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6: Citronia

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Junge Mädchen sind, wenn auch die hervorstechendste, doch nicht seine einzige Leidenschaft. Mit vier oder fünf ist er verliebt in die prächtigen Sonnenblumen. Eine wahre Passion. Er selber hat nur ein kleineres Exemplar in seinem Garten stehen, das er hingebungsvoll pflegt und behütet. Von seinen Ausflügen aufs Land her weiß er, dass die Bauern ihre Felder mit tierischem Mist und Gülle düngen, was den Pflanzen gefällt, so dass sie wachsen und gedeihen. Deswegen pinkelt er regelmäßig täglich auf die Stelle, wo der Stängel aus dem Boden kommt, bis er in einer kleinen gelblichen Lache steht. So düngt er hingebungsvoll seine Pflanze.

Aber das Miststück scheint seine Fürsorge nicht zu schätzen, denn nach einiger Zeit sieht sie kränklich aus, siecht dahin, lässt immer mehr die Blätter hängen, wird schlapp, hinfällig, ist schließlich nicht mehr zu retten und geht jämmerlich ein. Er muss die Reste entsorgen und kann nicht verstehen, was er im Unterschied zu den Bauern auf dem Land falsch gemacht hat.

In Katharinens Garten aber steht eine Sonnenblume, die ein Prachtexemplar ihrer Art ist, schon reif, mit prächtigem, schwer nach unten hängendem Kopf und pechkohlenschwarz opalisierenden Kernen. Er weiß wohl, es ist Unrecht und eine Untat, kann aber der Versuchung nicht widerstehen. Dem Genie sind Dinge erlaubt, die den gewöhnlichen Sündern verboten sind: Eines Nachts, als ringsum alles im Schlaf liegt – die Mitternacht zieht näher schon, in stummer Ruh liegt Babylon –, steigt er mit einem kleinen Messer in der Hand aus dem Fenster seines ebenerdigen Schlafgemachs, schleicht über das Trottoir der nächtlich verwaist liegenden Bolkerstraße in Katharinens Garten, säbelt in meuchlerischer Aktion den schweren Kopf am schlanken Halse ab und schafft ihn heimlich schleichend auf den Speicher seines Hauses. Niemand hat etwas gemerkt. So hält er sich für sein eigenes verpisstes Exemplar schadlos.

Natürlich erregt der kopflose Stengel anderntags unliebsames Aufsehen. Besonders die benachbarten Mädchen beäugen Harry skeptisch. Gut möglich, dass man, da man seine heliotrope Leidenschaft kennt, ihn allgemein der Untat verdächtigt, doch ist ihm schlechterdings nichts nachzuweisen, nicht auf die Schliche zu kommen. Niemand käme auf die Idee, deswegen mit einem Durchsuchungsbefehl auf seinem Speicher nachzuforschen. Da sitzt er nämlich einsam und isoliert und berauscht sich an dem öligen Duft der jetfarbenen Kerne wie Dracula an Minas Halsschlagader.

Er hat aber ein störendes schlechtes Gewissen dabei und muss erfahren, dass ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein wahres Glück ist und man solcher Freuden, die man sich unrechtmäßig verschafft, nicht wahrhaft froh werden kann. Von Anfang an hat er, wie bei seinen Gedanken an die nackte Gerti, ein kriminelles Gefühl. Es ist der rätselhafte Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen, der ihn umgebenden bürgerlichen Wohlanständigkeit, der aus seiner tiefen Leidenschaftlichkeit kommt.

Mädchen und Blumen sind nicht sein einziges Faible. In seinem Garten in einer rechtwinkligen Mauerecke steht, in Nähe der Abfalltonne, eine windschiefe kleine Hütte, die er sich aus herumliegenden Brettern zusammengezimmert hat und in deren hautengen Wänden er sich zu Hause und geborgen wie im Mutterschoß fühlt. Offenbar ist es die Folge seiner inständigen und eingezogenen Natur, was ihn dort in vorzüglicher Vereinzelung sitzen und seinen einsamen Werkeleien und Eigenbröteleien nachgehen lässt, indes er von der Hütte so eng umschlossen wird wie eine Auster von ihrer Schale. Höchstens dass er sich vorstellt, wie es wäre, wenn Gerti einmal zu ihm in die Hütte käme ...

