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2: Zum Lazarus

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Aber siehe! nicht der öffentliche Badestrand am Düsselstrand ist es ja, wo er liegt, sondern bloß sein hölzerner Zuber in der Bolkerstraße, in dem die weißlichen Schlieren seines Spermas allmählich zerlaufen. Und nicht die geliebte Hanni ist es, in die er sich so selig-süß verströmte, sondern bloß das geschändete Wasser im Bottich. Nicht mit Hanni hat er sich, wie er mit heißer Scham erkennt, gepaart – sich selbst hat er illusionistisch befriedigt, zum ersten Mal in dieser Form mit einem Orgasmus und Ejakulation. Und alles war bloße Phantasie:

Die Lotosblume erschließet

Ihr Kelchlein im Mondenlicht,

Doch statt des befruchtenden Lebens

Empfängt sie nur ein Gedicht ...

Sexuelle Selbstbefriedigung ist das. Masturbation oder Onanie. Er hat sich zum ersten Mal in seinem Leben sexuell selbst befriedigt, mit einem sexuellen Höhepunkt, den man Orgasmus nennt, und einem Samenerguss, den man Ejakulation nennt. Zwar kennt er ein ähnliches Gefühl der Lust auch schon von früher, von den Träumen seiner Kindheit – besonders abends vor dem Einschlafen – her, doch war es noch niemals so intensiv, immer nur ein warmes Kribbeln im Kopf???, und schon gar nicht so wirkungsvoll materiell, mit einer sichtbaren flüssigen Ejakulation. In dieser Form hat er noch nie masturbiert. Das ist neu und bedenklich und ruft allerlei neue Überlegungen hervor. Ist das nämlich normal? Ist das nicht vom normalen Geschlechtsleben abgewichen? Und ist diese Abweichung vom normalen Geschlechtsleben normal? Er hat aber viel Zeit zur Überlegung, denn es begleitet ihn von jetzt an sein Leben lang und wird geradezu zu einem Teil seines Lebens. Vermutlich macht Christian es mit seiner Freundin Heidi nicht anders. Mit seiner Vorstellung von Heidi, meine ich.

Und Hanni? seine geliebte Hanni? Sitzt auch sie im Zuber und befriedigt sich selbst?

Natürlich tut sie das. Natürlich befriedigt auch Hanni sich selbst. Mädchen sind da ja nicht anders als Jungen. Mädchen sind ja sogar noch früher geschlechtsreif als Jungen und spüren den gleichen Kitzel wie sie. Zunächst ist das aber nur seine Vermutung. Viel später erst lernt er die objektiven Befunde der Psychologen kennen: Es gibt wohl kaum, schreibt da Isidor Sadger von der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, – es gibt wohl kaum eine Abweichung vom normalen Geschlechtsleben, die derart allgemein verbreitet ist wie die Masturbation. Man darf ruhig behaupten, dass die Zahl der Onanisten, männlichen sowie weiblichen Geschlechts, das heißt, von Menschen, die irgend einmal in ihrem Leben sich länger oder kürzer selbst befriedigten, eine ganz ungeheuer große ist. Sogar als Gründe hierfür erscheinen, neben der Allgemeinheit und Intensität des Geschlechtsempfindens, vornehmlich zwei: dass die Masturbation ein allzeit parates Ausdrucksmittel ist für jegliche Art sexueller Gelüste, und ferner das große Trost- und Beruhigungsmittel, zu welchem man gern in jeglicher Not und Ungemach flüchtet. Einmal hat der Geistliche Schallmeyer, als er in die Gruppe kommt, einen roten Pickel auf der Nase. Harry entgeht nicht, wie Hanni, als sie es bemerkt, in eine Art frivole Aufregung gerät und mit schlüpfriger Miene ihre Banknachbarin darauf aufmerksam macht. Harry glaubt wohl zu wissen, was es mit so einem Pickel und Hannis Aufregung darüber auf sich hat. Er selbst spürt es manchmal im Moment höchster Wollust wie einen kleinen Blitz unter der Haut, einen punktuellen Stich, der eine Zeitlang anhält, und wenn er danach mit dem Finger hinkommt, bemerkt er an der Stelle ein leicht schmerzendes Bläschen. Meist entsteht ein solcher Pickel immer dann, wenn er einen sexuellen Höhepunkt gehabt hat. „Ich vermute“, so Ferenczi vom vorgenannten Verein, „dass die Wollust, die wie die Gemeingefühle überhaupt nicht lokalisierbar ist, dadurch entsteht, dass wenn der Genitalreiz sich gehörig summiert oder eine gewisse Spannung erreicht hat, er explosionsartig über das spinale Zentrum hinaus in die ganze Fühlsphäre, also auch in die Haut- und Sinneszentren ausstrahlt.“

