Читать книгу Das dritte Opfer - Fredrik Skagen - Страница 9

Bis vor kurzem

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hatten beide ein eigenes Büro im Pressehaus in Heimdal gehabt. Doch aus praktischen Gründen – es verging selten eine längere Zeit, ohne dass einer von ihnen das Bedürfnis hatte, mit dem anderen zu reden – bekamen sie die Erlaubnis, die Trennwand einzureißen. Obwohl beide dadurch ein paar Regalmeter einbüßten, machte ihr neues Büro einen ziemlich geräumigen und luftigen Eindruck. Außerdem hatten sie es nun nicht mehr nötig, ständig aufzustehen, hinüberzulaufen und sich immerfort im Türrahmen des anderen aufzuhalten. Kurz gesagt, so ihre Argumentation, führe die Neuregelung zu großer Zeitersparnis, woraufhin der Chefredakteur seine Genehmigung erteilt hatte.

Nun konnten beide ihre Kommunikation an dem Ort aufrechterhalten, der ihnen am besten gefiel, in ihren vertauten Bürostühlen, mit Blick auf die aktuellen Unterlagen. Natürlich sprachen sie nicht bei jeder Gelegenheit miteinander, wie manche hätten befürchten können. Vor allem taten sie es, wenn sie sich in aktuellen Fällen auf dem Laufenden halten wollten, was allerdings ziemlich häufig vorkam. Im Großen und Ganzen teilten sie sich die Aufgaben brüderlich, bildeten jedoch gleichzeitig ein Team, das, wenn es darauf ankam, fest zusammenhielt.

Ein einzigartiges symbiotisches Phänomen, wie böse Zungen behaupteten. Im Pressehaus waren sie früher mit einer Mischung aus Neid und Arroganz als Starsky und Hutch bezeichnet worden. Es gab sogar Nachrichtenredakteure, die es als minderwertig betrachteten, sich mit alltäglicher Kriminalität beschäftigen zu müssen, und es kam nur selten vor, dass Berufsanfänger sich um einen Platz in der kleinen Krimiredaktion bemühten. Wie auch immer, am Tag, an dem die Trennwand fiel, wurden die beiden Laurel und Hardy getauft, eine Bezeichnung, die zum Glück für ihre Erfinder weder William noch Ivar etwas ausmachte. »Wie kindisch ihr seid«, war Ivars lapidarer Kommentar. Falls die beiden noch andere Ziele verfolgten als das ehrenwerte, möglichst gute Arbeit zu leisten, so sprachen sie jedenfalls nicht davon. Das Wichtigste für sie war ihre enge Kooperation, ihre gemeinsame Wellenlinie sowie ihr Gespür dafür, welche Themen in welcher Form publiziert werden sollten.

Von Natur aus hatten die beiden wenig Gemeinsamkeiten. Ivar zum Beispiel hatte eine sehr forsche Art – normalerweise ein Vorteil für einen Journalisten –, während William introvertiert veranlagt war. Ivar platzte auf Pressekonferenzen der Polizei manchmal mit der ersten Frage heraus, noch ehe das Startsignal für die Journalisten gegeben worden war. William pflegte zu warten, bis er an der Reihe war. Auch fragte er sehr präzise, während Ivar meist mehrere Antworten gleichzeitig einforderte. Ivar liebte es zu diskutieren, während William sich in der Rolle des Zuhörers am besten gefiel.

Sie waren ungefähr gleich alt, sahen jedoch grundverschieden aus. Ivar Damgård war mit seinen strohblonden Haaren, den leuchtenden Augen und seinem getrimmten Vollbart eine markante Erscheinung. Manche meinten, er sehe aus wie ein richtiger Macho, obwohl ihm niemand übertriebene Eitelkeit vorwerfen konnte. Er hasste jede Art der Körperbetätigung. William Schrøder war sehr viel besser in Form, aber einen halben Kopf kleiner und kam mit seinen spärlichen, aschblonden Haaren wohl kaum als Model für ein Frisurenmagazin infrage. Im Gegensatz zu seinem Kollegen, dessen wohlgenährter Bauch seit Jahren nicht zu verhehlen war, hatte er eine durch und durch schlanke, beinahe magere Figur. Er trug eine Brille, war stets sorgfältig gekleidet und machte einen ausgeprägt intellektuellen Eindruck, während Ivar sich sportlicher kleidete, immer noch ohne Brille auskam und derjenige von ihnen war, der öfter ins Kino ging und ein Buch nach dem anderen verschlang. Fußball im Fernsehen hingegen konnte er nicht ausstehen, während William nur selten ein Spiel ausließ.

