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1. Höhlendasein
ОглавлениеJede Zeit und jede Gesellschaft hat zu ihrer eigenen Absicherungen und eigenen Bestandsgarantie Bekenntnisse der Vergewisserung hervorgebracht. Diese Bekenntnisse sind deswegen vonnöten, weil keine Gesellschaft von sich aus in der Lage ist, eine tragfähige Ordnung des Zusammenlebens allein durch die Organisation von funktionalen Vorkehrungen einzurichten. Jede Gesellschaft und jeder Staat braucht darüber hinaus Formen des gemeinsamen Erkennens und des daraus resultierenden Bekennens, in denen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens aufscheinen und die Gemeinsamkeit befördern. Leben ist darum immer allem voran zuerst Deutung von dem, was uns widerfährt.
Platon hat zur Situationsbeschreibung menschlichen Erkennens darum in seinem Werk „Der Staat“ das sogenannte Höhlengleichnis eingeführt: Die Menschen sitzen in einer fensterlosen Höhle angekettet einer Wand gegenüber. Auf der Wand sehen die Menschen ein Schattenspiel, eine Art Höhlentheater. Im Rücken der angeketteten Menschen befindet sich eine Lichtquelle, vor der Figuren hin- und herbewegt werden, und nur deren Schattenspiel sehen die Menschen auf der Wand erscheinen. Durch ihr Gefangensein können die Menschen weder sich selbst noch einander sehen, allein das Schattenspiel ist für die Menschen deshalb die einzige Wirklichkeit. Darum entwerfen sie in aller gebundener Anstrengung Vermutungen über den Fortgang des erscheinenden Dramas, stellen Theorien und Prognosen auf. Zwar vernimmt man hin und wieder das Gerücht in der Höhle, das Spiel auf der Wand sei nur ein Schatten der eigentlichen Wahrheit, denn es gebe eine wahre Welt außerhalb der Höhle und man könne sogar zu dieser wahren Welt gelangen. Auch sei es Einzelnen gelungen, zu dieser wahren Welt vorzudringen, aber deren Augen seien durch das Sonnenlicht so stark geblendet worden, dass sie nichts sahen, außer wenn sie mit großer Geduld die Anpassung ihrer Augen an das Sonnenlicht abwarteten. Dieser Anstrengung aber wollte sich die Mehrzahl der Höhlenbewohner nicht unterziehen und so sträubten sie sich mit Beharrlichkeit gegen die Befreiung aus dem Schattenreich, denn das gemeinsame Erkennen der Wahrheit sei zu mühsam (vgl. Platon, der Staat, 7. Buch, 514ff; 532ff; 539e).
Dieses Gleichnis ist für unsere heutige Zeit deswegen so aufschlussreich, weil es unsere müde gewordene Moderne gut zur Sprache bringt. Die Sonne ist für Platon nämlich das Bild des substantiellen Guten und Schönen, des höchsten Gutes, das alles strebende Denken und Erkennen, und darum auch Bekennen, in der Welt handlungsleitend befördert. Platon nennt dieses höchste Gut auch „Schöngutheit“. Dieses höchste Gut hat die christliche Tradition später mit Gott gleichgesetzt, der zwar in der Wirklichkeit erscheint, aber niemals in der Wirklichkeit aufgeht. Gott ist immer mehr als die erscheinende Wirklichkeit. Unsere Zeit aber legt ihr ganzes Augenmerk allein auf die Wirklichkeit, bleibt also - im Bilde gesprochen - in der Höhle gefangen und arbeitet sich seither an dieser Wirklichkeit ab. Das aber ist ermüdend, weil keine Lösung oder Befreiung in Sicht ist. Der gegenwärtig vernehmbare Ruf nach Werten spiegelt dieses Dilemma wider. Denn mit dem öffentlichen Ruf nach den Werten werden doch genau diejenigen geistigen Quellen bemüht, die nicht unserer wissenschaftsorientierten, ökonomischen, soziologischen und nützlichkeitsorientierten Welt entspringen. Und für die Sicherung dieser geistigen Quellen ist seit jeher die Religion zuständig gewesen, allen Unkenrufen zum Trotz.
Dieser Ruf nach Werten offenbart zugleich die Schattenspiele der Wirklichkeit, ohne dass freilich bisher in den säkularen Angeboten der Befreiung aus den Schattenspielen die Wahrheit selbst zum Thema erhoben worden wäre. Vielmehr hat man hierzu bislang „Schattengötter“ bemüht, die zunächst verheißend die Befreiung zur Wahrheit verkündeten: Die Rede ist vom Fortschrittsglauben und dem Glauben an den konturenlos gewordenen Pluralismus. Deren Glaubwürdigkeit wird aber zunehmend durch die Erfahrung des Alltagslebens mehr und mehr in Frage gestellt. Als Befreiungsweg dient nun der Ruf nach Werten, mit dem man sich die Befreiung aus dem Höhlendasein erhofft.