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Am Sonntagmorgen

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hatte er Schwierigkeiten, einen unangenehmen Traum loszuwerden, der ihn in der Nacht gequält hatte. Er brauchte frische Luft, fuhr mit dem Auto bis an den Stadtrand und machte sich mit seinen Langlaufskiern auf den Weg. Solveig besuchte lieber eine Vernissage, während Heidi sich aus beidem nichts machte.

Das Wetter ließ allerdings zu wünschen übrig. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, es schneite stetig, und auch der Untergrund hätte besser sein können. Darum schnallte er schon bei Grønlia seine Skier ab, ging in die Hütte, reinigte seine beschlagenen Brillengläser und entdeckte, als er wieder freie Sicht hatte, ein loderndes Kaminfeuer – sowie einen guten Freund.

»Mistwetter«, stellte Oddvar fest, der mit einer etwa gleichaltrigen Frau an einem der Tische saß und Kaffee trank.

Oddvar Skaug war der einzige seiner alten Freunde, mit dem William immer noch Umgang pflegte. Er vertrat durchdachte Meinungen und hielt mit ihnen nicht hinterm Berg, vor allem wenn es um Frauen und Fußball ging. Sie gingen fast immer zusammen ins Lerkendalstadion, doch im Gegensatz zu William war Oddvar unverheiratet und kinderlos. Er besaß eine kleine Computerfirma namens Omega, die sich auf Firmenberatung spezialisiert hatte. Obwohl er für verschiedenste Unternehmen arbeitete, war er offenbar nicht clever genug, so viel zu verdienen wie manche seiner Konkurrenten, worüber er sich nur selten beklagte. Im Gegensatz zu den meisten von Williams Bekannten schien Geld für ihn keine dominierende Rolle zu spielen.

»Darf ich dir Gøril vorstellen?«

Ihr Nachname schien ihm im Moment entfallen zu sein, aber was machte das schon. Oddvars Damenbekanntschaften waren ebenso flüchtig wie Eintagsfliegen.

»William arbeitet für den Trondheimer Anzeiger, als Experte für Kriminalfälle.«

»Wie aufregend.«

Er setzte sich wieder die Brille auf und war sich nicht sicher, ob die Antwort ironisch gemeint war oder nicht. Doch der nordländisch gefärbte Klang ihrer Stimme sowie ihre neugierigen Augen unter den Locken schienen auf Letzteres hinzudeuten.

»Er kennt den Bodensatz der Gesellschaft und weiß genau, was in einem kranken Verbrecherhirn vor sich geht.«

»Jetzt hör schon auf, Oddvar. Ich bin ein ganz normaler Journalist.«

»Was du nicht sagst. Über den Mord, der vorletzte Woche in Lade passiert ist, bist du aber sicher gut informiert.«

»Auch die Polizei scheint bis jetzt ziemlich im Dunkeln zu tappen. Es sei denn, sie hält ihr Wissen zurück.«

»Sprecht ihr von der Frau, die ausgeraubt und erstochen wurde?«

»Die rechte Halsschlagader war durchtrennt«, präzisierte William.

»Mit einem Messer?«

»Möglicherweise. Aber im Grunde genommen habe ich keine Ahnung, was für eine Waffe benutzt wurde. Außerdem ist ein Kollege von mir für die Sache zuständig.« Normalerweise diskutierte er mit Außenstehenden nicht über aktuelle Fälle, schon gar nicht, wenn sie nichts Erhellendes beizutragen hatten. Was selten der Fall war.

»Die arme Frau«, fuhr sie fort. »Dabei hatte sie gerade im Lotto gewonnen.«

Als ob das einen Unterschied machte, dachte William. Er unterließ den Hinweis, dass der Lottogewinn die Tragödie vermutlich erst verursacht hatte. Musste sich eingestehen, dass er sich als Artikelschreiber wohl dieselben Gedanken gemacht hätte wie Ivar: Warum hatte die Frau die Dummheit begangen, so viel Bargeld abzuheben? Von Vorfreude zu tiefster Trauer hatte Ivar in Anspielung auf die psychische Verfassung des Sohnes getitelt. Kein Zweifel, dass die Art der journalistischen Aufbereitung die Meinung der Leser beeinflusste.