Eines Tages lassen Betty und Samson, während sie mit ihm ausgehen, den alten Verschlag, um ihm eine Überraschung zu machen, von einem berufsmäßigen Zimmerer durch eine neue schmucke Hütte aus neuen Brettern ersetzen. Das tadellose Holz riecht noch so frisch, wie wenn es geradewegs aus dem Sägewerk käme. Sein alter Verschlag ist in den Sperrmüll gewandert ... Sie haben ihm damit aber keinen Gefallen getan. Er trauert seiner alten Hütte nach wie einer verlorenen Liebe und kann sich zu der ihm unterschobenen neuen nicht bequemen. Sein eigenhändiges Werk ist zerstört und zu Ausschuss geworden. Der Aufenthalt unter dem glänzenden Wellblechdach ist ihm vergällt, und er erfährt, dass Dinge, an denen unser Herzblut hängt, nicht so einfach zu substituieren sind. Den Eltern kann er das nicht erklären. Sein leidenschaftliches Empfinden ist kompromisslos und radikal.

Seine Passionen sind nicht einmal ungefährlich. Mit sieben erklettert er die höchsten Kastanienbäume der nachbarlichen Gärten und Parks und schaukelt halsbrecherisch in den nach oben hin immer dünner werdenden Ästen. Am Ufer des Rheins flicht er sich kleine Weidenhäuschen und verbringt, wie vormals in seiner Hütte, allein ganze Nachmittage darin.

Berüchtigt ist seine Rauflust. Vielleicht ist es ein Überausgleich seiner kleinen Statur, die er durch die Demonstration von Kraft kompensieren will. Einmal verdrischt er auf offener Bolkerstraße einen gleichaltrigen Raufbold, bis der aus der Nase blutet, und wird vom Direktor der Schule zur Rede gestellt. Er weiß nicht, wie sich entschuldigen, hat aber einen Trumpf in der Hand. Die Tochter des Direktors, Lotte, hat letzthin öffentlich behauptet, dass er sie unsittlich angefasst habe, was aber, wie leicht zu beweisen, gar nicht stimmt. Das bringt er vor ihrem Vater zur Sprache. Der scheint davon so unangenehm berührt, dass er ihn ungestraft wieder laufen lässt. Die erfundene Schandtat Lottens schützt ihn vor der Strafe für eine solche, die er tatsächlich beging.

Ein junger Held Telemach, hat er eine Leidenschaft für Pfeil und Bogen, die er sich selber aus den Büschen im Garten schnitzt. Dazu verdrahtet er, damit sie besser im Ziel steckenbleiben, die Spitze seiner Pfeile mit echten eisernen Nägeln. Einmal, als er einen Pfeil senkrecht in die Luft abgeschickt hat und selber in Deckung ging, trifft es sich so unglücklich, dass das pfeilgerade zurückkehrende Geschoss direkt im Rücken eines älteren Freundes, Meinrads, landet, der sich im Gras gerade über etwas nach unten bückt, – und zwar so, dass es genau an der Stelle steckenbleibt, wo sich Meinrads Rückgrat mit dem Rückenmark befindet. Der Freund zieht sich, vor Schmerz ächzend, den Pfeil mit dem Nagel heraus, hält aber im Folgenden, genauso wie der beistehende Wiggerl, so dicht, dass weder Betty noch Samson etwas davon erfahren. So kommt er glimpflich davon; aber wenig mehr, und er würde wegen Totschlags verurteilt.

Ein anderer Kumpel hat zum Geburtstag eine brandneue Laufmaschine bekommen. Auch Harry, selber ein passionierter Läufer, darf sie ausprobieren. Er dreht eine Runde in der Bolkerstraße, muss aber einer entgegenkommenden Droschke ausweichen und steuert auf einen parkenden Fiaker zu. Er kann nicht rechtzeitig bremsen und prallt direkt auf den Wagen. Die vordere Gabel des Rades ist verbogen. Er hat das funkelnagelneue Laufrad des Freundes praktisch am ersten Tag schrottreif gefahren. Zum Glück bleibt auch das seinen Eltern verheimlicht. Er opfert seine gesamte Münzsammlung für den Mechaniker, der die Gabel notdürftig wieder hinbiegt, ist sich persönlich aber, wenn er sich an die Stelle des Besitzers versetzt, nur allzu bewusst, dass der moralisch-ästhetische Schaden, den er bei ihm angerichtet hat, damit nicht wiedergutzumachen ist.

Dass seine Leidenschaften ständig mit der Wirklichkeit kollidieren, verweist ihn auf seine Vorstellungswelt. Da wird seine Phantasie auf die Erotik geprägt. Vorm abendlichen Einschlafen stellt er sich Gerti unter seiner Bettdecke vor und lullt sich damit in den Schlummer. So bemächtigt die Frauenliebe sich seiner Träume. Wird die Befriedigung, die das Verweilen bei den Wunscherfüllungen der Phantasie mit sich bringt, doch auch durch das Wissen, dass es nicht Wirklichkeit ist, nicht gänzlich getrübt. In seinen Wunschvorstellungen genießt er frei von äußeren Zwängen die Wirkungen des Gefühls, auf die er in Wirklichkeit verzichten muss. Und um wieviel süchtiger muss das machen, wenn schon die Sphäre, in der die Träume spielen: die Einbildungskraft, selbst ein Medium des Eros und seiner Befriedigung ist!

