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5: Sara

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Jeden Sabbat besucht er den jüdischen Gottesdienst in der Synagoge in der Kasernenstraße. Die Jüdische Gemeinde Düsseldorfs hat nicht mehr als um die 300 Seelen. Harry darf ihn begleiten, während Betty lieber zu Hause bleibt. Betty hat ein so eigenes persönliches und gleichsam intimes Verhältnis zu Gott, dass sie dazu keines offiziell angestellten Zwischenträgers bedarf. Ein Muster gottgefälligen Wandels ist der örtliche Rabbiner, genannt Rabbi Abraham, der lange in Spanien gewesen, ein noch jugendlicher Mann, der aber weit und breit wegen seiner Gelahrtheit berühmt ist. Er ist geboren in dieser Stadt, und sein Vater, der hier ebenfalls Rabbiner gewesen, hat ihm in seinem letzten Willen befohlen, sich demselben Amt zu widmen und Düsseldorf nicht zu verlassen. Dieser Befehl und ein Schrank mit seltenen Büchern ist alles, was sein Vater, der bloß in Armut und Schriftgelahrtheit lebte, ihm hinterließ. Dennoch ist Rabbi Abraham ein sehr reicher Mann; verheiratet mit der einzigen Tochter seines verstorbenen Vaterbruders, welcher den Juwelenhandel getrieben, erbte er dessen große Reichtümer. Einige Fuchsbärte in der Gemeinde deuten darauf hin, als wenn der Rabbi eben des Geldes wegen seine Frau geheiratet habe. Aber sämtliche Weiber widersprechen und wissen alte Geschichten zu erzählen: wie der Rabbi, schon vor seiner Reise nach Spanien, verliebt gewesen in Sara – man heißt sie immer die schöne Sara –, und wie Sara sieben Jahre warten musste, bis der Rabbi aus Spanien zurückkehrte, indem er sie gegen den Willen ihres Vaters und selbst gegen ihre eigne Zustimmung durch den Trauring geheiratet hat.

Jedweder Jude nämlich kann ein jüdisches Mädchen zu seinem rechtmäßigen Eheweib machen, wenn es ihm gelingt, ihr einen Ring an den Finger zu stecken und dabei die Worte zu sprechen: „Ich nehme dich zu meinem Weibe nach den Sitten von Moses und Israel!“ Schon als Kinder haben sie kindisch miteinander in der Lauberhütte gespielt, sich dort an den bunten Tapeten, Blumen, Spiegeln und vergoldeten Äpfeln ergötzt, während der kleine Abraham immer zärtlicher mit ihr koste, bis er allmählich größer und mürrisch wurde, und endlich ganz groß und ganz mürrisch … Und endlich sitzt sie zu Hause allein in ihrer Kammer eines Samstags abend, der Mond scheint hell durchs Fenster, und die Tür fliegt auf, und hastig stürmt herein ihr Vetter Abraham, in Reisekleidern und blass wie der Tod, und er greift ihre Hand, steckt einen goldnen Ring an ihren Finger und spricht feierlich: „Ich nehme dich hiermit zu meinem Weibe, nach den Sitten von Moses und Israel!“ „Jetzt aber“ – setzt er bebend hinzu – „jetzt muss ich fort nach Spanien. Lebe wohl, sieben Jahre sollst du auf mich warten!“ Und er stürzt fort, und weinend erzählt die schöne Sara das alles ihrem Vater … Der tobt und wütet: „Schneid ab dein Haar, denn du bist ein verheiratetes Weib!“ – und er will dem Abraham nachreiten, um einen Scheidebrief von ihm zu erzwingen; – aber der ist schon über alle Berge, der Vater kehrt schweigend nach Haus zurück, und wie die schöne Sara ihm die Reitstiefel ausziehen hilft und besänftigend äußert, dass der Abraham nach sieben Jahren zurückkehre, da flucht der Vater: „Sieben Jahr sollt ihr betteln gehen!“, und bald stirbt er. Harry weiß nicht, hat er die Geschichte wirklich einmal so gehört, oder hat sie ihm selbst so eines Nachts geträumt.