Obwohl ihr persönlicher Background sich ähnelte, beide verheiratet waren und zwei Kinder hatten, trafen sie sich nur selten außerhalb der Arbeit. Dass sie nicht auch noch die Freizeit miteinander verbrachten, erklärte vermutlich am besten, warum sie in der Redaktion so gut miteinander auskamen. Da sie sich ein Büro teilten, mussten sie auch tolerieren, dass einer telefonierte, während der andere am Computer arbeitete, womit beide jedoch glänzend zurechtkamen. Außerdem waren sie ja nicht immer gemeinsam in einem Raum. Ging bei ihnen die Meldung über einen Überfall oder Einbruch ein, machte sich meist einer von ihnen auf den Weg zum Tatort, während der andere oft einen Großteil des Tages im Gerichtsgebäude zubrachte, um später anschaulich und objektiv über interessante Prozesse berichten zu können, von denen es nicht wenige gab. Manchmal ereignete sich so vieles gleichzeitig, dass weitere Kollegen hinzugezogen werden mussten. Doch im Großen und Ganzen bewältigten sie die anfallende Arbeit allein.

Gab einer von ihnen den Ton an? Wenn es um definitive Entscheidungen ging, behielt William in der Regel die Oberhand, weil er als Kriminalreporter über die größere Erfahrung verfügte.

Als er am Montagmorgen, dem 24. Januar, sein Büro betrat, befand sich Ivar bereits im wenige Kilometer entfernten Gerichtsgebäude in der Munkegata, in dem der Strafverteidiger in dieser Woche versuchte, die Schöffen davon zu überzeugen, dass es im Fall des Mannes, der seine Freundin vergiftet hatte, eine Reihe mildernder Umstände gab. Obwohl das Urteil bereits festzustehen schien, war der Prozess so spektakulär, dass viele Journalisten aus Oslo angereist waren, um täglich von ihm zu berichten.

William stellte die Kaffeetasse vorsichtig auf einen freien Fleck zwischen die Papierhaufen. Dann setzte er sich auf den Stuhl, rollte näher an den Schreibtisch heran und schaute auf seine Notizen. Es gab keine dringliche Arbeit, nur einige Telefonanrufe mussten erledigt werden. Er hatte Ivar unter anderem versprochen, sich beim Polizeipräsidium nach dem aktuellen Stand im Lade-Mordfall zu erkundigen. Bevor er den Hörer zur Hand nahm, warf er einen Blick in die Tagesausgabe der Zeitung und las im Polizeijournal noch einmal nach, was sich am Samstagabend zugetragen hatte:

23 Uhr 34. Gewaltsamer Ehestreit in Risvollan. Ein Mann fügte seiner einunddreißigjährigen Ehefrau im Streit eine blutende Wunde an der Schläfe zu. Ärztliche Behandlung war nicht nötig. Ob die Frau ihren Mann anzeigen wird, ist ungewiss.

Aus Sicht der Polizei klang das so einfach, dachte William. Nichts über die Hintergründe. Kein Wort davon, dass die Frau nicht zum ersten Mal misshandelt worden war. Keine Erwähnung des Alkoholgestanks in der Wohnung oder der verschreckten Kinder im Türrahmen. Keine Beschreibung ihrer Hilflosigkeit oder der Vergebung seitens Frau Danielsens, die William immer noch unbegreiflich war. Niemand wusste besser als die Mitarbeiter das Sozialamts, dass solch ein Milieu Gift für die Kinder war, doch gab es keinerlei Bestrebungen, Mutter und Kindern eine andere Bleibe anzubieten.