So kommt es zu seiner erotischen, ganz auf die Frauenliebe gestimmten Phantasie. Die vielen Glücksmoleküle in seinem Gehirn sind ja nicht unabhängig und losgelöst von den anderen Tätigkeiten des Geistes und der Seele, sondern unmittelbar mit diesen verknüpft, verzahnt, vernetzt, verdrahtet. Seine Hirnchemie steht in direkter Verbindung – einer liaison dangereuse – mit seinem Geist, so dass ebenso das Geschlecht seine Phantasie, wie die Phantasie sein Geschlecht beeinflusst. Seine erotische Einbildungskraft hat einen direkten Einfluss auf sein Sinneszellengewebe. „Sobald die Phantasie“, so Tausk, „genügend entwickelt ist, wird sie die bewusste Begleiterin der onanistischen Akte. Dann kann sie auch als auslösendes Moment funktionieren, indem sie ihre durch Lektüre, durch Gespräche oder Anblicke gewonnene Erregung der Haupt- oder einer Nebenzone überträgt. Diese Bedeutung behält die Phantasie auch späterhin. Sie kann ihren Dienst jedoch unter Umständen so selbstständig gestalten, dass zur endgültigen Entladung der Sexualerregung das Phantasiespiel allein ausreichend wird.“

Offenbar ist das menschliche Denken eine Art molekulares Manipulationsvermögen vermöge winziger elektrischer Ströme. Auch die Seele ist ein biolgisches Organ. Was wären unser Geist und unsere Seele anderes als die Gesamtheit der Zellen unseres Gehirns und der in ihnen enthaltenen Moleküle? Was wäre unser Denken und Fühlen anderes als die Fähigkeit, diese Zellen und Moleküle zu manipulieren? Daher ist es ganz natürlich, dass wir mit der Phantasie auch den Molekülen des limbischen Systems und des Nucleus accumbens ad libitum schmeicheln können.

Umgekehrt steht auch der Geist unterm Einfluss der Sinnlichkeit. Die Lustsinneszellen geraten in Spannung, machen sich bemerkbar und melden chemische Bedürfnisse an, und unser Geist reagiert dementsprechend. Die minimalen Ströme, in denen die Gehirnvorgänge bestehen, gehorchen den hedonistischen Zellen; indem sie aber gehorchen, wird die Phantasie auf die Geschlechtslust getrimmt. Harrys Gehirn enthält außerordentlich viele solcher Glücksmoleküle, reagiert mit der Phantasie tagtäglich darauf und fällt nicht eher in Schlaf, als bis die phantastischen Bedürfnisse befriedigt sind. Es ist eine Art ideeller Selbstbefriedigung, an der nichts Ideales ist. Durch diese Selbstkonditionierung wird seine Phantasie auf Erotik geprägt.

Der Körper selbst pocht auf seine Lust. Die Lust hat ihr Eigenleben und unterwandert die Träume. Manchmal entstand in meinem Schlaf – schreibt Proust – aus einer falschen Lage wie Eva aus der Rippe Adams eine Frau. Während sie aus der Lust hervorgegangen war, die ich erlebte, bildete ich mir ein, dass diese mir erst durch sie zuteil geworden sei. Mein Leib verpürte in dem ihren seine eigene Wärme und drängte zu ihr, ich wachte auf. Die übrige Menschheit war mir dann ferngerückt im Vergleich zu dieser Frau, die ich vor Sekunden erst verlassen hatte; meine Wange war noch warm von ihrem Kuss, mein Leib von ihrem Gewicht zerschlagen. Wenn sie, wie es bisweilen vorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im Leben getroffen hatte, setzte ich alles daran, ihr wieder zu begegnen; es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eigenen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt. Allmählich verblasste dann ihr Bild, ich vergaß das Geschöpf meiner Träume. Mit Harry und Gerti und Katharine ist es nicht anders.

So ist das Träumen von der Stadt unserer Sehnsucht etwas grundsätzlich anderes, als tatsächlich dahin zu gehen. Was wir in Venedig bekommen, ist das Ding im Besitz; wonach wir uns sehnten, war aber das Ding als Gegenstand in der Sehnsucht. Heischt aber unsere Sehnsucht nach Befriedigung, und ist unsere Sehnsucht eine Sache der Phantasie, – ist dann vielleicht auch die Befriedigung der Sehnsucht mehr eine Sache der Phantasie als der Wirklichkeit?