»So ist das Leben«, sagte Oddvar lapidar, »besser gesagt, der Tod.«

Genau, dachte William. Das war in diesem Fall der alles entscheidende Punkt. Die Familie Danielsen von gestern Abend hatte zwar kein Geld gewonnen. Daran hätte sich auch nichts geändert, wenn Frau Danielsen den Totoschein rechtzeitig abgegeben hätte. Doch dafür hatte der Familienstreit nicht mit einer tödlichen Katastrophe geendet.

»Bei uns vergeht keine Kaffeepause, in der wir nicht über die arme Frau sprechen«, sagte Gøril. »Es geschah ja schließlich ganz in der Nähe.«

»Sie wohnen in Lade?«

»Nein, aber ich arbeite in der Psychiatrischen Klinik. Nicht auszudenken, wenn es einer unserer Patienten getan haben sollte. Die meisten von ihnen sind nicht gezwungen, sich die ganze Zeit auf dem Krankenhausgelände aufzuhalten. Selbst aus dem am strengsten bewachten Gebäude, dort, wo sich die gewalttätigen Patienten aufhalten, könnte ohne weiteres mal jemand entwischen. Die Kontrollmaßnahmen sind nicht lückenlos.«

»Also ich kann mir das nicht vorstellen«, wandte Oddvar ein. »Dass eine Person mit massiven psychischen Problemen oder einer geistigen Störung in der Lage sein soll, jemanden auszurauben, zu ermorden und sich unbemerkt wieder in die Klinik zu schleichen. Und wie sollte sie überhaupt an ein scharfes Messer herankommen?«

»Das Gros der Patienten ist vollkommen harmlos. Trotzdem kann man natürlich nichts ausschließen. Die Fälle sind so verschieden und reichen von vorübergehenden Depressionen bis zu unheilbarer Schizophrenie. Manche sind in ihrem Verhalten absolut unberechenbar, und so viel Verstand gehört doch wohl nicht dazu, um zu begreifen, was es mit einer größeren Geldsumme auf sich hat. Die Tat selbst kann im Affekt geschehen sein. Und mit dem nötigen Glück ...«

Sie hielt plötzlich inne, als ärgere sie sich über die Andeutung, ihr Arbeitsplatz sei ein Hort potenzieller Mörder, die jederzeit ausbrechen und bestialische Verbrechen begehen könnten. In der langen, ehrenhaften Geschichte des Psychiatrischen Krankenhauses von Trøndelag war so etwas sicher noch nie vorgekommen, dachte William. Doch unwillkürlich begann ihn das Thema zu interessieren. Sogar Ivar hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen. Natürlich nicht in der Zeitung. Dort hatte er ausschließlich mitgeteilt, der Nachbar der Toten habe zum vermuteten Tatzeitpunkt einen Mann in Richtung Olav Engelbrektssons allé hasten sehen. Weitere Spekulationen waren Sache der Leser. Der Mann konnte den Weg nach rechts eingeschlagen haben, in Richtung Ringvebukta und Fagerheim. Hatte er sich hingegen nach links gewandt, wäre er entweder zur Ringve-Schule und später zur Lade-Kirche gelangt oder er hätte sich auf Lademoen und die Stadtmitte zu bewegt. Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit: Er hätte vor der Schule in den Østmarkveien abbiegen können, der seinerseits von der Olav Engelbrektssons allé gekreuzt wurde. Die Entfernung vom Victoria Bachkes vei bis zum Krankenhaus betrug nur wenige hundert Meter.