Im Grunde konnte er Solveigs Einstellung gut nachvollziehen. Aber kam Journalisten wie ihm eine Überwachungsfunktion zu? An wen sollten sie sich wenden, wenn die Frau selbst es unterließ, ihren Mann anzuzeigen? An Verwandte des Opfers, an einkommensstarke Freunde des Paares? An motivierte und mitfühlende Leser? An Institutionen wie Sozialamt, Familienberatung oder Kinderschutzbund? (Als wären die unhaltbaren Verhältnisse in vielen Familien nicht allgemein bekannt!) Wann war der Punkt gekommen, an dem man Eltern ihre Kinder wegnehmen musste? Geeignete Pflegeeltern gab es nicht gerade in Hülle und Fülle. Manchmal waren sie die richtige Lösung, doch kam es auch vor, dass die barmherzigen Samariter nicht genügend an dem Wohl der Kinder interessiert waren und sie damit zum Spielball eines bürokratischen Systems machten, dem Verordnungen und Paragrafen wichtiger waren humanitäre Aspekte. Doch andere zu kritisieren war schließlich kein Kunststück. Waren er und Solveig denn bereit, ihr Heim für unglückliche kleine Seelen zu öffnen, mit allen Komplikationen, die das mit sich führte? In der Egogesellschaft war es üblich, dass jeder genug mit seinen eigenen Problemen zu tun hatte. Wenn man von der Arbeit nach Hause kam, verdiente man Ruhe und Frieden und wollte sich nicht mit weiteren Problemen herumschlagen. Und war die Vernachlässigung einzelner Kinder nicht ein Luxusproblem, verglichen mit dem Elend, das in großen Teilen der Welt herrschte?

Ein weiteres Mal musste William sich eingestehen, keine Patentlösung parat zu haben. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Durchwahl von Arne Kolbjørnsen. Während er es klingeln ließ, nippte er an seiner Kaffeetasse und streckte die Beine unter den Schreibtisch. Etwas mit seinem linken Knie war nicht in Ordnung. Hatte er sich doch etwas zugezogen, als er gestern im Schnee gestürzt war?

»Kolbjørnsen!«, bellte es am anderen Ende.

William verstand sofort, dass der Mann mehr als genug zu tun hatte. Eigentlich war es ein Wunder, dass er überhaupt abgehoben hatte. Er sah ihn vor sich, den hartnäckig arbeitenden rothaarigen Polizeibeamten, der die Karriereleiter Stufe für Stufe emporgestiegen war; der seinen Bart abrasiert hatte, nachdem er zum Kommissar befördert worden war; der, wie er selbst, im Stillen seine Arbeit verrichtete, nicht viel Aufhebens um die eigene Person machte, jedoch stets tat, was von ihm erwartet wurde. Im Moment war er mit einem rätselhaften Fall konfrontiert, der sich nicht ohne weiteres lösen ließ, und sein Chef, Nils Storm, erwog sicherlich, die Experten von KRIPOS, dem Zentralorgan der norwegischen Kriminalpolizei, einzuschalten.

»Hier ist William Schrøder. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

»Aber nein, ich habe mich schon nach Ihrer Stimme gesehnt.« Trotz seiner Vertrauen erweckenden Sachlichkeit schlug Kolbjørnsen zuweilen einen ironischen Ton an, der den meisten Polizisten fremd war. »Sie wollen sicher etwas zum Mord an Vibeke Ordal erfahren, nicht wahr?«

»Richtig geraten. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«

»Leider nein.«

»Irgendwelche Spuren muss der Täter doch hinterlassen haben.«

»Aber nicht in Form von Fingerabdrücken auf den Türklinken. Und falls er seinem Opfer im Garten aufgelauert haben sollte, hat der Neuschnee seine Fußspuren unkenntlich gemacht. Alles, was wir gefunden haben, sind ein paar nasse Zigarettenstummel, die an der Hauswand, in der Nähe des Küchenfensters, lagen, aber die können natürlich schon vorher da gewesen sein.«

»Selbst gedrehte Zigaretten?«

»Vermutlich.«

»Sind Sie nicht der Meinung, dass die Zeitung ihre Leser zur Mithilfe aufrufen sollte?«

»Wenn ich das wäre, hätten Sie es erfahren.«

»Was ist mit Østmarka?«

»Sie meinen das Krankenhaus? In der betreffenden Abteilung ist niemand vermisst worden. Außerdem hält es das Personal für sehr unwahrscheinlich, dass einer der Patienten in der Lage sein sollte, eine solche Tat zu verüben und nachher zu vertuschen. Die in Frage kommenden Personen hätten sich in diesem Fall noch länger im Haus des Opfers aufgehalten oder wären durch die Nachbarschaft gestreift. Ein geistig verwirrter Mensch hätte niemals die vielen Vorsichtsmaßnahmen treffen können, die erforderlich waren, um erfolgreich zu sein.«