Explosionsartig ist der richtige Ausdruck: Der Orgasmus ist wie eine Explosion! Es ist wohl so, dass in dem Augenblick der gespannte nervliche Reiz, der ihn auslöst – und der der Orgasmus ist –, sich als fließende Elektrizität, wie bei Galvanis Fröschen, über die Gehirnnerven fortpflanzt und es am Ende, wo diese unter der Gesichtshaut enden und der elektrische Impuls nicht weiter kann, zu einer Art Stau oder Zusammenprall mit der Haut kommt. Wahrscheinlich verbrennt und zerstört der winzige Stromstoß dort ein paar biologische Zellen. Die Haut reagiert auf diese Läsion mit einem kleinen Eiterbläschen, das bei der Berührung als schmerzhaft empfunden wird. Da es eine Kehrseite vorausgegangener Wollust ist, nennt Harry es ,Lustpusteln', wie er sie gelegentlich auch auf seiner Brust, Schulter und Rücken bemerkt. Nicht selten, wenn er das Bläschen mit dem Fingernagel aufdrückt und das Eiter austritt, spürt er sogar einen lustvollen Reiz im Kopf, der im Gehirn so licht wie eine kleine Helligkeit aufblitzt.

Offenbar verursacht der Druck auf den Pickel einen kleinen subkutanen Reiz, welcher wieder als Strom, aber diesmal in umgekehrter Richtung über den Nerv von der Haut zurück ins Gehirn wandert, von wo er ursprünglich herkam, und sich von dort über Dendriten und Axone der Nerven verzweigt und verästelt. So verbreitet es sich manchma lustvoll kribbelnd und prickelnd über ein ganzes Zellengewebe in seinem Kopf. Es ist gleichwie eine Art Mini- oder Mikroorgasmus, bei dem die Lust nicht durch die Entladung des ganzen Netzes, sondern nur durch den Blitz eines einzigen Nervs ausgelöst wird. Manchmal, wenn er an einem Pickel herumdrückt, spürt er es in einem ganzen Hirnteil knistern, so dass die dendritischen Verzweigungen, die zum Feuern des Hauptnervs führten, recht zahlreich gewesen sein müssen.

Sei dem neurologisch, wie immer es sei, jedenfalls ist die empfundene Lust eine sexuelle. Das ist der Grund, warum die Reizung einer solchen Stelle immer ein Lustgefühl verursacht, ansonsten die jungen Leute auch nicht ständig an ihren Pickeln herumfummeln würden. Man sieht sie nämlich immer an ihren Pickeln herumdrücken, so dass sie praktisch direkt in ihrem Gerhirn herumstochern und man ihnen in aller Öffentlichkeit beim Onanieren zusehen kann. Auch Betty fummelt auffällig oft so in ihrem Gesicht herum. Die Visage manch eines Zeitgenossen ist geradezu so etwas wie das Schlachtfeld seiner Sexualität, bei dem die inneren Explosionen ständig bis an die Peripherie durchschlagen … –

Auch Hanni muss das mit den suspekten Pickeln schon gemerkt haben, ansonsten sie nicht so anzüglich auf Schallmeyerns Nase herumreiten würde. Sie hat bei ihm etwas wiedergefunden, was sie von sich her gut genug kennt. Sieh an! das laszive Luder unterstellt ihre höchstpersönlichen Ekstasen auch bei dem zölibatären Pfaffen und ist so unverfroren, ihre Gesinnungsgenossen auch noch darauf hinzuweisen, wodurch sie ihren Prälaten gleichsam der Unzucht bezichtigt. Typisch Hanni! Harry, der sie genau dabei beobachtet, ist es um den Genossen Schallmeyer willen fast peinlich.