Bei der Erwähnung Spaniens pflegen die Fuchsbärte auf eine ganz eigene Weise zu lächeln; und das geschieht wohl wegen eines dunkeln Gerüchts, dass Rabbi Abraham auf der hohen Schule zu Toledo zwar emsig genug das Studium des göttlichen Gesetzes getrieben, aber auch christliche Gebräuche nachgeahmt und freigeistige Denkungsart eingesogen habe, gleich jenen spanischen Juden, die dort auf einer außerordentlichen Höhe der Bildung stehen. Im Innern ihrer Seele aber glauben jene Fuchsbärte sehr wenig an die Wahrheit des angedeuteten Gerüchts. Denn überaus rein, fromm und ernst war und ist seit seiner Rückkehr aus Spanien die Lebensweise des Rabbi, die kleinlichsten Glaubensgebräuche übt er mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit, alle Montag und Donnerstag pflegt er zu fasten, nur am Sabbat oder anderen Feiertagen genießt er Fleisch und Wein, sein Tag verfließt in Gebet und Studium, des Tages erklärt er das göttliche Gesetz im Kreise der Schüler, die der Ruhm seines Namens angezogen, und des Nachts betrachtet er die Sterne des Himmels oder die Augen der schönen Sara …

Wehmütig heiter, ernsthaft spielend und märchenhaft geheimnisvoll ist der Charakter dieser Feiern, und ihr herkömmlich singender Ton klingt so schauervoll innig, so mütterlich einlullend, und zugleich so hastig aufweckend, dass selbst diejenigen Juden, die längst von dem Glauben ihrer Väter abgefallen und fremden Freuden und Ehren nachgejagt sind, im tiefsten Herzen erschüttert werden, wenn ihnen die alten, wohlbekannten Paschaklänge ins Ohr dringen. Die Frauen sitzen oben in der Abteilung der Weiber, sitzen hier schwatzend nebeneinander oder stehen aufrecht, inbrünstig betend; sitzen in ihren wunderlich glitzernden Kleidern von lombardischen Stoffen, die nicht selten von Samson geliefert wurden, tragen um Haupt und Hals ihr Gold- und Perlengeschmeide; und die silberne Sabbatlampe gießt ihr festlichstes Licht über die andächtig vergnügten Gesichter der Alten und Jungen.

Trotz alledem geht Harry nur mit gemischten Gefühlen mit in den Gottesdienst und eher, um Samson einen Gefallen zu tun. Genauer gesagt, tut er es vielleicht mehr um der abenteuerlichen spanischen Vergangenheit des Rabbis und seiner gelegentlichen Erzählungen über das Land willen, denen sich seine eigene entstehende Leidenschaft für Spanien verdankt. Nun also, noch genauer gesagt, ist es vielleicht der gelegentliche Anblick der wunderschönen Sara, den er in der Abteilung der Weiber erhascht. Sie muss gemerkt haben, dass der kleine Kerl sie mit seinen Blicken verfolgt, denn einmal, als er ihr in der Frauenabteilung wieder zu nahe kommt, fragt sie ihn mit freundlich aufmerksamer Neugier nach seinem Namen.

Eines Abends trat die Fürstin

Auf ihn zu mit raschen Worten:

„Deinen Namen will ich wissen,

Deine Heimat, deine Sippschaft!“

Harry Heine, sagt er. Wo er denn wohne? In der Bolkerstraß. Ob er allein hierher komme? Nein, mit seinem Vater, dem Tuchhändler. Aha, sagt sie aufmerksam-freundlich. Sie fragt ihn absichtlich nicht, warum er so auffällig ihre Nähe sucht. ,Weil ich dich liebe', antwortet er ihr in seinen Träumen darauf. Er träumt nämlich von ihr. Seither grüßt sie ihn immer, wenn sie ihn sieht, mit freundlichen Blicken. Sie ist die schönste Frau in seiner derzeitigen Umwelt, doch sieht er, auch da er noch ein Kind ist, keine Möglichkeit, ihr näher zu treten.

Dieser fromme Minnedienst ist vielleicht das Eigentliche, was ihm an der israelitischen Frömmigkeit frommt. Die anderen Glaubensgebräuche und geistlichen Lehren empfindet er als anödend konventionell, klischeehaft und nicht selten eklatant unintelligent. Ebenso zuwider wie die trüben, qualsüchtigen Nazarener sind ihm die dürren, freudlosen Hebräer. Da ist beispielsweise die bekannte Geschichte von der Opferung Isaaks, es ist eine interessante Geschichte, und wenn er sie nicht schon so oft angehört hätte, so würde er sie gern noch einmal hören. Und es ist eine wichtige Geschichte, denn wenn Abraham den Isaak wirklich geschlachtet hätte, und nicht den Ziegenbock, so wären jetzt mehr Ziegenböcke und weniger Juden auf der Welt. Überhaupt scheint in der ganzen Geistlichkeit in Düsseldorf und anderswo nicht sehr viel Geist vorhanden, im Gegenteil fällt er später im Rabbi von Bacherach das verächtliche Urteil: Die Geistlichkeit herrschte im Dunkeln durch die Verdunkelung des Geistes.