»Vielleicht hat irgendein abgebrannter Krankenpfleger die Gelegenheit beim Schopf gepackt, weil er wusste, dass man die Patienten, nicht aber die Angestellten verdächtigen würde.«

»Sie sollten Privatdetektiv werden.«

William lächelte. Sie kannten einander ziemlich gut und wussten genau, ab welchem Punkt die Polizei der Presse keine weiteren Informationen liefern konnte. »Ivar Damgård hat ein Gespräch mit der Bankangestellten geführt, die Vibeke Ordal bedient hatte. Leider konnte sie keine Beschreibung des Mannes geben, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Schalterhalle befand.«

»Das ist richtig«, sagte Kolbjørnsen. »Er hatte ihr den Rücken zugekehrt.«

»Und er verließ die Bank unmittelbar nach Frau Ordal.«

»Sieht so aus. Noch mehr Details, die wir Einfallspinsel außer Acht gelassen haben?«

»Ja, die Banknoten. Falls es sich wirklich um neue Scheine gehandelt hat, müssten die Nummern bekannt sein.«

»Vielen Dank für den Hinweis, aber das haben wir schon überprüft. Ausgehend vom nächsten Geldpaket, das bereitlag, wissen wir genau, um welche Nummern es sich handelt.«

»Die Sie vielleicht veröffentlichen sollten.«

»Haben wir schon, aber nur gegenüber den richtigen Instanzen. Postämter, Banken, Tankstellen. Und sicher kennen Sie auch den Grund dafür, Sherlock.«

Das tat William. Eine Veröffentlichung der Nummern konnte den Täter davon abhalten, die Scheine in Umlauf zu bringen. »Für heute habe ich keine weiteren Fragen mehr, vielen Dank.«

»Lassen Sie bald wieder von sich hören, damit wir im Präsidium über den Stand Ihrer Ermittlungen unterrichtet sind.«

»Versprochen. Auf Wiederhören.«

Er schluckte die spitze Bemerkung und brachte lächelnd ein paar Notizen zu Papier, trank seinen Kaffee und fragte sich, ob er im Moment noch irgendetwas Sinnvolles bezüglich des Mordes am Victoria Bachkes vei unternehmen konnte.

Einige Stunden später ging er zum Mittagessen in die Kantine. Als er Henriksen, den Setzer, erblickte, der einen schwarzen Anzug trug und ein Stück Käsekuchen aß, ging er mit seinem Lunchpaket zu ihm hinüber.

»Siehst ja aus wie aus dem Ei gepellt, Preben. Hast du heute noch was vor?«

»Das solltest du eigentlich wissen. Nachher ist die Beerdigung.«

»Oh, entschuldige. Kanntest du Vibeke Ordal gut?«

»Zumindest besser als die meisten anderen Nachbarn. Meine Frau war mit ihr befreundet. Außerdem hatten wir früher Kontakt zu Harald Tranøy, solange er noch mit ihr zusammenwohnte.«

»Wurden sie nicht vor sieben, acht Jahren geschieden?«

»So in etwa. Eigentlich war mir der Kerl ziemlich unsympathisch, weil er sich ständig irgendwelche Gartengeräte von uns ausgeliehen hat. Dafür war er uns allerdings auch behilflich, wenn wir mal einen juristischen Rat brauchten.«

»Ein Anwalt, jetzt wohnhaft in Oslo?«

»Richtig. Mit seiner neuen Freundin. Ich hoffe, er behandelt sie besser als Vibeke.«

»Hat sie unter ihm gelitten?«

»Vor allem psychisch, glaube ich. Außerdem ist er ein verdammter Geizkragen.«

»Aber er hatte wohl keinen Grund ... sie zu ermorden?«

Henriksen, der sich gerade ein großes Stück Kuchen in den Mund schob, erstarrte und schaute ihn erschrocken an. »Nie im Leben. Und schon gar nicht aufgrund des Geldes, denn er ist zwar Anwalt, aber Gorm ist Alleinerbe.«

