Читать книгу Harry hardcore I - Der junge Heine - Freudhold Riesenharf - Страница 6
4: Betty
ОглавлениеWann ist es, dass er zuerst die Liebe fühlt? Er weiß es nicht. Früh, sehr früh.
Ja doch, er erinnert sich genau. Und ob er sich erinnert: Betty!
Seine Mutter Elisabeth wird von allen nur Betty genannt. Als Säugling liegt er in ihren warmen weichen Armen an ihrer Brust und wühlt sein Gesicht in ihre weißen, weichen, warmen Brüste und nuckelt an ihnen, und ein Gefühl überwältigt ihn – übermannt kann man noch nicht sagen –, so weich, so warm, so selig-süß, wie wenn es nichts gäbe außer ihr, und wie wenn keine Grenze wäre zwischen ihm und ihr und er ganz mit ihr verschmölze und mit seinem ganzen Sein ein und dasselbe wäre mit ihr. Er ist ein Stück organische Natur und gehorcht deren Gesetzen. Der Busen quillt hervor aus dem knappen Gewand, blühend, duftig, verlockend wie die verbotene Frucht im Garten Eden. Und tausend warme Flämmchen lodern auf und kribbeln und prickeln und erfüllen ihn ganz.
Dann, als er schon ganz ermattet ist vom seligen Saugen, nimmt sie ihn ab und hebt ihn hoch an ihr Gesicht und küsst ihn und reibt ihren Mund an dem seinen und küsst ihn, und er spürt die feuchte Wärme ihrer Lippen, und sie streckt ihn weit von sich und schüttelt ihn zart und hält ihn aufs Neue an sich heran und küsst ihn wieder und immer wieder. Und wenn sie aufhören will damit, dann streckt er seine Ärmchen aus und verlangt nach mehr und rudert, bis sie ihn wieder ganz an sich zieht und er ihren warmen Atem spürt. Und erst, als er ganz genug davon hat und wie ermattet und erschöpft von all der Seligkeit ist, lässt er sie gehen und sie bettet ihn zurück in seine Kissen.
Das ist lange bevor er Mama sagen kann. Das ist seine erste Erfahrung von Liebe und Lust, und die sehnsüchtige Erinnerung daran begleitet ihn sein Leben lang. Und was wäre sein Leben anderes als eine andauernde Suche nach Liebe und Lust, als das Verlangen und die Jagd nach der verlorenen Seligkeit in Bettys mütterlichem Schoß?
Aber auch, als er es schon sagen kann und hört, dass sie für die anderen ,Betty' ist, sitzt er noch lange auf ihren Knien und schmiegt sich an ihren weichen warmen Busen und betrachtet sie ganz als sein Eigen, und lässt keinen andern an sie heran und fordert sie ganz für sich. Und da seine Schwester Charlotte erst drei Jahre danach, die Brüder Gustav und Max erst acht und zehn Jahre nach ihm kommen, hat er sie lange Zeit ausschließlich für sich. Drei Jahre lang, die längsten seines Lebens, kuschelt er sich an ihr Gesicht, das sie ,alltäglich' nennt, und an ihren Leib, den sie gleichfalls ,alltäglich' nennt. Aber was ist ,alltäglich' daran, wenn ihr zärtliches Gesicht und ihr weiblicher Leib sein Ein und Alles und eine einzige immerwährende Seligkeit sind, und er sie um nichts auf der Welt mit einem anderen Gesicht und einem anderen Leib vertauschen würde? Gibt es auf Erden ein Paradies – und wenn, dann sowieso nur auf Erden –, so ist es diese frühkindliche Phase, die flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe in den Armen und an der Brust einer liebenden Mutter, und wer dieses Paradies nicht kennengelernt hat, der weiß auch gar nicht, was das Paradies eigentlich ist.
Und gibt es einen so genannten ,Sündenfall': also eine Vertreibung aus diesem Paradies, dann ist es das Ende dieser kleinkindlichen Zeit, wenn der Säugling der Mutterbrust entwöhnt wird; dann ist es die Entfremdung der kindlichen Libido aus dem Eden des Mutterschoßes, die Ausbürgerung und Expatriierung in die Vereinzelung des Ichs, man braucht kein Sigmund Freud zu sein, um das zu wissen. Dann steht da der breitbeinige Engel mit dem Flammenschwert und bedeutet uns, dass es kein Zurück mehr gibt:
Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen ...
