen Kollegen abgeschaut hatten. Selbst die klarste Beweisführung war manchmal für die Katz, weil die Polizei allzu oft ihre eigenen Vorschriften missachtete, zum Beispiel, wenn der Eifer, den Hauptverdächtigen möglichst schnell zu überführen, das Gebot der Neutralität überlagerte, oder wenn es zu Formfehlern bei der Erstellung der Indizienkette kam. Dann konnten sie gezwungen sein, die Anklage fallen zu lassen oder gar die Ermittlungen einzustellen.
Im Laufe des Abends wurden die letzten Handlungen Vibeke Ordals rekonstruiert und folgende Erkenntnisse gewonnen:
Sie hatte ihren Arbeitsplatz zur üblichen Zeit, also um Punkt 16 Uhr verlassen. Ein Kassenzettel in ihrem Portemonnaie belegte, dass sie auf dem Heimweg noch im Einkaufszentrum von Lade gewesen war und die Lebensmittel eingekauft hatte, die sich jetzt in ihrem Kühlschrank befanden. Der Kassenzettel war von 16 Uhr 21. Die Quittung der Bankfiliale zeigte, dass sie fünf Minuten später 30000 Kronen abgehoben hatte. Dieses Geld fand sich weder im Portemonnaie noch in der Handtasche. Auf dem Küchentisch lagen neben einer halb geleerten Kaffeetasse und einem Teller mit Brotkrümeln eine aufgeschlagene Tageszeitung sowie ein ausgefüllter Lottoschein. Falls die abgedruckten Gewinnzahlen richtig waren – was sich kurze Zeit später bestätigte –, hatte sie soeben 153270 Kronen gewonnen.
Erste Schlussfolgerung:
Vieles deutete darauf hin, dass Vibeke Ordal zu einem früheren Zeitpunkt des Tages von ihrem Lottogewinn erfahren hatte. Darum rief sie um halb eins ihren Sohn an und lud ihn samt seiner Freundin zum Abendessen ein, vermutlich um ihm oder ihnen beiden einen Teil der Gewinnsumme zu schenken. (Dem Sohn war nach eigener Aussage nicht bekannt, dass seine Mutter Lotto spielte.) Später war ihr eine bisher unbekannte Person – vermutlich im Wissen, dass sie soeben das Geld von der Bank abgehoben hatte – auf dem Heimweg zum Victoria Bachkes vei gefolgt. Die betreffende Person verschaffte sich auf noch nicht geklärte Weise Zugang zum Haus. Möglicherweise kam es in der Küche zu einem Handgemenge, doch vermutlich wurde die Hausbesitzerin ermordet, ehe sie sich zur Wehr setzen konnte. Danach nahm der Täter oder die Täterin das Geld an sich und verließ das Haus.
Sollten diese Vermutungen sowie die Annahme, dass es sich beim Täter nicht um einen Bekannten des Opfers handelte, den Tatsachen entsprechen, stand die Polizei vor einer weitaus schwierigeren Aufgabe, als Polizeioberrat Kubben anfangs gedacht hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er getan, was er konnte, und das war nicht viel. Kolbjørnsen wusste, dass sein unmittelbarer Vorgesetzter Nils Storm ihm die Verantwortung für den komplizierten praktischen Teil der Ermittlungen übertragen würde, die im schlimmsten Fall ergebnislos blieben.
Außerdem konnte man sich keinesfalls darauf verlassen, dass die Spurensicherung ihnen konkrete Anhaltspunkte liefern konnte. Balke war bereits beauftragt worden, Befragungen in der Nachbarschaft durchzuführen. Wenn sie Glück hatten, befand sich der Mörder immer noch in der Nähe. War es gar denkbar, dass er das Geld nicht an sich genommen hatte und dieses als Tatmotiv keine Rolle spielte?
Gorm Ordal, der sich unter den gegebenen Umständen erstaunlich schnell wieder gefasst hatte, half der Polizei beim Auswählen von Schränken und Schubladen, in denen seine Mutter die Scheine möglicherweise hätte verstecken können, doch es wurde kein Geld gefunden. Eine Flasche Rotwein der beliebten Sorte Cappella stand auf dem Esstisch im Wohnzimmer, und der junge Mann zweifelte nicht, dass sie die drei Steaks sowie das frische Gemüse, das im Kühlschrank lag, hätte begleiten sollen. Außerdem ließen die angeschaltete Stereoanlage sowie die eingelegte Frank Sinatra-CD vermuten – wie er Kolbjørnsen unter Tränen versicherte –, dass sie einen glücklichen Nachmittag verlebt hatte, bevor das Furchtbare geschehen war. Auch hatte sie Kaffee getrunken und in der Küche die Zeitung gelesen. Was bedeutete, dass seine Mutter unmittelbar nach ihrer Heimkehr ermordet worden war. Wie hätte sich der Täter Zugang verschaffen sollen, wenn sie ihn nicht gekannt hatte? Vielleicht hatte er sich als Vertreter oder Ähnliches ausgegeben.