Seinen Vater scheint das nicht zu stören, zumal die Gemeinschaft geschäftsfördernd ist. Er ist ein großes Kind mit einer kindlichen Naivetät, die bei platten Verstandesvirtuosen sehr leicht für Einfalt gelten kann, aber manchmal durch irgendeinen tiefsinnigen Ausspruch das bedeutendste Anschauungsvermögen verrät. Er wittert mit seinen geistigen Fühlhörnern, was die Klugen erst langsam durch die Reflexion begreifen. Er denkt weniger mit dem Kopf als mit dem Herzen und hat das liebenswürdigste Herz, das man sich denken kann. Das Lächeln, das manchmal um seine Lippen spielt und mit der oben erwähnten Gravität gar drollig anmutig kontrastiert, ist der süße Widerschein seiner Seelengüte. Auch seine Stimme, obgleich männlich, klangvoll, hat etwas Kindliches, fast etwas, das an Waldtöne, etwa an Rotkehlchenlaute erinnert; wenn er spricht, dringt seine Stimme so direkt zum Herzen, als habe sie gar nicht nötig gehabt, den Weg durch die Ohren zu nehmen. Er redet den Dialekt Hannovers, wo, wie auch in der südlichen Nachbarschaft dieser Stadt, das Deutsche am besten ausgesprochen wird. Das ist ein großer Vorteil für den Sohn, dass solchermaßen schon in der Kindheit durch seinen Vater sein Ohr an eine gute Aussprache des Deutschen gewöhnt wird, während in ihrer Stadt selbst jenes fatale Kauderwelsch des Niederrheins gesprochen wird, das zu Düsseldorf noch einigermaßen erträglich, aber in dem nachbarlichen Köln wahrhaft ekelhaft wird. Köln ist die Toskana einer klassisch schlechten Aussprache des Deutschen, und Kobes klüngelt mit Marizzebill in einer Mundart, die wie faule Eier klingt, fast riecht.

In der Sprache der Düsseldorfer merke man schon einen Übergang in das Froschgequäke der holländischen Sümpfe. Er will der holländischen Sprache beileibe nicht ihre eigentümlichen Schönheiten absprechen, nur gesteht er, dass er kein Ohr dafür habe. Es mag sogar wahr sein, dass unsere eigene deutsche Sprache, wie patriotische Linguisten in den Niederlanden behaupten, nur ein verdorbenes Holländisch sei. Es ist möglich.

Dies erinnere ihn an die Behauptung eines kosmopolitischen Zoologen, welcher den Affen für den Ahnherrn des Menschengeschlechts erklärt. War das Jean-Baptiste Lamarck? Oder Geoffroy Saint-Hilaire, dem er später einmal in Paris begegnet? Die Menschen sind nach seiner Meinung nur ausgebildete, ja überbildete Affen. Wenn die Affen sprechen könnten, sie würden wahrscheinlich behaupten, dass die Menschen nur ausgeartete Affen seien, dass die Menschheit ein verdorbenes Affentum, wie nach der Meinung der Holländer die deutsche Sprache ein verdorbenes Holländisch sei, – – doch suche er vergebens durch das Schellen seiner Kappe die Wehmut zu überklingeln, die ihn jedesmal ergreift, wenn er an seinen verstorbenen Vater denkt. Er war von allen Menschen derjenige, den ich am meisten auf dieser Erde geliebt.

Nein, von einem solchen Vater hat er keinen ödipalen oder sonst einen Komplex zu befürchten!

Kaum ist er Bettys Brust entwöhnt und herunter von ihrem Schoß, kaum steht er, spätestens als seine Geschwister – Charlotte, Gustav – kommen, auf eigenen Füßen, als er die zärtliche Aura der Weiblichkeit, an die er durch Betty gewöhnt ist, auch in der Außenwelt zu wittern beginnt. In Nachbarschaft von Bolkerstraße 10, wo er aufwächst, wimmelt es von Kindern, auch vielen Mädchen, jüdischen und nichtjüdischen, Goi und Nichtgoi, gleichaltrigen und älteren, die in seinen Garten kommen, und er in den ihren. Das eine heißt Katharine und ist eine Bäckerstochter, das andere trägt den Namen Gertrud, genannt Gerti, und er spürt den zarten Appeal des Weiblichen ganz natürlich und empfindet ähnliches Entzücken bei ihr. Ein Hauch von Fremdheit weht ihn an. Er fühlt, es ist ein und derselbe weibliche Appeal wie bei Betty, der ihn auch bei Gerti streift, es ist dieselbe Frauenliebe; doch kommt noch etwas mit hinzu, ein Ruch des Andersartigen, der Fremdheit, des Neuen. Sie ist ihm nicht so uranfänglich vertraut wie Betty, sondern ein Wesen eigener Art, wie von einem anderen Stern.