Dabei ist die kleine Denunziantin leider nicht willens, sich ein paar dieser Höhepunkte, die zu solch einer Lustschwäre führen, von Harry persönlich verschaffen zu lassen; wäre ihm doch nichts lieber, als ihr auf natürlichere Weise zu ein paar solcher authentischen Krater zu verhelfen! So kann er, als ihre Blicke sich zufällig treffen, nur so tun, als hätte er nichts von ihrem Intrigantentum gemerkt … –

Liebe! Sie ist die höchste und siegreichste aller Leidenschaften. Ihre weltbezwingende Stärke besteht aber in ihrer schrankenlosen Großmut, in ihrer fast übersinnlichen Uneigennützigkeit, in ihrer aufopferungssüchtigen Lebensverachtung. Für sie gibt es kein Gestern, und sie denkt an kein Morgen … Sie begehrt nur des heutigen Tages, aber diesen verlangt sie ganz, unverkürzt, unverkümmert … Sie will nichts davon aufsparen für die Zukunft und verschmäht die aufgewärmten Reste der Vergangenheit … „Vor mir Nacht, hinter mir Nacht“ ... Sie ist eine wandelnde Flamme zwischen zwei Finsternissen … Woher entsteht sie? … Aus unbegreiflich winzigen Fünkchen! … Wie endet sie? … Sie erlöscht spurlos, ebenso unbegreiflich … Je wilder sie brennt, desto früher erlöscht sie … Aber das hindert sie nicht, sich ihren lodernden Trieben ganz hinzugeben, als dauerte ewig dieses Feuer

Unweit Hannis Wohnung liegt sein Schachverein, und einmal nimmt sie seine Abendeinladung dorthin an. Es ist eine große Sensation und steigert sein Ansehen aufs spektakulärste, als das junge blonde Gift abends zwischen den vergreisten Spielern umherstreicht, die dadurch, über ihren Brettern brütend, empfindlich in ihrer Konzentration gestört sind.

Zuerst versucht er, durch seine schulischen Erfolge bei ihr Eindruck zu machen. Aber Intelligenz scheint nicht sonderlich sexy. Auch für Poesie hat Hanni nicht allzu viel übrig. Als er merkt, dass sie letztlich nichts weiter von ihm will, ist er unendlich enttäuscht. Er leidet wie ein Hund und bewahrt sich nur mit Mühe sein jugendliches Selbstbewusstsein. Doch will er auch kein anderes Mädchen. Er spürt den bittereren Widersinn, der darin liegt, dass sie für die Treue, die er ihr hält, ihrerseits gar keinen Anlass gibt. So dass seine Treue sich gleichsam selbst ad absurdum führt. Dennoch hält er hartnäckig an ihr fest, so dass seine Leidenschaft nur ganz allmählich verebbt. Es bleibt eine Spur in Junge Leiden VIII aus dem Buch der Lieder:


Anfangs wollt ich fast verzagen,

Und ich glaubt, ich trüg es nie,

Und ich hab es doch getragen –

Aber fragt mich nur nicht, wie ...


Nun aber, wie sollte sie ihn auch lieben? Sie ist von ihrem Wesen her ja ganz anders geartet als er, wie also kann er erwarten, dass sie ihn liebt? Sie ist eine junge unbeschwerte Goi, ihrem Alter sichtlich voraus, er dagegen ein scheinloser melancholischer jüdischer Junge. Was sollte sie seiner schwermütigen Poesie abgewinnen? Anderseits liebt er sie aber gerade um ihres unbeschwerten Andersseins willen. Das ist jedoch ein Widerspruch: eine andere Person gerade deswegen zu lieben, weswegen sie einen selber gerade nicht lieben kann. Die Weichen sind falsch gestellt, sagt einmal sein Zeichenlehrer, als er ihm seinen Liebeskummer klagt. Man sollte sich also da, wo man nicht wieder geliebt wird, auch gar nicht erst selbst verlieben, denn ,Liebe' ohne Gegenliebe ist sowieso keine richtige Liebe.

Im Grunde ist es Eitelkeit, zu erwarten, dass man dort, wo man liebt, auch wiedergeliebt werden müsse. Erst viel später erkennt er: mehr Bescheidenheit tut not. Wir sollten uns mit der Liebe bescheiden, die uns auf natürliche Weise zukommt, nicht mehr und nicht minder. Dann würde man auch nicht mehr erwarten, als einem auf natürliche Weise zukommt; man würde nicht enttäuscht werden und nicht leiden müssen. Denn enttäuscht werden kann nur jemand, der sich zuvor selber, in seinen Erwartungen, getäuscht hat.