»Den Sohn kennst du auch?«

»Ja, natürlich. Ein netter Junge.« Der Setzer kaute weiter. »Er spielte eine Weile in der Jugendmannschaft von Trygg, während ich dort Trainer war. Im Moment hat er wohl hauptsächlich das Studium und seine Freundin im Kopf. Zurzeit wohnen sie im Studentenwohnheim in Moholt, aber vielleicht werden sie in das Haus seiner Mutter ziehen. Falls Gorm dazu in der Lage ist.«

William nickte, dachte an all das Blut, das er im Traum gesehen hatte, und daran, wir schrecklich es für den Sohn gewesen sein musste, die Leiche seiner Mutter zu finden. »Der Unbekannte, der an dir vorbeigelaufen ist, kannst du dich noch an Einzelheiten erinnern?«

»Nur an die, von denen ich Ivar schon erzählt habe. Hätte ich gewusst, was gerade geschehen war, hätte ich natürlich besser aufgepasst ... mir den Kerl geschnappt und ihn mit bloßen Händen erwürgt!«

»Sie stand am Briefkasten, als du an ihr vorbeifuhrst?«

»Ja, wir haben uns zugewinkt.«

»Aber da hast du nichts von einem Mann gesehen, der sich dem Haus näherte?«

Henriksen schluckte und ließ den Rest des Kuchens stehen, als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass er seiner Nachbarin an diesem Nachmittag zum letzten Mal zugewinkt hatte. »Ich bedaure fast, dass ich Ivar den Tipp gegeben habe. Auch die Polizei stellt mir ständig dieselben Fragen. Wie zum Teufel hätte ich denn ahnen können, was im nächsten Moment passieren würde?«

»Natürlich konntest du das nicht.«

»Wenn dich die Sache so brennend interessiert, dann komm doch mit zur Beerdigung. Ich fahre in einer halben Stunde los.«

William nickte erneut. Er konnte sich dezent im Hintergrund halten und in die Lage der Hinterbliebenen hineinversetzen. Er wusste, dass die Neugier seine eigentliche Triebfeder war, sowie die klammheimliche Hoffnung, der Mörder könne sich unter den Trauergästen befinden, wie dies manchmal in Romanen und Filmen vorkam.

»Was mich wundert«, bemerkte Henriksen nach einer Weile, »ist, dass die Polizei eine so rasche Beerdigung zulässt. Ich meine, Vibeke Ordal wurde doch erst vor elf Tagen ermordet. Ich dachte, die Experten würden für die Untersuchung der Leiche mehrere Wochen benötigen.«

»Sie wurde einen Tag nach ihrer Ermordung obduziert. Nach meinen Kenntnissen gab es keinen Grund, die Beerdigung aufzuschieben. Schließlich wurde sie nicht vergiftet, wie in dem Fall, der gerade verhandelt wird.«

»Ich kann nur hoffen, dass sie den Kerl möglichst bald schnappen. Meine Frau sagt, sie findet keine Ruhe, bevor sie nicht eine große Mauer ums Krankenhaus gebaut haben.«

Das Begräbnis begann um halb zwei. Die Trauerfeier fand in der Lademoen Kapelle in Voldsminde statt. William folgte Henriksen in seinem eigenen Wagen und blieb, nachdem er Henriksens Frau begrüßt hatte und diese mit ihrem Mann hineingegangen war, noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen, um die Leute zu beobachten, die der Reihe nach auf den Parkplatz einbogen und aus ihren Autos stiegen. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, und obwohl die feuchten, weißen Schneeflocken, die vom Himmel fielen, für eine verspätete Weihnachtsstimmung sorgten, konnten sie auch als Versuch eines gnädigen Gottes betrachtet werden, die Schwere des Abschieds ein wenig zu mildern. Bei zwei Autos handelte es sich um neue Toyotas mit dem Logo der Firma, für die Vibeke Ordal gearbeitet hatte. Er erkannte einen der Mitarbeiter, der ihm vor ein paar Jahren einen gebrauchten Corolla verkauft hatte.

Unter den Gästen bemerkte er auch einige Gesichter aus dem Sportmilieu, allen voran einen groß gewachsenen Mann seines Alters mit kupferroten Haaren und einem traurigen, dunklen Anzug. Hatte Kolbjørnsen Gleiches im Sinn wie er selbst, oder war es üblich, dass die Polizei den Ermordeten die letzte Ehre erwies?

