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5. Die Sehnsucht nach Stimmigkeit

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Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben stellt sich aber mehr und mehr, als Antwort auf dieses Geschehen, ein allgemeines Unbehagen in Bezug auf die Befindlichkeit unseres gesellschaftlichen Lebens ein. Dieses Unbehagen nimmt Anstoß an dem Willen, das menschliche Zusammenleben auf allen Gebieten primär unter Nützlichkeitskriterien zu gestalten. Geschieht dies gleichwohl, verliert das Leben seine geistige Sicherheit und wird unter der Hand zu einer beliebig verfügbaren Angelegenheit, indem der Mensch als Mittel zum Zweck definiert wird. Konnte Aristoteles und die spätere christliche Tradition die menschliche Gemeinschaft noch unter dem Gedanken der Freundschaft erschließen, so wird heute der Mensch in seiner Gemeinschaft als Funktionsträger von Pflichten, Leistungen und Rechten gesehen. Auch wenn dieses Denken immer mehr zur Norm wird, so ist ein Leben unter diesen Bedingungen jedoch nicht normal. Denn das Normale zeichnet sich hier dadurch aus, dass Menschen zwar immer je ihre verschiedenen Rollen spielen und je in verschiedenen Bereichen tätig sind, dass darüber hinaus aber immer die Würde und Achtung des Menschen um seiner selbst willen ehrerbietend zu wahren ist. Normal ist es daher, den Menschen nicht zuerst unter Brauchbarkeitskriterien zu betrachten, sondern ihn als Person zu sehen und ihn entsprechend respektvoll gegenüberzutreten. Der normale Lebensvollzug des Menschen zeichnet sich somit primär nicht über sein funktionstüchtiges Dasein aus, sondern über seine alltägliche Gegenwart als zweckfreie Anerkenntnis. Erst dann finden auch Brauchbarkeitskriterien im gegenseitigen Umgang miteinander ihre Berechtigung. Normal ist es also, den Menschen unabhängig von seinen Rollen und Tätigkeiten in der Gesellschaft als Person zu achten. Diese Erkenntnis ist eine der großen Errungenschaften der christlichen Kultur, darüber hinaus haben alle großen Lehrer der Menschheit dies gelehrt.

Dieses Selbstverständnis des gemeinschaftlichen Miteinanders schließt aber reine Nützlichkeitserwägungen in Bezug auf das gemeinsame Handeln und Arbeiten aus. Denn es sind immer Menschen, die nur in verschiedenen Rollen die Gesellschaft, die Politik und die Ökonomie gestalten. Das aber ist bis heute so und wird auch so bleiben. Nimmt aber das Nützlichkeitsdenken überhand, entwickelt sich über kurz oder lang das menschliche Gefühl, dass etwas in unserer Gesellschaft nicht stimmt, dass wir Menschen also miteinander nicht mehr stimmig leben. Freilich bleibt dieses Unbehagen meist gedanklich unreflektiert und äußert sich meist nur in der Suche nach einem sogenannten ganzheitlichen Leben. Dieses darin aufscheinende Unbehagen lässt sich aber doch sehr genau mit Gründen benennen. Denn es ist unsere nützlichkeitsorientierte Gesellschaft, die in ihrem Hang und Drang zur Schnelligkeit, zur ständig geforderten Veränderung, zur höheren Flexibilität und Mobilität, zur Globalisierung, zur permanenten Wissensanreicherung den Menschen vor sich hertreibt. Sprachlich wird dieses Geschehen wohlverpackt und verheißungsvoll klingend mit den Slogan: „life is change“ umschrieben. Menschen aber sind langsam und auf Geborgenheit und Stetigkeit aus. So gesehen, sind die postmodernen Menschen unstet und flüchtig und vor allem in ihrem „Herzen“ ruhelos geworden. Von diesem Getriebensein der Menschen ist auch jedes Unternehmen betroffen. Konnte früher ein Unternehmen, allgemein gesprochen, noch den darin arbeitenden und handelnden Personen so etwas wie Heimat bieten, so geht dieses Empfinden unter den Gegebenheiten der weltwirtschaftlichen Verflechtungen langsam verloren und anstelle der „betrieblichen Geborgenheit“ treten die Angst um den Arbeitsplatz, Hektik und Stress. Auch wenn dieses immer mehr zur Norm der heutigen Arbeitswelt gehört, so ist es doch nicht normal. Denn normal ist es eben, dass der Mensch im Grunde gerne arbeitet. Daher rührt das Unbehagen, das in unserer gesellschaftlichen Verfasstheit immer wieder anzutreffen ist.