Die wahrscheinliche Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Balke kehrte aus der Nachbarschaft zurück und konnte berichten, dass ein Mann namens Preben Henriksen auf dem Heimweg um ziemlich exakt zehn Minuten vor halb sechs in gemächlichem Tempo am Bungalow vorbeigefahren war und Frau Ordal zugewinkt hatte, während diese – ohne Mantel! – gerade den Briefkasten geleert hatte. Sie hatte zurückgewinkt. Nur eine knappe Minute später, nachdem Henriksen seinen Wagen zwei Häuser weiter in die Garage gestellt, das Tor geschlossen und seinen Briefkasten geleert hatte, war ein Mann an ihm vorübergehastet, wenn nicht gelaufen, und in Richtung Olav Engelbrektssons allé verschwunden. Henriksen hatte den Mann nicht beschreiben können, wusste auch nicht zu sagen, ob er jung oder alt gewesen war, erinnerte sich bloß an dessen dunkle Kleidung. Nein, er hatte nicht gesehen, ob er aus dem Vorgarten von Vibeke Ordal gekommen war, doch mit Sicherheit aus dieser Richtung. Vor allem war ihm der Mann aufgefallen, weil er es so eilig gehabt hatte.
Kolbjørnsen hielt es durchaus für möglich, dass der Täter Vibeke Ordal auf der Bank beobachtet hatte und ihr dann nach Hause gefolgt war. Ebenso wahrscheinlich war es, dass er sich ins Haus geschlichen hatte, während sie den Briefkasten leerte. Vermutlich war sie überwältigt und ermordet worden, nachdem sie in die Küche zurückgekehrt war, in der sich der Eindringling gerade die Beute sicherte. Falls es sich beim Mörder um die Person handelte, die Henriksen beobachtet hatte, konnten sie zumindest den Tatzeitpunkt sehr genau bestimmen.
Zumindest.
Alles andere – das Wichtigste – war nach wie vor ein Rätsel. Der unbekannte Täter, sofern es sich um einen Mann handelte, war vermutlich über alle Berge.
Kolbjørnsens Laune wurde auch nicht besser, als gegen 23 Uhr ein altbekanntes Gesicht vor dem Haus auftauchte. Er begegnete ihm auf der Treppe zur Haustür. Mit Rücksicht auf die Schwere des Falls hatte er seine Mitarbeiter angewiesen, anstelle des Polizeifunks, der von nahezu jedem abgehört werden konnte, ihre Handys zu benutzen. Jemand musste Ivar Damgård, einem von zwei Journalisten, die für den Trondheimer Anzeiger die Kriminalfälle recherchierten, einen Tipp gegeben haben. Der Kommissar betrachtete ihn im Grunde als netten Kerl, der nur seinen Job erledigte, doch heute Abend legte er auf seine Gegenwart absolut keinen Wert.
»Wer hat Sie informiert, Damgård?«
»Das werde ich Ihnen schon sagen, vorausgesetzt, Sie erzählen mir, was geschehen ist.«
Kolbjørnsen warf einen Blick auf die Straße. Gott sei Dank hatten sich vor dem Zaun noch nicht allzu viele Schaulustige versammelt. »Das muss Kubben entscheiden.«
Der Polizeioberrat wurde hinzugezogen. Auch er verlangte den Namen des Informanten, bevor er seinerseits Informationen herausgab.
Ivar Damgård lächelte. Es war ihm anzusehen, dass er bereits eine ganze Menge wusste. »Mein Informant heißt Preben Henriksen und wohnt gleich dort drüben. Er arbeitet als Setzer bei uns. Ein Polizist wollte von ihm wissen, ob er in den letzten Stunden etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte, und als Henriksen sagte, er habe einen unbekannten Mann die Straße entlanghasten sehen, klärte ihn der Beamte darüber auf, dass es sich vermutlich um einen brutalen Gewaltverbrecher handelte.«
»Was haben Sie doch für ein Glück mit Ihren gesprächigen Kollegen«, sagte Kubben, der froh gewesen wäre, wenn der junge Balke sein Mundwerk im Zaum gehalten hätte.
»Das können Sie laut sagen. Die Bewohnerin dieses Hauses wurde ausgeraubt und ermordet, nicht wahr?«
»Wenn Sie ihren Namen bis auf weiteres geheim halten, gebe ich Ihnen eine Kurzversion der Geschehnisse. Sie kennen die Spielregeln.«
Der Journalist nickte und zückte seinen Notizblock.
Danach blickte er verstohlen zum Küchenfenster hinüber und äußerte den Wunsch, das Haus betreten zu dürfen, was ihm jedoch verwehrt wurde. Man gestand ihm allenfalls zu, eine Außenaufnahme des Bungalows zu machen. Damgård warf einen Blick auf seine Armbanduhr und war mit dem Erreichten zufrieden. Wenn die Nachricht morgen in der Zeitung stehen sollte, musste er sich sputen. Nur eines wollte er noch wissen: »Der Täter lief also vermutlich in Richtung Olav Engelbrektssons allé davon?«
Kolbjørnsen und Kubben nickten bestätigend.
»Womit nicht auszuschließen ist, dass er nach Østmarkneset wollte«, fügte Damgård listig hinzu.
»Das ist einzig und allein Ihre Schlussfolgerung.«
Kolbjørnsen wusste, worauf der Journalist anspielte, denn auch ihm war diese Möglichkeit schon in den Sinn gekommen. Nur einen knappen Kilometer entfernt befand sich Trøndelags Psychiatrisches Krankenhaus, dessen teils gewalttätige Patienten unter Verschluss gehalten wurden. Konnte sich einer von ihnen unerlaubt Ausgang verschafft haben?
Er seufzte. Keine sechs Stunden nach dem Tod Vibeke Ordals hatten die Spekulationen begonnen – auch in seinem Kopf.