Ist die Befriedigung der Sehnsucht durch die Phantasie womöglich noch größer und umfassender als die Befriedigung durch das Lustobjekt selbst, dem unsere phantastische Sehnsucht gilt?

Das weiß der junge Harry aber nicht, der die Befriedigung seiner träumerischen Lust ja ausschließlich nur aus der Phantasie und noch nicht aus der Wirklichkeit kennt. Ist der Knabe zur Befriedigung seiner Sehnsucht in Wirklichkeit doch so recht eigentlich noch gar nicht imstande! Es dauert noch ziemlich lange, bis er die Erfahrung tatsächlich macht; will sagen, bis er in Wirklichkeit nach Venedig kommt. Doch kennt er auf seine Art bereits die Befriedigung der Lust durch die Phantasie, durch das Träumen von Venedig.

Besuch schneit ins Haus: ein gleichaltriger Cousin, zusammen mit einer kleinen Begleiterin namens Silvia, ein blondes, feingliedriges Geschöpf, das sein zärtliches Interesse weckt. Auch sein Cousin empfindet es ähnlich. Zusammen mit ihm buhlt er um die Gunst der kleinen Blondine. Er merkt, Frauenliebe gibt es nicht umsonst, man muss mit konkurrierenden Rivalen um sie buhlen. Vielleicht hat er das auch schon vorher gewusst, wenn er bei der Liebe mit Betty den Gedanken an Samson verdrängte. Er spürt zärtliche Eifersucht. Aber die reizende Silvia bevorzugt weder den einen noch den andern, sondern wahrt gleichmäßige Neutralität. Wie kann sie nur? fragt er sich. Wie kann sie, während sie beide für sie entbrannt sind, selber so leidenschaftslos bleiben? Er erfährt, die Leidenschaft, die andere in uns erwecken, muss nicht unbedingt die gleiche sein, die wir in ihnen erwecken, ja, dass das sogar in den wenigsten Fällen so ist. Die Frauenliebe beruht, anders als die Bettys, im Allgemeinen nicht auf Gegenseitigkeit ind Reziprozität. Lieben bedeutet nicht automatisch auch schon, wiedergeliebt zu werden. Die Gäste reisen ab, und Silvia sieht er niemals wieder. Wie alles Weibliche, an dem er einmal engagiert war, bleibt sie ihm sein Leben lang im Gedächtnis.

In Frau Hindermans ABC-Schule, in die er jetzt geht, ist er zufällig der einzige Bub unter einem Dutzend kleiner Mädchen; als sei die Vorsehung selbst schon im Bilde, was sie ihm sentimentaliter schuldet. Da sitzt er wie der Hahn im Korb; wie der Kuchenliebhaber inmitten einer Konditorei. Noch lange erinnert er sich, wie die gute Frau den Mädeln, um sie mit einer Birkenrute zu bestrafen, immer den Rock hochzog, so dass ihm die im Sonnenschein golden aufgleißenden Steiße wie fruchtig gelbe Zitronen erschienen. Sie züchtigt sie so, wann immer sie ihr anscheinend nicht züchtig genug sind; doch hat die Form der Züchtigung selbst etwas ausgesprochen Unzüchtiges. Er spürt es an dem aufgeregten Kribbeln in seinem Blut. Er reimt sogar ein Gedicht darauf – über Citronia, wie ein südliches Land seiner Sehnsucht. Zu lesen ist es bar aller pädophilen Assoziationen. Unter Gleichaltrigen gibt es keine Päderastie:

Das war in jener Kinderzeit,

Als ich noch trug ein Flügelkleid

Und in die Kinderschule ging,

Wo ich das Abc anfing –

Ich war das einz'ge kleine Bübchen

In jenem Vogelkäfigstübchen,

Ein Dutzend Mädchen allerliebst

Wie Vöglein haben dort gepiepst,

Gezwitschert und getiriliert,

Auch ganz erbärmlich buchstabiert.

Frau Hindermans im Lehnstuhl saß,

Die Brille auf der langen Nas

(Ein Eulenschnabel war's vielmehr),

Das Köpflein wackelnd hin und her,

Und in der Hand die Birkenrut,

Womit sie schlug die kleine Brut,

Das weinend kleine arme Ding,

Das harmlos einen Fehl beging –

Das Röcklein wurde aufgehoben

Nach hinten, und die kleinen Globen,

Die dort sich wölben, rührend schön,

Manchmal wie Rosen anzusehen,

Manchmal wie Lilien, wie die gelben

Violen manchmal, ach! dieselben

Sie wurden von der alten Frau

Geschlagen, bis sie braun und blau!

Misshandelt und beschimpft zu werden,

Das ist des Schönen Los auf Erden.