Er stellt sie sich nackt vor unter ihrem lockeren Kleidchen und spürt sehnsüchtiges Verlangen, ihren kleinen weißen Kleinmädchenkörper an sich zu schmiegen. Abends im Bett stellt er sich vor, mit ihr eng umschlungen zu liegen und mit ihr zu kosen, und hat dabei ein Gefühl der Lust ähnlich wie früher auf Bettys Schoß. Denn er ist groß geworden und hat erkannt, dass es außer Betty noch andere Frauen auf der Welt gibt, und dass ihr Liebreiz dieselbe süß-selige Lust verspricht wie die, die der Mutterschoß für ihn hatte. Und wenn er es sich in der Phantasie so vorstellt, empfindet er etwas davon. Das ist auch bei Rousseau so: Mein erhitztes Blut – liest er da später – füllte unaufhörlich mein Hirn mit Mädchen und Frauen, aber da ich keine Ahnung hatte, was man wirklich mit ihnen macht, beschäftigte ich sie in der Einbildung seltsamerweise nach meinen Phantasien, ohne zu wissen, was ich weiter mit ihnen anfangen sollte; und diese Gedanken hielten meine Sinne in einer sehr lästigen Tätigkeit.

Immer denkt er beim Einschlafen an irgendeine Frau seiner Phantasie, so, wie wenn er anders gar nicht einschlafen könnte. Oft knüllt er seine Bettdecke zu einer längeren Form zusammen, einer Deckenwurst mit einer zusammengeknüllten Verdickung an einem Ende, und stellt sich vor, das wäre das Mädchen und ihr Kopf, und nimmt sie zwischen die Beine und schmiegt seinen Kopf zärtlich an den ihren. Ohne diese Vorstellung schläft er kaum ein, es ist wie ein Schlafmittel, eine Droge, nach der er süchtig wird. Er ist sich nicht bewusst, wie diese Phantasien das Lustzentrum seines Gehirns berühren und dort innere Endorphine und endogene Opiate freisetzen. So wird er allein durch die Wirkungen der Phantasie süchtig nach Frauenliebe. Liebessüchtig.

Etwas hindert ihn aber daran, Gerti sein Verlangen offen zu sagen und die Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Er weiß, er würde eine Abfuhr bekommen. Sie würde ihn nur befremdet anschauen oder auslachen. Eine Art moralisches Verbot liegt in der Luft. Er spürt, dergleichen geht nicht auf Erden. Es herrscht ein unausgesprochenes Tabu. Kleine Jungs und Mädchen gehen nicht miteinander ins Bett. Er kann die Liebe, die Betty ihm gibt, nicht auch von fremden Frauen erwarten. Die Liebe unterliegt strenger Reglementierung. Die Welt wird nicht von der freien Liebe regiert, sondern von kalten äußeren Gesetzen, denen man sich fügen und unterwerfen muss.

Das ist seine erste Erfahrung mit der Liebe in der Außenwelt, und er spürt es wie einen riesigen Schatten zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Subjekt und Objekt, Wollen und Können, einen Riss, einen Stich, einen Stachel, wie ein unvermeidliches Verhängnis. Die Vorstellung einer freien, ungehemmten, nicht restriktiven Liebe in ihm zerbricht. Ist an unserer Seelenarbeit, fragt Freud, eine Hauptabsicht zu erkennen? In erster Annäherung laute die Antwort, diese Absicht gilt der Lustgewinnung. Unsere gesamte Seelentätigkeit scheint darauf gerichtet, Lust zu erwerben und Unlust zu vermeiden, was automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird. Dem widerstreite aber das so genannte Realitätsprinzip, sobald das Ich es als unvermeidlich erfährt, auf unmittelbare Befriedigung zu verzichten, den Lustgewinn aufzuschieben, Unlust zu ertragen und bestimmte Lustquellen überhaupt aufzugeben. Das so erzogene Ich ist ,verständig' geworden, es lässt sich nicht mehr vom Lustprinzip beherrschen, sondern folgt hinfort dem Realitätsprinzip, das im Grunde auch Lust erzielen will, aber durch die Rücksicht auf die Realität gesicherte, wenn auch aufgeschobene und verringerte Lust.