Um fünf vor halb zwei, als der Strom der Besucher nachließ, verließ William widerwillig seinen Wagen und betrat die hell erleuchtete Kapelle. Ein Mann in dunklem Anzug, der sich am Eingang postiert hatte, reichte ihm ein zusammengefaltetes Blatt mit den Liedtexten, und die Töne der einsetzenden Orgel bedrückten ihn so stark, wie er befürchtet hatte. Der Anblick des Sargs sowie der süßliche Duft der Blumen verstärkten sein Gefühl, an einer Trauer teilzuhaben, zu der er eigentlich keinen Anlass hatte. Hier war er ein ebenso unbeteiligter Zuschauer wie in der ärmlichen Wohnung in Risvollan. Joakim, sein Vater, hatte es ihm damals gesagt, nachdem er ihm erzählt hatte, er würde beim Trondheimer Anzeiger anfangen: »Du wirst vieles zu sehen bekommen, mein Junge, darunter auch Dinge, auf die du lieber verzichten würdest. Aber das gehört wohl zum Alltag eines Journalisten.« Der Vater hatte Recht behalten, doch im Gegensatz zu ihm war Solveig der Meinung, er müsse sich auch persönlich für die wichtigen Fälle interessieren, über die er schrieb. Aber das war ihm nicht möglich, denn je mehr er vom Privatleben anderer Menschen erfuhr, desto stärker musste er darauf achten, einen gewissen Abstand zu wahren. Ließ er das Leid fremder Personen zu nahe an sich herankommen, dann war der Griff zur Flasche oder anderen Drogen vorprogrammiert. Geistliche zum Beispiel, die oftmals mehrere Begräbnisse am Tag durchzuführen hatten, konnten unmöglich so tief mit den Trauernden mitfühlen, wie ihre salbungsvollen Stimmen vorgaben. Kein Wunder, dass man vielen von ihnen die Routine anmerkte. Als Berufsanfänger, der von zahlreichen Beerdigungen berichten musste, hatte er versucht, sich in die Situation eines Pfarrers hineinzuversetzen, und es dauerte nicht lange, bis er seine eigenen Formulierungen auswendig kannte:

Die Kirche war feierlich mit Blumen und Kerzen geschmückt. Auf dem Sarg lag ein Bouquet der engsten Familienangehörigen, das aus dunkelroten Rosen bestand ...

Er nahm in der hintersten Reihe Platz, ein Stück von Kolbjørnsen entfernt, dessen hellwacher Blick die Anwesenheit des Trondheimer Anzeigers mit unmerklichem Lächeln quittierte. Falls sich der Täter wider alle Wahrscheinlichkeit unter der Schar barhäuptiger Köpfe befand, war es William unmöglich, ihn zu identifizieren. Schämen sollte er sich, denn er hatte hier nichts zu suchen.

Ein Trio spielte »So nimm denn meine Hände«, und nach der Beerdigung wurde »Schön ist die Erde« angestimmt.

Er bemerkte, dass er die Deckenbalken zählte, während der Pfarrer sprach. Erschrocken zuckte er zusammen, wie ein kleiner Junge, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Dann versuchte er, sich das Gesicht der Toten im Sarg vorzustellen, den tiefen Schnitt in ihrem weißen Hals, von dem man das Blut sorgfältig entfernt hatte, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht weil er sie niemals lebend gesehen hatte, vielleicht weil er sich im Dienst befand und die äußeren Umstände ohnehin nicht beeinflussen konnte.

Danach erhoben sich alle und blieben eine Weile unbeweglich stehen, bevor ein junger Mann, Gorm Ordal, gebeugten Kopfes und seine Freundin im Arm haltend, langsam durch den Mittelgang schritt. Ein Stück dahinter folgte ihm ein Mann mittleren Alters mit grau melierten Haaren und geröteten Augen. Die Ähnlichkeit mit Gorm war so auffällig, dass William sofort begriff, dass es sich um den Vater handelte. Harald Tranøy war aus Oslo gekommen, um am Begräbnis seiner ehemaligen Frau teilzunehmen. Anständige Menschen taten so etwas offenbar.

Er empfand Erleichterung, als er wieder den Schneematsch unter seinen Füßen spürte. Während er die Tür seines Autos öffnete, legte sich eine Hand auf seine Schulter.

»Hallo.« Es war der Toyota-Verkäufer namens Knut Petter. Man sah ihm an, dass er geweint hatte.