Wer sie aber einmal gekannt hat, diese frühkindliche Symbiose von Mutter und Kind – und wer von uns Weibgeborenen hat sie nicht gekannt? –, der ist für sein Leben davon geprägt – um nicht zu sagen, gezeichnet –, dem wird es nie mehr entschwinden, dem wird sie für immer in dunkel-heiliger, selig-süßer unauslöschbarer Erinnerung bleiben.
So glimmt schon im Säugling eine libidinöse Lust. Und besonders in einem solchen Säugling glimmt sie, dessen Begabung zur Liebeslust in der Tat ans Wunderbare grenzt und – wie Felix Krull es beschwört – das gemeine Ausmaß bei weitem übertrifft: Da habe er anzuführen, dass jene Angelegenheit sehr frühzeitig in seinem Leben eine Rolle zu spielen, seine Gedanken zu beschäftigen, den Inhalt seiner Träumereien und kindischen Unterhaltungen zu bilden begann: lange nämlich, bevor er irgendeinen Namen dafür besaß oder sich auch nur von ihrer weiteren und allgemeinen Bedeutung ein Bild zu machen wusste, so dass er die lebhafte Neigung zu gewissen Vorstellungen und das durchdringende Vergnügen daran durch geraume Zeit für eine ganz persönliche und anderen gar nicht vorstellbare Eigentümlichkeit hielt, über die ihrer Sonderbarkeit halber lieber nicht zu sprechen sei. Da ihm eine eigentliche Bezeichnung dafür fehlte, so habe er diese Empfindungen und Eingebungen bei sich selber unter dem Namen ,Das Beste' oder ,Die große Freude' zusammengefasst und sie als ein köstliches Geheimnis gehütet. Dank aber solch eifersüchtiger Verschlossenheit sowie ferner seiner Vereinsamung verblieb er lange in diesem Stande geistiger Unschuld, mit welchem die Lebhaftigkeit seiner Sinne so wenig übereinstimmte.
Die Rede ist von der frühkindlichen Sexualität, wenn nicht von einem infantilen Gegenstück der libidinösen Lust: Solange er denken kann, nahm das, was er ,die große Freude' nennt, in seinem Innenleben eine beherrschende Stellung ein, ja seine Wirksamkeit fing offenbar weit jenseits der Grenze seines Gedächtnisses an. Kleine Kinder seien wohl unwissend und in dieser Bedeutung auch unschuldig; dass sie aber unschuldig im Sinne wirklicher Reinheit und engelhafter Heiligkeit sind, ist ohne Zweifel ein empfindsamer Aberglaube, der einer nüchternen Prüfung nicht standhalten würde. Er wenigstens habe es aus einwandfreier Quelle, dass er schon als Säugling, an der Brust seiner Amme, die eindeutigsten Zeichen von Gefühl an den Tag gelegt habe, – eine Überlieferung, die ihm stets als höchst glaubhaft und für seine inständige Natur bezeichnend erschien ... –
Die Psychologen sprechen bereits von einer Säuglingsonanie. Schon der Wiener Kinderarzt Max Kassowitz stimmte Freud darin zu, dass die Bedeutung der kindlichen Sexualität stark unterschätzt worden sei. Er betont die Häufigkeit der Masturbation selbst im frühesten Kindesalter und hebt im Übrigen hervor, dass er von den gewöhnlich in den schwärzesten Farben geschilderten Folgezuständen dieser Unart weder bei den jüngeren, noch bei den ihr viel öfter ergebenen älteren Kindern kaum jemals etwas habe wirklich wahrnehmen können. – „Ich konnte in etwa zwei Jahren“, bestätigt Josef Friedjung, „35 Fälle von Kinderonanie notieren. Aus der Methode der Sammlung ergibt sich ohne weiteres, dass es sich dabei um eine Minimalzahl handelt. Bei der Mehrzahl der Kinder der ersten drei Jahre fiel mir die Neigung zum Spiel mit den Genitalien während der aus anderen Gründen notwendigen Untersuchung auf. Ich glaube annehmen zu können, dass diese Neigung den Pflegerinnen gewiss öfter, anderen Ärzten ebenso oft begegnen muss.“
