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3: Harry

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Sein Leben ist eine Passion, wie unser aller, aber das seine besonders.

Um den April 1797 herum – genauer ist das nicht zu bestimmen bei einem, der als sein Geburtsdatum die Neujahrsnacht 1800 um der Pointe willen angibt, einer der ersten Männer des Jahrhunderts zu sein, und der gar für den Fall vorsorgt, dass nach seinem Tod sieben Städte: Schilda, Krähwinkel, Polkwitz, Bockum, Dülken, Göttingen und Schöppenstädt, sich um die Ehre streiten, seine Vaterstadt zu sein! – dringt eines von Samsons Spermien in ein Ovum Elisabeth van Gelderns ein, die Chromosomen lagern sich gleichförmig aneinander und verschmelzen zu einer Zelle. Das molecular engineering beginnt sein Werk. Das ist Harrys Zeugung.

Das geht seit Abermillionen Jahren so, denn das ist der sonderbare Vorgang, wie die Natur für die organismische Fortpflanzung sorgt. Eine neue Maschine Mensch entsteht. Es ist die Entstehung Heinrich Heines.

Der wissenschaftliche Blick macht auch vor einem Dichter nicht Halt. In der Wissenschaft gibt es kein Tabu.

Was ist der Mensch? Zu Beginn ein kleines Häufchen Atome, ein großes Molekül mit Milliarden winziger Basenpaare: das Erbmolekül DNS mit dem genetischen Programm, das den werdenden Menschen bestimmt. Die eine Hälfte stammt von der Mutter, die andere vom Vater. Für je ein besonderes Merkmal des erwachsenen Menschen: des Phänotyps, gibt es immer genau zwei Gene; welches davon zum Ausdruck kommt, hängt davon ab, welches sich durchsetzt. Die höfliche Regel Ladys first zählt hier nicht.

Aber auch wie sehr einer einmal liebt, wird durch die Gene bestimmt. Es stand geschrieben – schreibt Heine –, dass ich von dem großen Übel, den Pocken des Herzens, stärker als andere Sterbliche heimgesucht werden sollte.

Wo stand es geschrieben? Eben in seinen Genen: auf dem Erbmolekül DNS! Die Gene kodieren auch unsere Sinnlichkeit. Ist die leichte Entflammbarkeit durch die Liebe genetisch bedingt, dann sind die Pocken des Herzens wie ein ererbtes Übel in den Genen verankert.

Ich aber hatte Zahnweh im Herzen … ich habe dieses Elend mit mir zur Welt gebracht. Es lag schon mit mir in der Wiege, und wenn meine Mutter mich wiegte, so wiegte sie es mit, und wenn sie mich in den Schlaf sang, so schlief es mit mir ein, und es erwachte, sobald ich wieder die Augen aufschlug. Als ich größer wurde, wuchs auch das Elend und wurde endlich ganz groß und zersprengte mein – Wir wollen von andern Dingen sprechen.

Von der DNS abkopiert werden die Erbanlagen durch die Boten-RNS. Diese Messenger-RNS bringt die molekulare Information zu den Ribosomen, wo sie der Herstellung von Aminosäuren dient. Je drei Basen auf der mRNS kodieren eine bestimmte Säure, und die Reihenfolge der Basen bestimmt die Reihenfolge der Säuren. Die Aminosäuren bauen die Proteine auf, und die Proteine die Maschine Mensch. Eine Signalsequenz leitet die Proteine an den richtigen Ort, wo die Organe wachsen. Da alles durch die Gene bestimmt wird, ist die DNS der Schaltplan des Einzelmenschen. Der ganze Prozess geht mit maschinenhafter Präzision vor sich, so dass schon der berühmte Materialist Julien Offraye de La Mettrie 1747 sein Buch mit gutem Recht ,L'Homme machine'Maschine Mensch – nennen konnte.

Den beschriebenen Hergang kennt Heine noch nicht. Wir Heutigen aber kennen ihn und wissen, die naturwissenschaftliche Sicht ist die einzig richtige, alle anderen Betrachtensweisen sind irreführend und verkehrt.