»Eine furchtbare Geschichte«, sagte William.

»Völlig unbegreiflich.«

»War sie beliebt bei ihren Kollegen?«

»Sehr beliebt. Fast die gesamte Belegschaft ist hier.«

Der Mann hatte sich eine Zigarette angezündet, und William bekam Lust, es ihm gleichzutun. Stattdessen ergriff er die Gelegenheit zu einer weiteren Frage: »Niemand von Ihnen wusste, dass sie an diesem Tag im Lotto gewonnen hatte?«

»Nein, ich denke nicht. Vibeke wollte es anscheinend lieber für sich behalten. Aber die Polizei hat uns natürlich auch schon gelöchert.« Er machte eine mürrische Kopfbewegung in Richtung Kolbjørnsen, der sich wenige Meter entfernt mit Harald Tranøy unterhielt. »Als hätte irgendjemand von uns Vibeke auch nur ein Haar krümmen können. Kommen Sie noch mit zum gemeinsamen Essen?«

»Nein, ich kannte sie nicht persönlich.«

»Verstehe. Sie sind hier, um über das Begräbnis zu berichten.«

»Nein, nein.«

»Vielleicht war der Mörder sogar unter uns. So was soll ja vorkommen. Wenn er auch nicht an den Tatort zurückkehrt, sucht er vielleicht immer noch die Nähe zu seinem Opfer.«

William schüttelte den Kopf, begriff jedoch, dass er nicht der Einzige war, der eine lebhafte Fantasie besaß. Hingegen würde er nie so handeln wie seine Kollegen von der Boulevardpresse – von denen er allerdings niemand in der Kapelle erblickt hatte –, sich an die engsten Angehörigen wenden, sie fotografieren und nach ihren Gefühlen befragen. Den schamlosen Reportagen, die daraus entstanden, fehlte jede Spur echter Mitmenschlichkeit; sie befriedigten einzig und allein den unbändigen Drang der Leserschaft, Einblick in das Privatleben anderer Leute zu bekommen. Sowohl Dagbladet als auch VG hatten bereits Kurzinterviews mit Gorm Ordal veröffentlicht, die weder besonders sensibel noch erhellend waren. Auch in Norwegen war man auf dem Weg, individuelle Tragödien öffentlich auszuschlachten, was er nicht ausstehen konnte. Dort, wenn auch nicht auf allen Gebieten, verlief für ihn die Grenze, die moralisch verantwortlichen Journalismus von unverantwortlichem trennte. Unter anderem, weil es seine Pflicht war, Menschen, die zur Redseligkeit neigten, vor sich selbst zu schützen.

Kurz darauf befand er sich wieder auf dem Weg nach Heimdal, verfluchte einen Raser, der mit mindestens 110 km/h an ihm vorbeipreschte, hatte sich jedoch längst wieder beruhigt, als er mit einer Kaffeetasse in der Hand sein Büro betrat. In der Zwischenzeit war die Post für Laurel und Hardy eingetroffen. Einen der Briefe, die an Ivar persönlich adressiert waren, legte er auf dessen Schreibtisch. Danach putzte er seine Brillengläser, vertiefte sich eine Weile in kleinere Delikte und überlegte, ob es richtig gewesen war, das Sozialamt einzuschalten. Schließlich fiel ihm ein, dass eine Kollegin kurz vor Weihnachten einen langen Artikel geschrieben und festgestellt hatte, dass weitaus größere Mittel für den Kampf gegen familiäre Gewalt bereitgestellt werden müssten. Er zweifelte daran, dass der Artikel sein Ziel erreichen würde.

Dann eilte ein geschäftiger Ivar ins Zimmer und ließ sich sogleich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. »Ein Typ, der seine Freundin vergiftet, damit sie ihn nicht verlässt, ist ein ausgemachter Psychopath«, war seine brummende Kurzversion des heutigen Gerichtstages.

»Trotz so genannter verminderter Zurechnungsfähigkeit?«

»Ja, es scheint paradox, aber der Kerl ist hochintelligent.«

»Ich war auf der Beerdigung von Vibeke Ordal«, versuchte es William mit einem Themenwechsel.