Citronia hab ich genannt

Das wunderbare Zauberland,

Das ich einst bei der Hindermans

Erblickt im goldnen Sonnenglanz –

Es war so zärtlich ideal,

Zitronenfarbig und oval,

So anmutvoll und freundlich mild

Und stolz empört zugleich – dein Bild,

Du erste Blüte meiner Minne!

Es kam mir niemals aus dem Sinne.

Nicht so glücklich steht er sich mit der Domina selbst, gleichwohl er ihr für die Einblicke, die sie ihm verschafft, eigentlich dankbar sein müsste. Gegen sie schießt er seine erste Polemik ab. Berühmt ist die Anekdote, wie er ihre Schnupftabakdose ausleert und sie mit Sand anfüllt.

Warum hast du das getan? stellt sie ihn zur Rede.

Weil ich dich hasse! ist seine grimmige Antwort.

1804 wechselt er in die Volksschule an der Citadellstraße. Es ist die zweite Düsseldorfer Normalschule neben der auf der Ritterstraße. Dass er da überhaupt hin darf, ist ein kleines Wunder. Jüdische Kinder gehen in jüdische Schulen, keine öffentlichen. Aber eine kurfürstliche Verfügung von 1804 bestimmt, dass auch jüdische Kinder schulpflichtig sind, solange es keine jüdischen Schulen im Umkreis gibt. Indes sind sie vom Religionsunterricht, von der Andacht und vom Schulgebet befreit.

Von Anfang an ist er empfänglich für die Reize seiner kleinen Mitschülerinnen. Einmal bekommt er zufällig mit, wie eine davon, auf die er ein Auge geworfen hat, ihren Freundinnen gegenüber seine großen braunen Augen lobt. Sonst bleibt sie aber auf Abstand, so dass ihm nichts einfällt, wie er sich ihr nähern könnte. Er kommt ebenso wenig an sie heran wie an Sara.

Sollen wir seinem verschwärmten Bericht über die drei Schwestern glauben oder ihn bloß für ein romantisches Geflunker halten? Für ihn sind alle Mädchen schön: Er sitzt bei ihnen am gewölbten Fenster und lacht über ihr Lachen, lässt sich mit Blumen ins Gesicht schlagen und stellt sich böse, bis sie ihm ihre Geheimnisse oder irgendeine andere wichtige Geschichte erzählen. Die schöne Gertrud ist bis zum Tollwerden vergnügt, wenn er sich zu ihr setzt; es ist ein Mädchen wie eine flammende Rose, und als sie ihm einmal um den Hals fällt, glaubt er, sie würde verbrennen und verduften in seinen Armen.

Die schöne Katharine zerfließt in klingender Sanftheit, wenn sie mit ihm spricht, und ihre Augen sind von einem so reinen innigen Blau, wie er es noch nie bei Menschen und Tieren, und nur selten bei Blumen gefunden; man sieht gern hinein und kann sich so recht viel Süßes dabei denken.

Aber die schöne Hedwig liebt ihn; denn wenn er zu ihr tritt, beugt sie das Haupt zur Erde, so dass die schwarzen Locken über das errötende Gesicht herabfallen und die glänzenden Augen wie Sterne aus dunklem Himmel hervorleuchten. Ihre verschämten Lippen sprechen kein Wort, und auch er kann ihr nichts sagen. Er hustet und sie zittert. Manchmal lässt sie ihn durch ihre Schwester bitten, nicht so rasch die Felsen zu besteigen und nicht im Rhein zu baden, wenn er sich heiß gelaufen oder getrunken. Einmal belauscht er ihr andächtiges Gebet vor dem Marienbildchen, das, mit Goldflittern geziert und von einem brennenden Lämpchen umflittert, in einer Nische des Hausflurs steht; er hört deutlich, wie sie die Muttergottes bittet: ihm das Klettern, Trinken und Baden zu verbieten.

Die schöne Johanna ist die Base der drei Schwestern, und er setzt sich gern zu ihr. Sie weiß die schönsten Sagen, und wenn sie mit der weißen Hand zum Fenster hinauszeigt nach den Bergen, wo das alles passiert ist, was sie erzählt, so wird ihm ordentlich verzaubert zumute, die alten Ritter steigen sichtbar aus den Burgruinen und zerhacken sich die eisernen Kleider, die Lorelei steht auf der Bergesspitze und singt hinab ihr süß verderbliches Lied, und der Rhein rauscht so vernünftig, beruhigend und doch zugleich neckend schauerlich – und die schöne Johanna sieht ihn an so seltsam, so heimlich, so rätselhaft traulich, als gehöre sie selbst zu den Märchen, wovon sie eben erzählt. Sie ist ein schlankes, blasses Mädchen, todkrank und sinnend, ihre Augen sind klar wie die Wahrheit selbst, ihre Lippen fromm gewölbt, in den Zügen ihres Antlitzes liegt eine große Geschichte, aber es ist eine heilige Geschichte – etwa eine Liebeslegende? Er weiß es nicht und hat auch nie den Mut, sie zu fragen. Wenn er sie lange ansieht, wird er ruhig und heiter, es wird ihm, als sei stiller Sonntag in seinem Herzen und die Engel darin hielten Gottesdienst … –