Die Frage, ob die erste Kindheitsperiode überhaupt sexuelle Lust kennt, so Viktor Tausk, sei mit Freud unbedingt zu bejahen: „Es wäre auch theoretisch nicht einzusehen, dass ein Trieb, der zu so mächtigen Zwecken angeboren und für dessen zweckmäßige Betätigung im Dienst der Arterhaltung und der individuellen, so ungeheuer differenzierten Lustgewinnung, eine Kenntnis aller Objekte des Milieus erforderlich ist und geübt werden muss, nicht schon im Anfang des menschlichen Lebens zur Äußerung kommen sollte. Bis zu welchem Grade der Lustspannung und Entspannung es die Kinder in den ersten Lebensjahren bringen, ist individuell verschieden. Es sind von manchen Autoren schon Fälle von orgasmusähnlicher Aufregung und nachfolgender erhitzter Schläfrigkeit bei einjährigen Kindern beobachtet worden. Gewöhnlich aber wird die Masturbation in diesem Alter selten so weit getrieben. Sie dient mehr zur Erzeugung einer spezifisch betonten angenehmen Erregung … Die Ursache der Onanie ist einfach im Sexualtrieb zu suchen. Die Onanie ist zunächst nichts anderes als die dem kindlichen Alter entsprechende Form der Übung des Sexualtriebs.“
Ist diese manifeste kindliche Onanie besonders ausgeprägt, dann beweise sie, so Paul Federn, „einen starken angeborenen – in anderen Fällen eventuell durch exogene Akzidentien gesteigerten – kindlichen Sexualtrieb. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus solch einem Kind ein sich gewöhnlich entwickelndes leicht lebendes Dutzendindividuum werden wird, ist gering.“
Nicht anders bei dem kleinen Harry. Ein solches Dutzendindividuum ist er sicherlich nicht. Seine Begabung zur Liebeslust grenzt in der Tat ans Wunderbare und übertrifft das gemeine Ausmaß bei weitem. Das postnatale Erleben des Kleinkinds im Schoß seiner Mutter vermittelt ihm das Gefühl des Geschlechts: für alles, was Betty hat und der männliche Teil seiner Familie nicht. Die Idee des Weiblichen, eine innere Symbolisierung, entsteht in ihm und prägt ihn mit einem plastischen Inbild des Ewigweiblichen.
Biologisch primär ist das natürliche, angeborene Verlangen nach Sex. Befriedigt wird dieses Verlangen zuerst an der Brust der Mutter, wodurch sich unsere Lust und ihre Befriedigung an die Vorstellung des ,Weiblichen' knüpft. Das Kleinkind liegt zuerst an der Brust seiner Mutter, und all sein Wohl und Weh, seine Liebe und Lust wird auf sie geprägt; so bleibt es die ganze Kindheit hindurch. Dadurch knüpft sich einzelmenschlich-individuell unsere Sinnlichkeit an ,das Weib' – das äußere Objekt, das zur Erfahrung sexueller Befriedigung wird. Beides zusammen: das ursprüngliche Verlangen und seine Befriedigung, erzeugt durch die alchemische Wirkung der Phantasie das von der Verhaltensforschung so genannte ,Weibchenschema'.
Die frühe Erfahrung schafft ein symbolisch repräsentiertes Modell einer vertrauten Beziehung, das im weiteren Lebenslauf benutzt und teilweise auch modifiziert, jedoch in seiner Grundstruktur frühkindlich angelegt wird und erhalten bleibt … Dabei erfolgt die Prägung nicht nur auf die äußeren Geschlechtsmerkmale; sie greift aus und erfasst das ganze Sein und Wesen, die Welt der Frau. Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, sagt Heine.
Also hat es mit der Liebe die folgende Bewandtnis. Die Sexuallust entsteht im Gehirn in Form von Glücksmolekülen, eines psychedelischen Cocktails der Liebeslust: körpereigene Opiate, endogene Drogen, Endorphine und Adrenaline, Dopamine und Amphetamine, Testosterone und Östrogene werden frei und in der Identität von Gehirn und Seele zur Lust. Emotional ausgeglichen und ,glücklich' sind wir nur dann, wenn wir mit Glücksmolekülen beliefert werden. Diese Lust ist nachgerade unsere Lebenslust: unser Antrieb, zu leben.
Neurotransmitter und Hormone wirken über eigene Rezeptoren. Nicht nur die Konzentration der Botenstoffe, auch die Menge und Empfänglichkeit des jeweiligen Rezeptors bestimmt die Effekte von Neurotransmittern und Hormonen. So wird die Zahl und Art der Rezeptoren direkt zur Qualität der Empfindung. Variiert die Zahl und Art dieser Rezeptoren von Mensch zu Mensch, so auch unsere individuelle Sinnlichkeit. Dann gibt es beim Sex von Mensch zu Mensch die gleichen Unterschiede wie bei anderen Eigenschaften und Fähigkeiten des Körpers und Geistes – Gestalt, Größe, Kraft, Intelligenz, Begabung usw. – auch. Hat jemand eine verhältnismäßig kleine Zahl Rezeptoren, und mithin ein schwaches sexuelles Empfinden, dann nennen wir ihn einen ,kalten Fisch'. Hat einer eine ungewöhnlich große Zahl solcher Rezeptoren, und damit eine außerordentlich stark entwickelte Sexualität, dann nennen wir ihn ein ,heißes Blut'.