»Was tun Sie in der Klinik?«, fragte er

»Ich bin Krankenschwester auf der Abteilung II.«

»Ist die Polizei schon bei Ihnen gewesen?«

»Nicht bei uns. Aber die Abteilung VII wurde offenbar befragt, ob an dem betreffenden Nachmittag irgendwelche Patienten außer Haus gewesen seien. Ohne Ergebnis, soviel ich weiß.«

»Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass ein gefährlicher Patient sich unerlaubt Ausgang verschafft haben könnte?«

»Äh ... nein ... ich denke nicht.« Gøril zögerte. »Sie wollen meine Aussage doch nicht etwa in der Zeitung wiedergeben?«

»Klar, du kommst morgen bestimmt auf die Titelseite«, sagte Oddvar grinsend.

»Nein, keine Sorge«, entgegnete William. »Aber danke für Ihre Einschätzung.«

Dann stand er auf, verabschiedete sich von den beiden, gab seine leere Kaffeetasse ab und verließ die Hütte. Da der Schneeregen inzwischen in Regen übergegangen war, beschloss er, die kürzeste Loipe nach Storsvingen zu nehmen. Bei solchem Wetter, mit nassem Rücken, zog er sich leicht eine Erkältung zu.

Während eines sanften Anstiegs kam ihm plötzlich der Gedanke, der Mörder könne so berechnend gewesen sein, dass er absichtlich in Richtung Psychiatrische Klinik gelaufen war, um die Polizei in die Irre zu führen. Was ihm somit auch gelungen wäre.

In Wirklichkeit war der Mann vielleicht nach links abgebogen, als er den Østmarkveien erreichte, hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und war zum Parkplatz des Einkaufscenters zurückgekehrt. War dort in sein Auto gesprungen und hatte sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht handelte es sich um jemand, der nicht vorbestraft war, einen gerissenen, intelligenten Kerl, der, von Geldnöten getrieben, zufällig sein Opfer erblickt und die günstige Gelegenheit genutzt hatte. Es war keinesfalls sicher, dass er den Mord von Anfang an geplant hatte, doch konnte die Angst, wiedererkannt zu werden, alle Hemmungen verdrängt haben.

Vielleicht.

Während der letzten, flachen Abfahrt ging William in die Knie und spürte zufrieden, wie er beschleunigte. Langlauf hatte ihm immer viel Spaß gemacht.

Was war mit der Mordwaffe, dem Messer – falls es sich um ein Messer handelte?

Das konnte der Täter aus der Halterung an der Wand genommen haben, die sich neben dem Kühlschrank befand. (Ivar hatte sich durch das Küchenfenster einen raschen Einblick verschafft.) Konnte das Blut unter der Spüle abgewaschen, das Messer abgetrocknet und wieder an seinen Platz gehängt haben. Vibeke Ordal war eine passionierte Köchin gewesen, deren Messerset (erneut Ivar zufolge) ebenso umfangreich wie scharf geschliffen war.

Dachte William, bevor er kopfüber in den Schnee stürzte. Er hatte die Tour mit einem eleganten Telemarkschwung beenden wollen, bevor er den Schneewall entlang dem Storsvingen erreichte. Begriff, dass er einen Moment lang unkonzentriert gewesen war, weil ihn der Mord in Lade weitaus stärker beschäftigte, als er Oddvar und seiner Freundin gegenüber hatte zugeben wollen.

Unwillkürlich musste er wieder an seinen nächtlichen Traum denken. Bevor er sich ins Bett gelegt hatte, fürchtete er, im Traum ängstlichen Kindergesichtern zu begegnen, doch das geschah nicht. Stattdessen träumte er von einer Menge Blut, das zunächst aus der verwundeten Schläfe einer Frau lief und anschließend eine riesige braunrote Lache auf einem Küchenfußboden bildete, auf den er nie seinen Fuß gesetzt hatte.

Er verspürte ein unangenehmes Zittern, während er die Skier auf dem Autodach befestigte.

Das dritte Opfer

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