Im Alter von sieben oder acht ist seine Mitschülerin Hedwig seine Freundin. Wie vom Himmel herab fällt es ihm in den Schoß, dass sie seine Neigung traulich erwidert. Sie laufen Hand in Hand durch das Viertel, auch die Bolkerstraße, so dass jeder es sehen kann. Er ist stolz auf seine hübsche Eroberung; zugleich geniert er sich aber auch deswegen, wie wenn er fühlte, dass es sich eigentlich für sein Alter nicht ziemt, und weil manche Jungen ihn deshalb einen Weiberschmecker nennen. Er weiß es aber selber schon und gibt es zu, dass er ein Weiberschmecker ist. Sieht es doch tatsächlich so aus und fühlt sich auch so an wie eine richtig eheliche Gemeinschaft.

Auf einmal aber endet ihre Geschichte, ohne dass er sagen könnte, wie oder warum. Er spürt ihre kleine Hand nicht mehr in der seinen und fragt sich noch später im Leben zuweilen, wie das passieren konnte? Was hat ihn ihr plötzlich entfremdet? Hat er sich am Ende vor den Leuten geniert? Fürchtete er, zu früh sich selbst zu verlieren? War es vielleicht schon jene seltsame Enttäuschung der Sehnsucht durch ihre Erfüllung – das Bedauern darüber, im Genuss die Sehnsucht verloren zu haben? im wirklichen Venedig die Sehnsucht nach Venedig zu vermissen? Oder ist es bereits der narzisstische Donjuanismus, der sich damit begnügt, die Liebe einer Frau erobert zu haben, und dann nichts mehr von ihr wissen will?

Ich hätte mich gewiss in das schöne Mädchen verliebt, notiert er einmal, wenn sie gleichgültig gegen mich gewesen wäre; und ich war gleichgültig gegen sie, weil ich wusste, dass sie mich liebte – Madame, wenn man von mir geliebt sein will, muss man mich en canaille behandeln. Ist es vor allem die Unerreichbarkeit einer Frau, die ihn reizt? Zum Glück scheint Hedwig ihrerseits nicht so enttäuscht, wie er es vielleicht befürchtet. Aber wer weiß das schon? Sein Leben lang behält er ein schlechtes Gewissen ihretwegen, auch wenn sie ihn selber sicher längst vergaß und überhaupt nicht mehr an ihn denkt. Niemals auch vergisst er die Verse des Kollegen Theodor Storm:


Wer je gelebt in Liebesarmen,

der kann im Leben nie verarmen;

und müsst er sterben fern, allein,

er fühlte noch die selge Stunde,

wo er gelebt an ihrem Munde,

und noch im Tode ist sie sein.


Genauso war es mit Hedwig. Er spürt aber, das ist kein gutes Prinzip: dort, wo man geliebt wird, selbst nicht zu lieben, und dort zu lieben, wo man selbst nicht geliebt wird; das nämlich führt, da die Liebe, um ihren Namen zu verdienen, immer gegenseitig sein muss, zur Unmöglichkeit von Liebe überhaupt, für die es so viele Beispiele gibt. Wieviele seiner späteren Enttäuschungen wären ihm erspart geblieben, wäre er mit sieben oder acht bei Hedwig geblieben! Wieder empfindet er seine untreue Abtrünnigkeit als irgendwie kriminell und wundert sich, dass sie in der Nachbarschaft weiter kein Aufsehen erregt, keinen Skandal verursacht, und empfindet es als eine Art Schuld, wenn er sich daran erinnert. Vielleicht steht er noch, wie Tonio Kröger, eine Zeitlang vor dem erkalteten Altar seiner Liebe, voll Staunen und Enttäuschung darüber, dass Treue auf Erden unmöglich war ...

Oder ist es einfach wieder eine neue Leidenschaft, die ihn Hedwig abspenstig machte? Denn da ist, schon ein oder zwei Klassen über ihm, eine Schülerin namens Isolde, so schön und hold wie ihr Name: holde Isolde. Winters sieht er sie auf einem gefrorenen Weiher Schlittschuh laufen, und wie sie frisch und unbeschwert lacht und ihr schwarzes Haar im Winde fliegt, und grüblerisch zerbricht er sich den Kopf, wie er sich ihr nähern könnte. Es ist wie mit Sara in der Synagoge oder Gerti in seinem Garten.