Nun gut. Sagen Sie das aber einmal einem so jungen Gimpel und unerfahrenen Heißsporn wie dem jungen Harry, dem die Hormone schwappend gerade bis unter die Schädeldecke stehen! Es ist ganz klar, warum er zu dieser Bescheidenheit nicht imstande ist: Es ist seine glühende Sinnlichkeit, die ihn daran hindert. Es ist sein siedend heißes Blut, das ihn zur Liebe peitscht. Steht doch geschrieben, dass er von dem großen Übel, den Pocken des Herzens, stärker als andere Sterbliche heimgesucht werden sollte. Denn: Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andere mit ihren sämtlichen Gliedmaßen zeit ihres Lebens.

Er ist ein Blutzeuge der sprichwörtlichen Wendung Beauty is in the eye of the beholder – die Schönheit liegt im Auge des Betrachters: Es ist seine angeborene überstarke Sinnlichkeit, die durch Frauenschönheit geweckt und erregt wird, wobei es gar nicht so sehr darauf ankommt, wie die Frau in Wirklichkeit ist, als vielmehr darauf, an welche Seite seiner Sinnlichkeit sie appelliert – was seine sinnliche Einbildungskraft aus ihr macht. Denn da seiner ausbündigen Sensualität zugleich eine ebenso ausbündige erotische Phantasie entspricht, wird ihm der Anblick einer Frau zu einem allumfassenden Erlebnis, das ihn zur Gänze ergreift, in Wahrheit aber zuerst und vor allem der Ausdruck seiner eigenen Sinnlichkeit ist. Als seien seine eigenen Träume und Phantasien der Ursprung des Schaums, dem dann Aphrodite entsteigt.

Man könnte auch sagen, er liebt nicht die Frauen an sich, sondern viel eher sein eigenes Inbild von ihnen. Seinen eigenen Liebes-Wahn. Aber was ist der Unterschied, wenn doch die Liebe selbst schon eine Art Wahn? Diese Liebe ist ohne Glaube und ohne Treue, aber darum nicht minder wild und glühend ... Die Liebe ist immer eine Art Wahnsinn, mehr oder minder schön … Diese Liebe ist ein rasender Komet, der mit seinem Flammenschweif in den unerhörtesten Kreisläufen am Himmel dahinstürmt, alle Sterne auf seinem Wege erschreckt, wo nicht gar beschädigt, und endlich kläglich zusammenkrachend wie eine Rakete in tausend Funken zerstiebt.

(Liebeswahnsinn! Pleonasmus!

Liebe ist ja schon ein Wahnsinn!)


Sieht er dann eine andere, nicht minder liebenswürdige Frau – denn liebenswürdige Frauen gibt es imÜberfluss auf der Welt, und wer ein gutes Glas führt, kann überall in der Welt viel sehen –, so erweckt sie eine andere, nicht minder reizempfindliche Dimension seiner Sinnlichkeit – ein zelluläres Geflecht aus Millionen feuernder Neuronen seines limbischen Systems –, und er ist nicht minder verliebt in diese. So sind seine sentimentale Empfänglichkeit und leichte Entflammbarkeit direkt körperlich-physiologisch bedingt, eine leib-seelische Disposition. Man könnte es auch seinen eingefleischten Donjuanismus nennen.

Dadurch entsteht ein Problem im Hinblick auf die Treue. Denn solche Naturen – auch bei den Frauen, da wir ja davon ausgehen müssen, dass es bei diesen nicht anders ist – scheinen nicht gerade für die Monogamie geschaffen. Sein ganzes Liebesleben ist Ausdruck seines vulkanisch brodelnden Blutes, um nicht zu sagen, seiner Hormone. Ein Freund, dem er seine wechselhaften Verliebtheiten einmal gesteht, weiß sich nicht anders zu behelfen als mit der Bemerkung, seinen Gefühlen fehle das Zentrum, womit er wohl die Konzentration auf eine einzige bestimmte Partnerin meint. Geradeso gut könnte er sich aber darüber erstaunen, warum das Auge des Zyklons nicht auf der Stelle bleibt, sondern von hier nach da wandert, oder warum das flüssige Magma der Erde nicht zu hartem Gestein ausfriert. Warum denn hatte ich nicht Vernunft genug, die Leidenschaft zu besiegen? fragt er einmal seinen Freund Alexandre. Weil die Leidenschaft stärker war als die Vernunft! Ich war darin nicht frei; ich bin es ja nicht, der mir Leidenschaft und Vernunft gegeben hat. Von Kind an liegt das in mir, in Leib und Seele, ebenso wie die Gabe der Poesie.