Stimmt das, dann ist auch nicht auszuschließen, dass Zahl und Empfindlichkeit solcher Rezeptoren und der in ihnen enthaltenen Moleküle ein extremes Ausmaß annehmen kann. Ist der Drang nach Liebe ein mächtiger Antrieb aller Menschen, – wieviel mehr dann für diese ausnehmend sinnlichen Subjekte!
Das ist der Fall Heine, dem der Nervenarzt Paul Möbius eine überstarke, ans Pathologische grenzende Sexualität bescheinigt. Bei einem Erotiker wie ihm muss die Zahl dieser Moleküle ins Astronomische gehen. Sein Gehirn wird von diesen Zellen und ihrer Rezeptivität geradezu überschüttet, durchsaugt, durchtränkt. Das ist genetisch bedingt: Ich habe dieses Elend mit mir zur Welt gebracht – schreibt er. Es lag schon mit mir in der Wiege, und wenn meine Mutter mich wiegte, so wiegte sie es mit, und wenn sie mich in den Schlaf sang, so schlief es mit mir ein, und es erwachte, sobald ich wieder die Augen aufschlug.
,Dieses Elend', sagt er; denn diese Veranlagung ist ebenso Segen wie Fluch: Er ist zur Liebe verdammt und erkoren. Denn während seine exzeptionelle Sinnlichkeit ihm Bereiche des Gefühls und der Empfindung eröffnet, die anderen ewig verschlossen bleiben, schränkt sie seine Möglichkeiten zugleich auch empfindlich ein. So selbstverständlich es war, so Alfred Schulz-Hencke, in Korrektur ehemaliger Überspitzung der Bedeutung der Sexualität diese an den Platz zu rücken, der ihr wirklich zukommt, so eindeutig muss es betont werden, dass es auch eine angeborene Hypersexualität gibt. Sie gehört zum Belastendsten, was einem Menschen vom Schicksal erbmäßig mitgegeben werden kann:
Dass ein enormes Maß gesellschaftlicher Tabus der Sexualität gilt, sei nicht zu verkennen. Dass ein anlagemäßig hypersexueller Mensch damit in den Bereich besonderer Gefährdetheit rückt, ebensowenig. Die Konfliktwahrscheinlichkeit für ihn ist außerordentlich hoch, die, gehemmt zu werden, daher auch. Daraus folgt die weitere Möglichkeit, dass solche spezielle Gehemmtheit sich ausbreitet und allgemeineren Charakter annimmt. Im Grenzfall könne eine isolierte sexuelle Gehemmtheit auf solcher Basis auch zum tragenden Element einer Gesamtstruktur werden. – Beachten wir aber, dass der Psychologe lediglich das Belastende einer solchen angeborenen Hypersexualität neutral betont, ohne irgendetwas über die Normalität oder Pathologie einer solchen Veranlagung zu befinden!
Um so belastender wird die angeborene Hypersexualität dann, wenn sie noch dazu mit einem besonders inständigen, innig-eingezogenen Charakter einhergeht, – soweit sie nicht überhaupt schon mit einem solchen partiell gleichbedeutend ist: Eine exorbitante Libido zieht eine intensive Innigkeit des Erlebens nach sich. Dadurch wird die Person auf sich selbst verwiesen. Es kommt zu subjektiver Introvertiertheit. Jeder kann seine Lust nur für sich empfinden und keinem andern vermitteln. Bei den Sinnen ist Einsamkeit. Und wieviel tiefer muss diese Einsamkeit bei einer auch noch von Hause aus so zur Introversion neigenden Natur wie Heine sein?
Die angeborene Hypersexualität gehört zum Belastendsten, was einem Menschen vom Schicksal erbmäßig mitgegeben werden kann: Das bedeutet, sein Leben wird tragisch. Es deutet auf einen von Schopenhauer so genannten tragischen Lebenslauf.