Da ist er schon im dritten oder vierten Schuljahr und liest den Don Quijote. Oder ist es ein amerikanisches Abenteuerbuch, in dem liebenswerte junge Frauen von wilden Indianern entführt, an den Marterpfahl gebunden und erst durch unerschrockene Wildtöter gerettet werden? Er ist so begeistert von den Geschichten, dass er sie abends vor dem Einschlafen für sich persönlich weiterträumt. Er selber wird Teil der abenteuerlichen Unternehmungen und ruht nicht eher, als bis seine Herzensdame befreit ist und ihm, ihrem Retter, dankbar und hingebungsvoll an die Brust sinkt. Dieses Ende der Geschichte zögert er immer so lang wie möglich hinaus und schläft, die zerknüllte Bettdecke zwischen den Beinen, nicht eher ein, als bis er am verdickten Kopfende den Kuss ihrer Hingabe spürt. Es ist ein Glücksgefühl in seinem Kopf, wie ein wohliges Prickeln, das ihn etwas erschöpft, müde macht und in einer Art erhitzter Schläfrigkeit in Schlaf sinken lässt. Es ist eine Form kindlicher sexueller Selbstbefriedigung, kein Zweifel.

Das ist nicht weiter wunderlich, der junge Harry macht da keine Ausnahme. Die psychoanalytische Lehrmeinung hält die Allgemeinheit der Onanie, namentlich im Kindesalter, für selbstverständlich. Laut der freudianischen Sexualtheorie ist die Kinderonanie allgegenwärtig: Man könne „schwerlich die Absicht der Natur verkennen, durch die Säuglingsonanie, der kaum ein Individuum entgeht, das künftige Primat dieser erogenen Zone für die Geschlechtstätigkeit festzulegen.“ Die Ubiquität der Säuglings- und Kinderonanie, so Eduard Hitschmann, das Vorkommen der Onanie bei Tieren, infolge gezwungener Abstinenz, ferner auch bei Naturvölkern, musste von derselben das Odium des Krankhaften nehmen. – Erfahrungsgemäß, so Wilhelm Stekel, onanieren alle Kinder. Ich meine die Kinderonanie in den ersten Lebensjahren. Und er berichtet von einer Frau, einer Arztgattin, die seit dem vierten Lebensjahr fast täglich onanierte, und auch in der Ehe onanieren musste. Sie konnte erst einschlafen, nachdem sie einen onanistischen Akt vollzog. –Ich konnte, so Josef K. Friedjung, in etwa zwei Jahren 35 Fälle von Kinderonanie notieren. Aus der Methode der Sammlung ergibt sich ohne weiteres, dass es sich dabei um eine Minimalzahl handelt. Et cetera.

An diesen Indianerabenteuern will er seine schwarzhaarige Flamme teilhaben lassen. Welch innige Seelengemeinschaft wäre es zwischen ihm und Isolde, wenn sie dieselben Geschichten läse und die gleiche Glut der Begeisterung fühlte wie er? So hat er den dickleibigen Band mit seinem bunten Einband tagelang in der Schultasche auf dem Gepäckträger seiner Laufmaschine mit dabei und will sie an der Stelle vor der Kirche abpassen, wo sie auf dem Schulweg vorbeikommen muss. Etliche Tage lang wartet er so. Sie kommt auch wohl manchmal vorbei, doch dann, vielleicht, weil sie in Begleitung einer Freundin ist, hat er nicht den Mut, sie anzusprechen. Das Herz fällt ihm in die Hose. Es kommt ihm doch etwas unpassend, exotisch und nachgerade irreal vor, ihr akkurat ein Stück Literatur leihen zu wollen. Vielleicht ist sie ja gar nicht am Lesen interessiert. Vielleicht ist sie ja gar keine so passionierte Leserin wie er selbst.

Oder liegt es daran, dass sie schon etwas älter ist als er, auch sichtlich größer, so dass sie wohl kaum was von ihm haben will? Oder ist es, weil er sie zusammen mit einem jungen Burschen namens Hans aus der Oberklasse auf dem spiegelglatt gefrorenen Weiher dahinschlittern sah, – einem hübschen jungen Burschen mit schwarzen Locken wie sie, das muss man ihm lassen, der sportlich und virtuos auf seinen silbernen Kufen fuhr und sie dabei sogar an der Hand hielt? Er selber könnte niemals so gekonnt mit ihr schlittern, so sportlich ist er nicht, auch ist er noch nicht so alt, und auch nicht so hübsch und schwarzgelockt wie der Hans. Sie würde ihn höchstens befremdet anschauen, wenn er seinen Wälzer auspackt, und ihn vielleicht sogar auslachen. Soll er das vor den anderen Schülerinnen riskieren? Wie, wenn seine Verflossene, Hedwig, davon erfährt?