Die einzelnen Organe wachsen an den Keimblättern des Embryo. Die Zellen entwickeln sich zu Geweben spezifischer Funktion, den Organen in ihrer bekannten Form. Auch unser Gehirn ist ein solches Organ. Es entsteht auf der Oberseite des Keims. Eine eingesenkte Rinne des Ektoderms schnürt sich zum schlauchförmigen Neuralrohr ab. Am hinteren Ende wächst das Rückenmark, am vorderen das Gehirn; Letzteres aus fünf bläschenförmigen Erweiterungen des Neuralrohrs, so dass bei allen Wirbeltieren von vorn nach hinten fünf Abschnitte – Vorderhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Hinterhirn und Nachhirn – auftreten. Die Liebe hat vermutlich an allen Sektoren teil.

Was ist das Gehirn? Am Anfang nur ein winziges Häufchen Zellen, das sich langsam zu seinen besonderen Funktionen auffaltet. Es kommt zu Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl, Bewusstsein, Denken. Das blinde Häuflein Materie, das von seiner Existenz nichts wusste, fängt plötzlich an, subjektiv zu empfinden. Was erlaubt es sich? Der Funken des Prometheus zündet, die bewusslose Materie erwacht zu einem empfindenden ,Ich'. Das mickrige Häuflein wird zu einer bewussten ,Person', zum denkenden Subjekt. Ich denke, also bin ich, sagt Descartes; ich küsse, also bin ich, sagt Heine. In Atta Troll:

… Drück ich hastig meine Lippen

Auf die roten Wangengrübchen,

Und ich machte den Vernunftschluss:

Ja, ich küsse, also leb ich!

Gottlob! ich lebe! In meinen Adern kocht das rote Leben, unter meinen Füßen zuckt die Erde, in Liebesglut umschlinge ich Bäume und Marmorbilder, und sie werden lebendig in meiner Umarmung. Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt.

Zwei verschiedene Seiten hat unser Ich: zum einen die Empfindsamkeit für Lust und Schmerz, und zum andern die Fähigkeit, zu denken. Das legt nahe, dass die beiden Teile auch materiell anders geartet sind. Das abstrakte, logische Denken liegt mehr an der Struktur des Gehirns der Verbindung zwischen den Zellen und der Architektur der Moleküle; die Empfindung von Lust und Schmerz mehr an der chemischen Beschaffenheit der beteiligten Zellen und Moleküle. Lust und Schmerz sind andere Hirnfunktionen als Zinseszins und der Beweis des pythagoräischen Satzes. Der Unterschied ist so auffällig, dass die Menschen sogar danach beurteilt werden, ob sie eher Gefühlsmenschen oder eher Verstandesmenschen sind. So ist es, wenn Heine von sich behauptet, kein abstrakter Denker zu sein, schon ein Hinweis darauf, dass bei ihm nicht die abstrakte Logik, sondern die Hirnchemie: die Alchemie der Leidenschaften, im Vordergrund steht. Ein Rührungsmensch, wie ich bin – schreibt er gelegentlich –, konnte ich doch nicht weinen und fiel erst in Ohnmacht, und erst nachher kamen mir die Tränen aus den Augen wie ein Wasserbach, und ich weinte drei Stunden.

Eine besondere Art der Empfindung ist unsere menschliche Sinnlichkeit: der Sexualtrieb, die sexuelle Libido. Besonders die sexuelle Libido scheint eindeutig chemischer Natur. Denken wir nur an all die mannigfaltigen Sexualhormone, die beim Sex aus ihren Vesikeln ausgeschüttet werden: Adrenaline und Dopamine, Amphetamine und Serotonine, Testosterone und Östrogene, Oxytocine und Prolaktine, Phenylethylamine und Vasopressine etc. – mit einem Wort, die Elixiere der Lust. Auch dieser gemixte Cocktail ist nach Art und Menge durch die Gene kodiert.