Es ist leicht, sich in der Liebe monopolitisch zu beschränken, wenn man einen beschränkten Eros von Hause aus hat. Harrys Erotik aber ist unumschränkt und sprengt alles normalmenschliche Maß bis ans Pathologische. Wie also sollte einer ,bescheiden' bleiben, der ständig gegen sein aufwallendes Blut ankämpfen muss?

Da Hanni seine erste Liebe ist, wird er durch die Enttäuschung mit ihr seelisch geprägt und gebrandmarkt. Die erste Seligkeit in der Liebe wäre, dass man da, wo man liebt, auch wiedergeliebt wird. Manche haben das Glück und der Liebestraum geht in Erfüllung. Wird aber der Traum zerstört, und wird man dort, wo man zum erstenmal liebt, nicht wiedergeliebt, dann ist es eine Katastrophe, von der sich einer nicht leicht wieder erholt. Dann muss er sehen, wo er bleibt und wie er damit zu Rande kommt.

Harrys erste Liebe? Aber nein! Es ist gar nicht seine erste Liebe. Seine erste Liebe war Gerti oder Hedwig oder Isolde –, vor langer Zeit, als er ein kleiner Junge war. Hanni ist seine erste Liebe, nachdem er einige Zeit – welche in der Psychoanalyse die vorpubertäre Latenzzeit heißt – von den Pocken des Herzens verschont geblieben. Sie ist die erste Liebe seiner mannbaren Jahre, in denen, wie wir sahen, seine Sexualität erwacht. Da aber auch seine früheren Lieben nicht unbedingt glücklich waren, ist es wie in der Musik die Wiederaufnahme eines romantischen Leitmotivs. Ein altes Stück. Ein Märchen aus alten Zeiten. Seine Verliebtheit ist wie die Wiederaufführung eines Stücks, das einmal schon nach dem ersten Abend abgesetzt wurde. Die erste Liebe seiner Adoleszenz ist gescheitert.

Sein Gedicht Zum Lazarus klagt auf unterlassene Hilfe, als ihn die heißen Flammen verzehrten. Im Schlaf der Vernunft erwachen die Ungeheuer. Am Morgen, wenn die Logik wiederkehrt, erkennt er: In der Liebe gibt es keine unterlassene Hilfeleistung. Trotzdem muss sein Herz sie verdammen:


Vom Schöffenstuhle der Vernunft

Bist du vollständig freigesprochen;

Das Urteil sagt: die Kleine hat

Durch Tun und Reden nichts verbrochen.

Ja, stumm und tatlos standest du,

Als mich verzehrten tolle Flammen –

Du schürtest nicht, du sprachst kein Wort,

Und doch muss dich mein Herz verdammen.


In meinen Träumen jede Nacht

Klagt eine Stimme, die bezichtet

Des bösen Willens dich und sagt,

Du habest mich zugrund gerichtet.


Sie bringt Beweis und Zeugnis bei,

Sie schleppt ein Bündel von Urkunden;

Jedoch am Morgen, mit dem Traum,

Ist auch die Klägerin verschwunden.


Sie hat in meines Herzens Grund

Mit ihren Akten sich geflüchtet –

Nur eins bleibt im Gedächnis mir,

Das ist: ich bin zugrund gerichtet.


Die seelische Erschütterung durch seine enttäuschte Liebe macht auch vor seinem Weltbild nicht Halt. Bisher war er auf jüdisch-orthodoxe Weise gläubig, hat geglaubt, was ihm aus der Thora vorgepredigt wurde, auch an Abrahams Bund mit Gott, und hat regelmäßig die Synagoge und den Talmudunterricht besucht. Jetzt bekommt seine naive Glaubenseinstellung einen Riss. Mehr als einmal hat er zu Eloah gebetet, dass er ihm bei der Werbung um Hannis Liebe wie ein Sekundant zur Seite stehe. Vergebens, Eloah hat ihn gotterbärmlich im Stich gelassen. Half er ihm aber nicht einmal bei den innersten Angelegenheiten des Gemütes und der Seele, wozu war er dann überhaupt gut? Ein Nichtstuer und Nichtsnutz war er, denn er tat und nützte zu nichts. War er aber nicht einmal dafür gut, ist es dann noch sicher, dass es ihn überhaupt gibt?

Wie kann er so ketzerisch-abtrünnig fragen? Woher kommt das? Warum nimmt es ihn so mit?

Harry hardcore I - Der junge Heine

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