Vielleicht findet er deshalb nicht den Mut und spürt den Stachel eifersüchtig entherzten Zweifels. Zweifel ist aber nicht weit von Verzweiflung. Mehrere Male fährt er mit dem Buch auf dem Träger unverrichteterdinge wieder nach Hause, und nach einiger Zeit gibt er sein Vorhaben gänzlich auf. Im Gedächtnis bleibt es ihm wie eine bittere Niederlage, eine sentimentale Katastrophe – die Unmöglichkeit, von Isolde geliebt zu werden.

Spätestens da ist es, dass er sich seiner körperlichen Statur und der Bedeutung der Körperlichkeit in der Liebe bewusst wird. Isolde ist größer und älter als er, und das allein kann, wie er fühlt, ihre Liebe hintertreiben und boykottieren. Ist das aber mit Isolde so, dann ebenso auch bei anderen Frauen. Der junge Harry ist eher von kleiner, kaum mittelgroßer Statur, und die Hälfte mindestens aller gleichaltrigen Mädchen ist größer als er. Allein das schon bedeutet, die Hälfte aller Frauen auf der Welt kommt für seine Liebe nicht in Betracht. Bei fünfzig Prozent aller Frauen hat er von Hause aus keine Chance. Für einen normalen Jungen ist das kein Problem; er wird sich einfach eine Partnerin suchen, die von der Statur her zu ihm passt. Hedwig war noch kleiner als er, da war es kein Problem. Jetzt aber ist es doch ein Problem, denn er ist kein normaler Junge: Er ist ein Erotiker, wie er im Buche steht, und liebt mehr als eine Frau. Der Liebe für schöne Frauen blieb mein Leben gewidmet, bekennt er in seinen Memoiren, ,Frauen' in der Mehrzahl; und da ist es bereits eine Tragödie an und für sich, wenn ihm die Hälfte aller Frauen schon von Vornherein seiner Körpergröße wegen unerreichbar bleibt.

Was kann ein Erdensohn mehr verlangen von einem Weibe? schreibt er einmal an Maximilian Schottky. Ist ein solches nicht ein wandelndes Paradies? Ich wünsche Ihnen Glück zum Besitze desselben. Ich Ritter von der traurigen Gestalt werde nie eines solchen teilhaftig werden können, und, wie die Weiber im Koran, muss ich mich mit dem bloßen Anblick des Paradieses begnügen. Ja, ein Paradies! denn seine Frauenliebe gilt ja nicht nur ihrem Geschlecht, sie gilt ihrem ganzen weiblichen Wesen mit allen Fasern ihres Körpers und ihrer Seele und ihres Seins überhaupt, dieser geschenkten Welt, so dass sein glühendes Verlangen nach Besitz auch nur dadurch zu stillen wäre, dass er ihren Leib und ihre Seele in jeder Faser seines Daseins besitzen und in sich aufnehmen könnte.

Manchmal begegnet es ihm, dass er auf der Straße eine ganze Schulklasse sechzehn-, siebzehnjähriger Mädchen, solche und solche, darunter ausnehmend hübsche, modisch entblößte, vorüberwandern sieht. Frage: Was empfindet der junge Harry dabei? Als ich ein Knabe war, fühlte ich immer eine brennende Sehnsucht, wenn schöngebackene Torten, wovon ich nichts bekommen sollte, duftig-offen bei mir vorübergetragen wurden; späterhin stachelte mich dasselbe Gefühl, wenn ich modisch entblößte, schöne Damen vorbeispazieren sah! – Apfeltörtchen waren nämlich damals meine Passion – jetzt ist es Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe.

Außerdem wählen sogar die kleineren Frauen oft größere Männer, vielleicht des Ausgleichs oder eines instinktiv irrationalen Schutzbedürfnisses wegen. Die schwachen Frauen mit ihrem Schutzbedürfnis lieben überhaupt große, gutaussehende, starke Männer. Er kann sie gut verstehen, diese Frauen, denn er selber liebt große, starke, gutaussehende Männer. Vielleicht sind es die weiblichen Hormone in ihm, warum auch er in große, starke, gutaussehende Männer verliebt ist. Er liebt die mythologischen Bücher, in denen sie abgebildet sind – die klassichen Helden Herkules, Theseus, Achilles, Odysseus, Äneas, Simson ... In seinen hochmögenden Träumen – in einer Überkompensation seiner kleinen Statur – identifiziert er sich auf Gedeih und Verderb mit ihnen.



Harry hardcore I - Der junge Heine

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