Und desto belastender ist eine solche Anlage, wenn sie von Kindheit an auch noch gefördert wird! Wenn beispielsweise die Mutter – wie offenbar viele Frauen, die ihren eigenen Liebeshunger nicht ausleben können – das Kind auch noch über die Maßen verwöhnt, verhätschelt, verzärtelt. Vielleicht ist noch dazu das Naturell des Kindes für diese Wirkungen allzu empfänglich. Dann kommen Mutter und Kind sich wechselseitig in ihrem libidinösen Anspruch so sehr entgegen, dass ihre Symbiose das gewöhnliche Maß der Natur, und mehr als für beide gut ist, überschreitet. Dann wird das wehrlose Kind allzu libidinös beeinflusst, geprägt, für sein Leben konditioniert – und durch die Liebe ,verdorben'. Was sonst kann Gottfried Keller meinen, wenn er in seinem Sinngedicht von der „ungehörigen Liebessucht verderbter Kinder“ spricht? –
Wie steht es da mit dem Ödipuskomplex: die ambivalenten, zugleich zärtlichen wie feindseligen Regungen des Kindes in der phallischen Phase seiner psychosexuellen Entwicklung? Unbewusst richten seine sexuellen Wünsche sich da auf den Elternteil entgegengesetzten Geschlechts; gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Teil, den es als Rivalen betrachtet, wird zugleich Eifersucht und Hass empfunden.
Der Ödipuskonflikt der Psychoanalyse ist aber, wie die Psychoanalyse selbst, ziemlich umstritten. Eher aber lehnten wir das Konzept ab, als Harrys Gefühle zu verfälschen. Von Samson hat er da kaum etwas zu befürchten. Sein Vater steht immer sehr früh auf und begibt sich an seine Geschäfte, im Winter wie im Sommer, und er findet ihn gewöhnlich schon am Schreibtisch, wo er ihm ohne aufzublicken die Hand hinreicht zum Kusse. Eine schöne, feingeschnittene, vornehme Hand, die er stets mit Mandelkleie wäscht. Viel später noch sieht sie der Sohn vor sich, sieht noch jedes blaue Äderchen, das diese blendend weiße Marmorhand durchrieselt, und ihm ist, als steige ihm prickelnd der Mandelduft in die Nase, und das Auge wird feucht. Zuweilen bleibt es nicht bloß beim Handkuss, und der Vater nimmt ihn zwischen die Knie und küsst ihn auf die Stirn.
Eines Morgens umarmt er ihn mit ganz ungewöhnlicher Zärtlichkeit und sagt: „Ich habe diese Nacht etwas Schönes von dir geträumt und bin sehr zufrieden mit dir, mein lieber Harry.“ Während dieser naiven Worte zieht ein Lächeln um seine Lippen, welches zu sagen scheint: mag der Harry sich in Wirklichkeit noch so unartig aufführen, ich werde dennoch, um ihn ungetrübt zu lieben, immer etwas Schönes von ihm träumen.
Eine grenzenlose Lebenslust ist ein Hauptzug im Charakter seines Vaters, er ist genusssüchtig, frohsinnig, rosenlaunig. In seinem Gemüt ist ständig Kirmes, und wenn auch manchmal die Tanzmusik nicht sehr rauschend, so werden doch immer die Violinen gestimmt. Immer himmelblaue Heiterkeit und Fanfaren des Leichtsinns. Eine Sorglosigkeit, die des vorigen Tages vergisst und nie an den kommenden Morgen denkt.
Dieses Naturell steht im wunderlichsten Widerspruch zu der Gravität, die über sein strengruhiges Antlitz verbreitet ist und sich in der Haltung und jeder Bewegung des Körpers kundgibt. Wer ihn nicht kennt und zum ersten Mal diese ernsthafte, gepuderte Gestalt und diese wichtige Miene sieht, könnte gewiss glauben, einen der sieben Weisen Griechenlands vor sich zu erblicken. Aber bei näherer Bekanntschaft merkt man wohl, dass er weder ein Thales noch ein Lampsakus ist, der über kosmogonische Probleme grübelt. Die Gravität ist zwar nicht erborgt, erinnert aber doch an jene antiken Basreliefs, wo ein heiteres Kind sich eine große tragische Maske vors Antlitz hält.
Der kleine Harry ist ein sehr zarter, smarter Junge. Mit vier erregt ein bestimmtes Detail seine Aufmerksamkeit: Er kommt eigens zum Schreibtisch seines Vaters und fragt ihn, ob es wahr sei, dass alle Menschen sterben müssen? Samson ist perplex, um Antwort verlegen, überlegt einen Augenblick, ob er seinem vierjährigen Sprössling schon eine Wahrheit wie diese zumuten soll, darf, dann entschließt er sich um der Wahrheit willen zu einer bejahenden Antwort. Da bricht der kleine Harry vor ihm spontan in so bitterliche Tänen aus, dass der Vater seine Ehrlichkeit fast wieder bereut und große Mühe hat, die seinigen zurückzuhalten.