Gibt es aber schon diesen individuellen Unterschied, kann es auch zu Extremen kommen. Hat einer eine überstarke Libido, dann ist er ein Erotiker oder Erotomane; kurz, ein Romantiker.

Eng liiert ist das Sexualempfinden mit der Liebe. Gibt es den Unterschied nach Art und Zahl der Zellen, dann sind sie von Mensch zu Mensch verschieden. Hat einer wenig libidinöses Empfinden, nennen wir ihn ein ruhiges oder gar kaltes Blut. Hat einer dagegen ein besonders sinnliches Naturell, nennen wir ihn heißblütig und leidenschaftlich. Selbstverständlich scheidet hier jede Möglichkeit des Vergleichens aus, so die moderne Romanfigur Felix Krull; dennoch gehe seine private Überzeugung, die ich damals gewann und die weder beweisbar noch widerlegbar ist, unerschütterlich dahin, dass bei mir der Liebesgenuss die doppelte Schärfe und Süßigkeit besaß als bei anderen.

Das Echo davon bei Heine: Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andere, mit ihren sämtlichen Gliedmaßen, zeit ihres Lebens.

Da die Liebe und die Sehnsucht danach seelische Empfindungen sind, und alle seelischen Empfindungen durch Zustände des Gehirns realisiert werden, wird auch die Liebessehnsucht im Gehirn realisiert. Die neuronalen Rezeptoren der Lust harren der andockenden Glücksmoleküle. Hat die Person zu viele dieser Rezeptoren, oder docken die Glücksmoleküle nicht rechtzeitig an, leidet sie an einem Entzug im chemischen Haushalt ihres Gehirns. So scheint jede Form der Sehnsucht eine Art chemischer Entzug. Es kommt zu elektrochemischen Spannungszuständen, die von der Person als Entzugserscheinung empfunden werden. Wird das chemische Ungleichgewicht nicht ausgeglichen, dann wird, weil hier Chemie gleich Seele ist, der chemische Entzug zu einem seelischen. Hat die Person gar ein hormonelles Ungleichgewicht von Geburt aus, ist die Entzugserscheinung chronisch: Der Entzug wird zur Liebessucht, die Person zur Suchtperson. Das ist der Fall Heine. Das erklärt seine Biografie von der Lorelei bis zum Asra.

Vor der Geburt, flunkert er: Die Mutter erzählt, sie habe während ihrer Schwangerschaft im fremden Garten einen Apfel hängen sehen, ihn aber nicht abbrechen wollen, damit ihr Kind kein Dieb werde – im Leben hindurch behielt ich ein geheimes Gelüste nach schönen Äpfeln, aber verbunden mit Respekt vor fremdem Eigentum und Abscheu vor Diebstahl

Um seine Wiege spielen die letzten Mondlichter des achtzehnten und das erste Morgenrot des neunzehnten Jahrhunderts. Dieses Dämmerlicht erblickt er zu Düsseldorf am Rhein. Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zumute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehen. Und wenn ich sage, nach Hause gehen, so meine ich die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren bin.

Dieses Haus – beteuert er – werde einst sehr merkwürdig sein, und der alten Frau, die es besitzt, habe er sagen lassen, dass sie beileibe das Haus nicht verkaufen soll. Für das ganze Haus bekäme sie jetzt kaum so viel, wie allein das Trinkgeld betragen würde, das einst die grünverschleierten, vornehmen Engländerinnen dem Dienstmädchen gäben, wenn es ihnen die Stube zeige, worin er das Licht der Welt erblickt, und den Hühnerwinkel, worin ihn sein Vater gewöhnlich einsperrte, wenn er Trauben genascht, und auch die braune Tür, worauf seine Mutter ihn mit Kreide die Buchstaben schreiben lehrte – ach Gott! Madame, wenn ich ein berühmter Schriftsteller werde, so hat das meiner armen Mutter genug Mühe gekostet.

Harry hardcore I - Der junge Heine

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