Die nachfolgenden Überlegungen wollen nun einen Denkweg aufzeigen, welcher der Wiederherstellung von Normalität im Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen das Wort redet. Hierbei handelt es sich nicht um methodische Gebrauchsanweisungen, nach denen dann das Leben und die Arbeit wiederum funktional für die Zukunft „fit“ gemacht werden sollen. Es handelt sich vielmehr um eine Einführung in einen Denkweg, der in das notwendig Normale menschlichen Lebens einweist: Der Stimmigkeit des Lebens durch Vertrauen und Glauben. Denn ohne Vertrauen und Glauben lässt sich kein Leben führen, es sei denn, es verliert sich in Vordergründigkeit und Banalität. Vertrauen und Glauben sind die Grundpfeiler des gesamten Zusammenlebens. Jede Gemeinschaft und Gesellschaft, jeder Staat lebt von dieser Haltung des Vertrauens und des Glaubens. Dementsprechend kann auch kein Unternehmen ohne diese Haltung sinnvoll geführt werden. Unsere Überlegungen sind darum als eine Beratung zu verstehen, die erschließen will, wie Vertrauen und Glauben in ethischer Perspektive wiedergewonnen und vernünftig gepflegt werden können. Das aber kommt jedem Unternehmen zugute. Denn man muss sich klar vor Augen führen, dass kein Vorstand, kein Manager glaubhaft agieren kann, wenn er in seiner Person nicht glaubhaft für ein sinnvolles Lebensziel eintritt. Und sinnvoll ist ein Lebensziel dann, wenn es sich nicht nur über das ökonomische Leben erschließt, sondern sich darüber hinaus in der Stimmigkeit des Lebens gründet. Wird nämlich das eigene Leben und Handeln nur in der ökonomischen Perspektive bedacht, kommt es schnell zum sogenannten „Fraglichkeits-Syndrom“, also zu der Frage: „Was soll das eigentlich alles?“ Dieses Syndrom rührt an die Stimmigkeit menschlichen Lebens und Handelns. Kommt es hierbei nicht zu einer verbindenden Sinnorientierung, droht das Leben oder das Handeln sich in vordergründigen Plausibilitätsrechnungen und angewandten Ethiken zu verlieren, die aber nicht in der Lage sind, unserem menschlichen Stimmigkeitsbedürfnis und unserer Vergänglichkeit gerecht zu werden. Plausibilitätsrechnungen sind hier darum immer mit einem schalen Geschmack der aufkeimenden Sinnlosigkeit verbunden, eben ersichtlich an der einsam gestellten Frage: „Was soll das eigentlich alles?“ Darum ist dieses Fraglichkeits-Syndrom nicht hilfreich und lebensbefördernd. Diesem kann nur über die Klärung der Stimmigkeit des Lebens entgegengewirkt werden, also durch die Haltung von Glauben und Vertrauen. Und Glaube und Vertrauen manifestieren sich darin, dass jeder, der Verantwortung trägt, also auch jeder Manager, jede Führungskraft, jeder Vorstand stets als Person greifbar ist, die dadurch den anderen überlegen ist, dass sie ihnen - dient. In den Worten des Unternehmerberaters Roland Berger ausgedrückt: „Sich auf Vergängliches zu verlassen, widerspricht der Erfahrung des Lebens - und der Intelligenz“ (Chrismon, Fragen an das Leben, 47).

Grundsätzlich ist unser Denkweg von einem personalethischen Ansatz gekennzeichnet. Denn es sind immer und ausschließlich Personen, die eine Gesellschaft oder die Wirtschaft gestalten. Und es ist eine, wenn auch gern zu Hilfe genommene Täuschung, wenn behauptet wird, dass in allen menschlichen Handlungsfeldern sachbedingte Gegebenheiten die alles bestimmenden Triebfedern sind. Dem ist nicht so. So etwa ist die gesamte Finanzpolitik immer eine Größe, die ausschließlich von Vertrauen und Glauben lebt. Geld ist eine Vertrauensangelegenheit. Und was für das Geld gilt, gilt in ungleich größerem Maße für das Zusammenleben der Menschen. Denn Leben ist immer verabredetes und versprochenes Leben. Das aber birgt Risiken in sich, weil wir Menschen eben nicht nur gut, sondern auch gefährlich sind. Denn wir brechen doch Verabredungen und Versprechen, vor allem dann, wenn sich hierbei für uns besondere, vordergründige Nützlichkeiten einstellen. Hier tut also Nüchternheit Not, und nicht nur jede Führungskraft sollte sich in diese Nüchternheit einfinden. Dies gelingt am besten durch das Denken und Bedenken der Personenethik: Zum einem deswegen, weil die Personenethik die Würde und die daraus resultierende Verantwortung des Menschen thematisiert, zum anderen aber deswegen, weil es Personen immer, im Unterschied zum Individuum, nur im Plural der gegenseitigen Gemeinschaft gibt, Personen also pluralitätsfreundlich sind. Und da jede Institution, jede Organisation, jedes Unternehmen immer auch eine Personengemeinschaft ist, lassen sich diese in Fragen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens mit Hilfe des personalethischen Denkweges sinnvoll anleiten und führen. Das würde die so notwendige Glaubwürdigkeit von öffentlich agierenden Mandatsträgern in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft stärken. Und unserer gegenwärtig erlebbaren Gesellschaft würde ein personalethisches Denken ein höheres Maß an Gemeinwohl eröffnen und all die vielen Bereichsethiken wieder zu einem ethischen Entwurf zusammenführen, der sich je ins persönliche Leben der Menschen rückbinden lässt.

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