So leidet schon der junge Harry daran, dass er bestimmte Lustquellen nicht ausschöpfen kann, darf. Was ihm um so schwerer fällt, je größer die Lust ist, die er am Weibe doch hat: Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andere mit ihren sämtlichen Gliedmaßen zeit ihres Lebens. Das ist schon bei seinem Umgang mit kleinen Mädchen so.

Er sieht die anderen Jungs seines Alters und fragt sich, ob es ihnen ebenso geht? Entweder sie sind braver, fügsamer als er, oder sie empfinden gar nicht dieselbe zärtliche Glut, diese sehrende Sehnsucht. Fast verachtet er sie deswegen und fühlt sich ihnen so überlegen wie einer, der musikalisch ist, gegenüber einem, der kein Gehör dafür hat. Schon mit vier, fünf fühlt er einen so leidenschaftlichen Liebesdrang, wie sie es vielleicht niemals würden. Das gibt ihm das Gefühl der Überlegenheit über sie, wie wenn er geistig anders organisiert sei und mehr Tiefe habe als andere Menschen: eine Tiefe, die aus der Sinnlichkeit kommt. Er fühlt es nur, er kann es sich nicht erklären und wird sich bloß einer gewissen Überheblichkeit bewusst: als wäre sein mächtiges Liebesverlangen eine Fähigkeit des Geistes und der Seele, die dasselbe Anrecht auf Andacht und Bewunderung habe wie das Genie in jeder anderen Fähigkeit des Menschlichen auch.

Als er wieder einmal im Hühnerwinkel eingesperrt werden soll und Samson nicht gleich den Schüssel dazu findet, landet er stattdessen im Holzschuppen des Nachbarn, der an ihren Garten grenzt. Es ist ja sowieso, statt so recht ernst gemeint, eher ein abenteuerliches Einsperrspiel, und der Nachbar macht gutmütig mit. Diesmal können sie aber nicht ahnen, ob, und wenn ja, welchen Gefallen sie damit dem kleinen Harry tun. Tatsächlich ist es diesmal noch ein abenteuerlicheres Erlebnis als sonst. In einer Ecke nämlich des vernachlässigten Schuppens, hinter einem Haufen aufgestapelter Holzscheite, entdeckt er ein oder zwei Ausgaben des illustrierten vierteljährlichen Journals eines so genannten privaten Vereins für Freikörperkultur, die dort sei's absichtlich entsorgt, sei's versehentlich vergessen worden sind. Ob er nun bereits lesen kann oder nicht, – schauen kann er auf jeden Fall. Und da staunt er nicht schlecht: Das Journal enthält viele gezeichnete Illustrationen von lauter sich nackt am Strand tummelnden Menschen, die teils in Gruppen versammelt sind, sich sportlichen Aktivitäten widmen oder teils einzeln in allen möglichen Stellungen im Sand liegen.

Zuerst ist Harry nicht wenig schockiert, da er die Leute aus seiner Umgebung bisher immer nur anständig angezogen und in hochgeschlossener Kleidung daherkommen sieht. Auch im Sommerbad am Düsselstrand noch haben sie immer zumindest mehr oder minder dezente Badebekleidung an. Auf diesen Bildern hier aber erscheinen sie so nackt wie Adam und Eva im Paradies aus den alttestamentarischen Abbildungen. Genau genommen, erscheinen sie eigentlich sogar noch viel nackter, da Adam und Eva zumindest immer ein Feigenblatt vors Geschlecht geklebt haben, das hier aber vollständig fehlt. Der Nachbar und seine Frau oder sonst wer aus der näheren Umgebung hat offenbar dies als Liebhaberei. Im 18 Jahrhundert ja schon, steht da zu lesen, propagierte und praktizierte der schottische Literat Lord Monboddo das Nacktbaden als Wiedererwachen der altgriechischen Nacktkultur. Literarische Erwähnung fand es in Georg Christoph Lichtenbergs Das Luftbad: „Ja wer weiß, ob nicht ... der tiefe Ausschnitt am Busen, und der hohe Abschnitt am Unterrock sich endlich einander auf halbem Wege begegnen und zum bloßen Feigenblatt unserer ersten Eltern zusammenschmelzen werden. So führt auch diese Theorie, so wie die neueste Politik auf eine baldige Wiederkehr vom paradiesischen Stand der Unschuld und Gleichheit.“