»Wie nett von dir. Gibt’s was Neues?«

»Nein, eigentlich nicht. Da liegt übrigens ein Brief für dich.«

»Hm.« Ivar streckte die Hand aus, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. »Bestimmt wieder irgendein ungebetener Kommentar.«

Bei großen Fällen fehlte es nie an Kritik und Protesten von verschiedensten Seiten. Obwohl beide stets versuchten, den Gang der Verhandlung möglichst objektiv darzustellen, beschwerten sich die Angehörigen oft über die Art und Weise, in der die Aussagen von Angeklagten und Zeugen wiedergegeben wurden. Erneut versuchte William sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wurde jedoch von Ivars Lieblingsformulierung aus seinen Gedanken gerissen: »Ich glaub’, ich spinne!«

Er hob den Blick. Ivar hatte den Umschlag geöffnet und starrte mit offenem Mund auf das rote Blatt Papier, das er auseinander gefaltet hatte.

»Was ist das?«

»Sieh selbst.«

William nahm das Blatt. In der Mitte der DIN-A4-Seite standen nur vier Wörter, geschrieben mit großen Buchstaben:

Sie war die erste

Verwirrt drehte er das Blatt, doch die Rückseite war leer. Ivar untersuchte den Umschlag.

»Poststempel ist von Samstag, Trondheim. Natürlich kein Absender.«

Das konnte alles und nichts bedeuten, wusste William. In der Regel bedeutete es nichts. Doch in diesem Fall hatte er das unheimliche Gefühl, dass der Brief – der knappe schwarze Text auf blutrotem Grund – sehr viel mehr war als das Werk eines Verrückten. Beziehungsweise genau das. Die melodramatische Nachricht eines kranken Menschen, der nicht nur bedenkenlos und willkürlich mordete, sondern implizit damit drohte, die Tat zu wiederholen. Adressiert an Ivar Damgård, vermutlich, weil dieser den ersten Artikel über den Mord verfasst hatte.

Dann sah William, dass Ivar bereits zum Telefonhörer gegriffen hatte.

»Guten Tag, Herr Kolbjørnsen! Hier Damgård. Jetzt halten Sie sich fest, ich habe gerade einen anonymen Brief bekommen ...«

William betrachtete den Kollegen und versuchte aus dessen Mienenspiel auf den Gesprächsverlauf zu schließen. Durch einen Knopfdruck hätte er einen kleinen Lautsprecher aktivieren können, widerstand jedoch der Versuchung.

»Fingerabdrücke? Keine Angst, ich werde den Umschlag nur noch mit Samthandschuhen anfassen. Sieht so aus, als fühlte sich der Kerl von uns vernachlässigt ... Sie glauben, da erlaubt sich jemand einen Spaß ... wir sollten das nicht veröffentlichen? Bitte?« Ivar schwieg eine Weile und machte sich dann ein paar Notizen. »Das mit der Plastiktüte geht in Ordnung. Sie schicken einen Kurier? Alles klar ...«

Noch während er telefonierte, hatte Ivar eine Schreibtischschublade aufgezogen und eine Pinzette herausgeholt.

»Wir müssen auf jeden Fall ein paar Kopien machen, bevor wir das Schreiben aus der Hand geben«, knurrte er.

»Kolbjørnsen nimmt den Brief ernst?«

»Anfangs schien es gar nicht so. Doch die Ermittlungen treten anscheinend so auf der Stelle, dass er und Storm sich an jeden Strohhalm klammern. Was ist, wenn der Absender seine Drohung in die Tat umsetzt?« Mithilfe der Pinzette trug er den Umschlag und das Blatt Papier zum Kopierer. »Außerdem ...«

»Ja?«

»Außerdem hat mir Kolbjørnsen gesagt, dass ein identischer Brief auf seinem Schreibtisch lag, als er von der Beerdigung kam.«

Während Ivar sich auf das Kopieren konzentrierte, stand William auf, streckte den Arm aus und angelte sich den Block, warf einen Blick darauf und stellte fest, dass sie wieder einmal dieselben Überlegungen anstellten. Falls sie beide richtig vermuteten, standen sie – und nicht zuletzt die Polizei – dem schlimmsten Verbrechertypus von allen gegenüber, einer personifizierten Bedrohung, die zum Albtraum für die Allgemeinheit werden konnte. Ivar hatte ein einziges Wort notiert.

Serienmörder?

Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Das einzige Geräusch war das Summen des Kopierers.

Das dritte Opfer

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