Ob der kleine Harry nun aber schon lesen kann oder nicht, der bloße Anblick der nackten Leiber und Busen bleibt jedenfalls indiskutabel. Zum erstenmal sieht er Menschen, die es sei's nicht für notwendig halten, am Badestrand ihre Scham zu bedecken, sei's sogar noch besonderen Gefallen daran finden, es nicht zu tun, und noch dazu dabei ganz unbefangen wirken, so als wäre es das Natürlichste von der Welt. Nicht dass der – sichtlich begabte – Illustrator es auf besondere geschlechtliche Anzüglichkeiten abgesehen hätte – er stellt alles als ganz naturgetreu unverfänglich hin –, doch sind bestimmte Wirkungen eben gar nicht zu umgehen. Das heißt, im Großen und Ganzen sind die Personen, lauter stattliche und angenehm anzusehende Körper, athletisch die Männer, mit weiblicher Sanduhrform die Frauen, doch etwas schöner und ansehnlicher ausgefallen, als sie es – Betty und die schöne Sara ausgenommen – in Wirklichkeit vielleicht sind. Denn die eine oder andere der Frauen, und nicht nur die Frauen, wirken dabei augesprochen schön und attraktiv, so attraktiv und verführerisch, dass Harry es als ein warmes Kribbeln im Blut spürt. Sagen wir es so: Nicht dass der Illustrator es eigens darauf abgesehen hätte, die Frauen mit einem besonderen Sex appeal auszustatten und dadurch die Sinne des Betrachters zu reizen, – er hatte aber, wo ihm einmal ein Detail besonders gut gelungen, offenbar auch nichts dagegen, es so stehen zu lassen. Immer mündet die weibliche Sanduhrform in ein buschiges Delta zwischen den Beinen, und stets sind sie in ihrem Schritt von dichtem Schamhaar bewachsen.

Von den Männern kennt er das schon, da wuchert das Haar in der Gegend als dichter Busch, und darunter hängen in unterschiedlicher Länge und Breite ihre Geschlechtsteile herab. Ganz anders dagegen bei den Damen. Da hängt gar nichts herab, da ist im Schritt eigentlich nur der dichte Busch, vom Zeichner immer in Form eines vollen schwarzen auf der Spitze stehenden Dreiecks illustriert. Und dabei bleibt es auch, von einem eigentlichen Geschlechtsteil kann da keine Rede sein. Dabei weiß Harry aber schon, die Frau hat eine Scheide, in die das männliche Teil eindringen kann. Also befindet sich dieser Eingang vermutlich irgendwo unter dem dichten Haar, vermutlich an symmetrischer Stelle, wo auch das männliche Teil entspringt. So stellt er sich die Öffnung etwa in der Mitte des schwarzen Dreiecks auf der Höhe des unterm Haarbusch verborgenen Schamhügels vor. Der Mann muss erst suchen und das Haar beiseite schieben, wenn er da eindringen will. Erst viel später erfährt er, dass die Scheide gar nicht so weit oben auf dem Hügel ist, sondern stattdessen ganz unten am Fuße des Hügels zwischen den Beinen, wie weit hin man auf den Bildern überhaupt nicht sehen kann. Jedenfalls ist der Zeichner nicht so weit gegangen, auch das noch sichtbar zu machen. Oben auf dem Hügel selber ist praktisch gar nichts, nur das Haar. Komisch, dass das Haar da wächst, wo es eigentlich gar nichts zu verstecken gibt.

Das ist seine erste Begegnung mit dem unverstellten weiblichen Geschlecht. Irgendwie hat er das Gefühl des Abenteuerlichen und Verruchten, so dass er seinen Nachbarn und seine Frau, die solche Ungeheuerlichkeiten im Schuppen haben, von da an mit einem gewissen Ressentiment betrachtet. Er fragt sich, ob er das Journal klauen und mit sich nehmen soll, damit er ab und zu einen Blick hinein werfen kann, weiß aber nicht, wo er es zu Hause so verstecken könnte, dass Betty es nicht findet. Also entschließt er sich, es in der Hütte zu lassen. Er kann sich hier ja vielleicht noch öfter einsperren lassen oder sie manchmal auch, wenn keiner es sieht, freiwillig aufsuchen. Er vergisst aber nicht, die Hefte noch gründlicher hinterm Holz zu verstecken, so, dass nur er sie noch finden kann.

Harry hardcore I - Der junge Heine

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